Ravensburger nimmt aufgrund eines Shitstorms Kinderbücher aus dem Programm - und entschuldigt sich

  • https://www.tagesschau.de/kult…her-ravensburger-101.html


    Es ist interessant, die Social-Media-Kanäle des Ravensburger Verlags jetzt aufzusuchen, denn inzwischen sind sie gut gefüllt mit Ankündigungen von Leuten, die dort erklären, nie wieder etwas aus dem Sortiment des Traditionshauses kaufen zu wollen. Nicht alle schaffen es, das in sicherem Deutsch zu formulieren, was ein Hinweis darauf sein kann, dass sie nicht genügend Kinderbücher gelesen haben, als sie selbst klein waren, aber das tut möglicherweise nichts zur Sache.


    Natürlich ist noch viel interessanter, was es bedeutet, was da geschieht. Ganz unabhängig also von der Frage, ob die fraglichen Titel tatsächlich "verharmlosende Klischees transportieren" oder der indigenen Bevölkerung Nordamerikas in Dramaturgie, Sache oder Duktus gerecht oder eben nicht gerecht werden - was in der Kulturbranche geschieht, und nicht erst jetzt, wenn es durch so plakative Vorgänge die Runde macht, ist nach meinem Dafürhalten eine enorme, essentielle und existentielle Bedrohung für die Freiheit des Wortes, der Rede und der Kunst. Aber noch viel erschütternder als die Vorwegprüfung oder das Einstampfen ist die Tatsache, dass die Produzierenden, dass die Vervielfältigungsverantwortlichen und -innen so unisono kuschen - und sich nicht vor ihre Künstler und -innen stellen, sondern hinter die Scheißestürmer und -innen. Das ist sehr, sehr irritierend. Die Redaktionen, Programmleitungen, Agenturen, Bookingmenschen, Manager und -innen - sie alle halten sich zurück, raten ihren Schützlingen und -innen, sich zurückzuziehen, dem Druck nachzugeben, sich sogar zu entschuldigen - bei anonymen Mausklickprotestanten. Und -innen.


    Es ist richtig und wichtig, es ist selbstverständliches und elementares Recht, zu kritisieren, andere Meinungen zu formulieren, etwas für falsch zu halten. Aber eine andere Meinung zu haben ist nicht dasselbe wie zu fordern, dass es eine hiervon abweichende Meinung in Wort, Bild, Ton und visueller Darstellung nicht geben darf, dass sie verschwinden muss. Wenn sich ganze Branchen aber diesem Paradigma beugen, ist das der Tod von Diskurs, Pluralismus, Kunstfreiheit und Meinungsdiversität. Und es macht alle Kunst zu einem permanenten Eiertanz.


    Oder wie seht Ihr das?

  • Shitstorm ist meistens daneben. Ganz besonders wenn es sich um kulturelle Dinge handelt, um Sachen die man nicht sagen oder denken darf oder so ähnlich. Vor einiger Zeit habe ich mal eine solche Kulturpädagogin im Radioninterview gehört, die forderte, dass Michael Endes "Jim Knopf und die Wilder 13" aus den Kindergärten und Grundschulbibliotheken entfernt werden müssten. Auf die Frage warum hieß es: Jim Knopf sei so wie sich ein weißer alter Mann ein Kind mit dunkler Hautfarbe vorstelle. Etwas dämlicheres habe ich noch nie gehört. Genau so könnte man die anderen Figuren durchgehen und zum Beispiel sagen, dass jener bemühte weiße alte Mann (Michael Ende war zum Zeitpunkt, als er die Geschichte schrieb, noch sehr jung!) auch nicht gewusst hat, wie ein König, eine Kolonialwarenhändlerin, ein Fotograf, ein Lokomotivführer, einen Kaiser von China und und und … vorstellen soll. Dass es gerade bei dieser Geschichte von Michael Ende um Völkerverständnis geht und auch darum, dass Gewalt nicht immer mit aller Brutalität beantwortet werden muss, dass Randexistenzen nicht ausgegrenzt werden dürfen und das was man sieht nicht immer das ist, nach was es scheint , das klammern solche "Kulturpädagoginnen" völlig aus. Aber man kann sich prima damit wichtig machen.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Kuhlen, Kohlen und Geklimper

    ASIN/ISBN: 3947848994


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hat da etwa jemand beim Sensitivity Reading geschlampt?


    Katastrophe. Würde auch sagen: lass sie kritisieren usw., aber Bücher einstampfen wegen Gefühlen Dritter ist völliger Wahn- oder Schwachsinn. Ich mag noch ergänzen: auch wenn es sich um Gefühle von Angehörigen einer Minderheit handelt.


    Ist leider eine länger andauernde Entwicklung. Erinnere mich an ein Sendung (Literarisches Quartett oder dessen Schweizer Variante) in der ein Buch von Houellebecq besprochen wurde. Die Begründung der Moderatorin, warum Sie das Buch nicht empfehlen kann, erschöpfte sich darin, dass der Protagonist moralisch fehlbar sei, frauenfeindlich/chauvinistisch nämlich, was das denn solle.

    Da ist also schon ganz viel und schon länger im Argen, aber ich könnte nen Essay darüber schreiben, wie die Moral seit einiger Zeit eine große Renaissance feiert und welche Funktion das hat und wer davon profitiert (zum Bsp. jene mit viel Bildungs- aber wenig Finanzkapital (lies: Geisteswissenschaftler ^^) , die nutzen Moral zur Distinktion und Abgrenzung gegenüber weniger gebildeten, aber nicht länger finanziell schlechter gestellten Schichten), also erstmal nur so viel.

  • Dass es gerade bei dieser Geschichte von Michael Ende um Völkerverständnis geht und auch darum, dass Gewalt nicht immer mit aller Brutalität beantwortet werden muss, dass Randexistenzen nicht ausgegrenzt werden dürfen und das was man sieht nicht immer das ist, nach was es scheint , das klammern solche "Kulturpädagoginnen" völlig aus

    Mmh. Als Fakt ist das interessant, aber als Argument missfällt es mir, weil es einfach nur eine andere Kategorie des pädagogisch-ideologisch-kulturellen Filters anwendet: Es mag den oberflächlichen Betrachter*_:_*innen so vorkommen, als gäbe es u.a. rassistische Klischees, aber weil es u.a. das zugleich nutzt, um für Achtsamkeit und Diversität zu werben, ist es dann doch okay. Mit Verlaub, aber: Drauf geschissen. Wenn es Leute gibt, die etwas für *istisch halten, dann gibt es keinen pädagogischen Auftrag an diese Leute, die Welt von jenem Gegenstand zu befreien oder mit Gewalt dafür zu sorgen, dass das geschieht (und Scheißestürme sind Gewalt). Nie. Alle Menschen haben das Recht, sich die Kultur anzutun, die ihnen passt, aber niemand hat das Recht, anderen die passende Kultur zensierend vorzuschreiben. Genau das aber geschieht seit inzwischen fast einem Jahrzehnt in großem Umfang.


    Und noch einmal. Da ist eine Verlagsleitung, die sich hinstellt und einen Fehler einräumt, weil Ravensburger auf keinen Fall der Verlag mit dem rassistischen Programm sein will, und genau das ist das Etikett, das am Ende droht, wenn man nicht klein beigibt. Was im Übrigen pausenlos geschieht. Sogar Wörterbuchverlage (!) sehen sich unaufhörlich solchen Forderungen ausgesetzt. Und meistens - ich kenne einige Fälle - wird rasch und den eigenen Künstlern und Künstlerinnen gegenüber gnadenlos reagiert, bevor das Scheißelüftchen zum Sturm anschwillt.


    Am Rande. Schon als ich die Ankündigung für den dazugehörigen Film zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich: Ui, da wird sich die socialmediaaktive Generation Wuss aber freuen. Ich habe wenig später ein Interview mit dem Regisseur gehört, der darin erklärt hat, wie sich das Team schon vorsorglich mit allen möglichen Implikationen befasst hatte, während man einen natürlich vollständig fiktiven Stoff adaptierte, aber in diesem Interview schwang auch einiges an Naivität mit (Mike Marzuk hat bislang vor allem "Fünf Freunde"-Filme gedreht). Ich habe mir mit meinem Sohn dann den Trailer angeschaut. Mein Sohn war schon nach Sekunden gelangweilt, und ich fand, dass das Ding etwas, äh, unzeitgemäß daherkommt, und ich war nie ein Fan von Karl May, was wohl die Zielgruppe ist. Also haben wir auf den Konsum des Werks verzichtet. Das ist die adäquate Reaktion, wenn einem etwas nicht gefällt, aus ästhetischen, pädagogischen, politischen, egoistischen oder hinterfotzigen Gründen - man ignoriert es. Aber man sorgt nicht dafür, dass es vom Angesicht der Erde verschwindet. Die kann das nämlich ab. Und selbst von der größten Scheiße kann man noch was lernen.

  • Mmh. Als Fakt ist das interessant, aber als Argument missfällt es mir, weil es einfach nur eine andere Kategorie des pädagogisch-ideologisch-kulturellen Filters anwendet: …

    Ich verstehe deinen Einwand nicht wirklich, da ich aber im Großen und Ganzen mit dir übereinstimme in der Sache, kommt es darauf auch wohl nicht an.

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  • Es ging mir darum, dass man solche Anschuldigungen nicht durch einen anderen positiven Aspekt entkräften muss oder können sollte, aber so klang es in Deinem Beispiel.

    Du hast im Grunde Recht, man muss ein dummes Argument nicht dadurch kritisieren, dass man es in die Länge zieht, wie ich es getan habe. Aber manchmal tut es einfach gut, dass zu machen. Die positive Ausdeutung im Anschluss wäre damit dann auch überflüssig, zumindest an dieser Stelle. An anderer hätte sie vermutlich besser gepasst. ich gebe es zu, ich habe mich aus Ärger hinreißen lassen, einmal aus Ärger über diesen Scheißsturm und dann noch aus größerem Ärger über den Verlag, der meint, diesem Scheißsturm noch gehorchen zu müssen.

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  • Absurderweise haben sich nicht Indianer beschwert, sondern Weiße, die sich anmaßen, für die Indianer zu sprechen, weil sie ihnen anscheinend die Fähigkeit, sich in ihren ureigensten Angelegenheiten zu äußern, nicht zutrauen. :S


    Ich frage mich, was die vom Verlag nun mit all den Büchern machen. Vielleicht kann ja die Feuerwehr helfen... :/:evil

    "Im Internet weiss keiner, dass du eine Katze bist." =^.^=

  • Wenn ich der Autor wäre, würde ich dem Verlag mit sofortiger Wirkung alle Rechte entziehen, das Buch im Selfpublishing herausbringen und mir dank der multimedialen Präsenz eine goldene Nase verdienen, ohne einen Cent für Reklame ausgeben zu müssen. 8)

    "Im Internet weiss keiner, dass du eine Katze bist." =^.^=

  • Ich würde mich selbst eher als links einordnen, obwohl ich von dieser Einordnung nahezu nichts halte, weil man zu viel mitkaufen muss, das man möglicherweise nicht haben will. Diese Haltung beispielsweise, diesen Anspruch, im Besitz der alleinseligmachenden Weltenlösung zu sein und deshalb den Auftrag zu verspüren, dafür sorgen zu müssen, dass es keine anderen Götter neben mir und meinen geben darf. Das Ziel mag richtig sein, der Weg ist falsch. In eine achtsame, pluralistische, tolerante und "inklusive" Gesellschaft kommt man nicht über Zensur und ein Meinungsdiktat. Oder über die Vernichtung aller anderen Meinungen und letztlich auch derjenigen, die sie vertreten.


    Die Kolonialzeit und die Vorkolonialzeit und viele andere Epochen der Menschheitsgeschichte haben jede Menge Unheil angerichtet, und es ist richtig, das zu thematisieren, für einen Ausgleich einzutreten, und dabei ist egal, ob das die Betroffenen oder ihre Nachfahren machen oder Karl Gustav Müller aus Pupenhausen. Was nicht richtig ist, das ist das Überordnen sämtlicher Partikularinteressen über sämtlichen Universalinteressen, weil hier kein Ausgleich mehr möglich sein wird, weil das Gemeinschaft unmöglich macht, weil es polarisiert und fraktioniert. Was auch nicht richtig ist, das ist - in jeder Hinsicht und in jede Richtung - die Unterstellung von Kollektivschuld, von kollektivem Privilegiertsein und gemeinsamer Schicksalhaftigkeit. Aber das sind Nebenthemen. Auch das Gendern hat ein richtiges, wichtiges, gutes, unbedingt zu erreichendes Ziel, ist aber ein zumindest stark diskussionswürdiger und -bedürftiger Weg dorthin (obwohl viele nicht im Geringsten an Diskussionen oder Diskursen interessiert zu sein scheinen). Dass aber durchzusetzen versucht wird, dass dem nicht so ist, dass es nur den einen Weg gibt, und sowieso nur das eine Ziel, das lässt sich für mich ganz persönlich mit meiner Auffassung von Freiheit und Individualität und Pluralismus nicht vereinbaren.


    Ravensburger hätte diese Bücher nicht in Lizenz nehmen sollen, wenn sie denn dort tatsächlich der Auffassung sind, dass es thematisch und pädagogisch und überhaupt so nicht (mehr) geht. Aber sich diesem Richtungsdiktat zu unterwerfen und so zu agieren, wie das derzeit geschieht, das ist höchstgradig unglaubwürdig, peinlich und unterm Strich nichts weiter als eine Kapitulation vor dem anonymen digitalen Pöbel. Es ist aber vor allem den Machern der Werke gegenüber ein Verhalten, das vieles, das in der Kultur als Gewissheit gelten sollte, torpediert. Aber die Implikationen sind noch weitaus vielfältiger.

  • Ich denke mal, es geht hier nicht um den Shitstorm selbst, sondern um einen zurückrudernden Verlag plus Entschuldigung an die Shitstormer?


    Das kann ich leider verstehen. Es hat meines Erachtens klare wirtschaftliche Gründe und mit der Zielgruppe "Eltern, die Kinderbücher kaufen" zu tun. Ich würde die meisten jener Eltern schon in die linksliberale Fraktion einordnen, heißt, ein Shitstorm wirkt klar verkaufsmindernd und ein "Layla-Effekt" ist wahrscheinlich leider nicht zu erwarten. Wäre das Buch im Programm geblieben, hätte es vielleicht sogar längerfristige Einbußen gegeben, die bei Verlagen vermutlich schlecht eingepreist werden können, weil der Finanzpuffer nicht da ist. Alles nur Vermutungen, und ja, keine gute Entwicklung, überhaupt nicht gut für die künstlerische Freiheit. Was kann man dagegen machen? Ideen?


    Zum Layla-Effekt: Der Song Layla kann den Shitstorm des linksgrünversifften (angeblichen) Cancel-Kult's als Marketing nutzen, und hat ihn dafür wahrscheinlich auch gezielt provoziert, weil von den Ballermann-Becherern eine Jetzt-erst-recht-Reaktion zu erwarten und auch erfolgt ist. So ist der Song in Nullkommanix bekannt geworden und hat dem Ikke noch eine ordentliche Portion mehr Hüftgold eingebracht.

  • Ich vermute eher, dass die Zielgruppe "Eltern die Kinderbücher kaufen" nicht global für diesen Shitstorm eingesetzt werden kann. Es ist eher eine Gruppe, von denen ein Teil zu dieser "Eltern"-Gruppe gehören, zu einem Großenteil aber auch eben nicht. Dass der Verlag aus rein wirtschaftlichen Überlegungen diesen Schritt gemacht hat, kann ich verstehen. Ich denke aber nicht, dass es zu erheblichen Umsatzeinbußen geführt hätte, wäre dieser Schritt nicht erfolgt.

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  • Ich rate dazu, mal auf die Social-Media-Accounts von Ravensburger zu gehen. Das ist ja ein Traditionshaus, und Zielgruppe sind durchaus die bodenständigen Eltern, eigentlich aber alle - politisch ist der Laden bislang kaum geworden bzw. In Erscheinung getreten. Das hat sich jetzt geändert. Sogar einige Spielzeuglädenbetreiber und -innen denken darüber nach, das Sortiment auszulisten, wenigstens vorübergehend.


    Hätte man erklärt, dass man die Titel aus Angst vor wirtschaftlichen Folgen aus dem Programm nimmt, hätte das einen ganz anderen Effekt gehabt. Aber man hat erstens die eigene programmatische Urteilsfähigkeit demontiert und zweitens die Künstler und -innen verantwortlich gemacht, also in den Anus gepoppt. Das ist krass. Und keine Ausnahme mehr.

  • Die Frage ist, HD, auf welche Seite du diese Mehrheit der Eltern kriegst. Kaufen sie zum Trotz oder kaufen sie lieber nicht? Wie schätzt du das ein?


    Tom, ich glaube, ein Verlag kann nicht deutlich erklären, er würde aus Angst vor wirtschaftlichen Einbußen kneifen. Machen wahrscheinlich die wenigsten Firmen. Man wählt da lieber so nen Costumer-Sprech:

    „Wir danken Euch für Eure Kritik. Euer Feedback hat uns deutlich gezeigt, dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben. Das war nie unsere Absicht und das ist auch nicht mit unseren Ravensburger Werten zu vereinbaren. Wir entschuldigen uns dafür ausdrücklich.“Dass die Eltern eher linksliberal sind, habe ich mal nur getippt, ich denke aber, die aus Protest kaufende Gruppe wird zu gering sein um den Schaden auszugleichen oder das Ganze gar zu kippen, wie bei Layla und anderen Beispielen.

  • Es wird kaum eine "aus Protest kaufende Gruppe" geben, sondern eher eine, so meine ich, trotzdem unbeeindruckt weiter kaufende Gruppe. Auch die Zahl der auslistenden Geschäfte wird eher niedrig ausfallen. Laut darüber nachdenken ist das eine (auch medienwirksam), es dann aber stillschweigend nicht tun, das andere.


    Aber wenn die Masse schreit "Kreuzigt ihn", dann wird gekreuzigt, ganz unabhängig von der Richtigkeit dieser Aktion.

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  • Worauf man sich sicher einigen kann, ist, dass rassistische/sexistische Klischees etc. nicht in Kinderbücher gehören - zumindest nicht im Jahre 2022. Aber darauf müssen besonders Betroffene aufmerksam machen. Also erstens nicht unbetroffene Moralprediger und zweitens hilft da ein Shitstorm auch nicht weiter.

    Ich habe kein Problem mit Karl May, Disneys Pocahontas oder von mir aus Jim Knopf, wenn man es in einen historischen Kontext setzt. Ich finde es sogar wichtig, das Kindern zu zeigen und zu erklären, wie (schlecht) man früher mit anderen Menschen und Kulturen umgegangen ist.

    Abgesehen davon habe ich es aber auch schon immer für fraglich gehalten, dass Nicht-Betroffene über solche Themen schreiben und meinen, sie hätten eine Ahnung davon. Ich schreibe als heterosexuelle Frau kein Buch über homosexuelle oder transsexuelle Männer. Ich schreibe als Weiße nicht über die Interessen, Probleme und das Trauma indigener Kulturen. Egal, ob in Kinderbüchern oder nicht. Ich kann doch nicht über ein gesellschaftliches Thema schreiben, von dem ich nicht betroffen bin, oder? Vielleicht als Sozialwissenschaftler in einer datenbasierten Abhandlung, aber doch nicht in einem emotionsgeladenen Roman. Ich habe aber zugegeben den Shitstorm nicht mitbekommen und weiß nicht, ob das hier der Fall war.

    Shitstorms sind davon abgesehen meistens nicht mehr als eine Blase heißer Luft. JK Rolling wurde auch massiv kritisiert. Und? Ist Harry Potter in der Versenkung verschwunden? Nein. Kein HP-Fan hat deswegen seine Merchandise-Sammlung verbrannt. Die Leute, die sich da aufregen, hätten das Buch so oder so nicht gekauft.

  • Schreit die Masse heute nicht alle 14 Tage etwas anderes? Ich würde einen Dreck darauf geben, was irgendwelche Teilzeit-Berufsempörten im Internet schreiben, weil ich genau weiß, daß sie schon in der nächsten Woche eine neue Sau durch's virtuelle Dorf treiben werden.

    Aber vielleicht gibt es im deutschen Wesen doch eine tief sitzende Furcht vor dem Nichtgeliebtwerden, das unterbewußt alles Handeln treibt.


    Ich weiß jedenfalls, wieso ich in keinem dieser asozialen netzwerke Mitglied bin, weder privat noch mit meinem kleinen Verlag. Und ich habe diesen Schritt nie bereut. Mag sein, daß ich vielleicht ein paar Bücher weniger dadurch verkaufe. Aber das ist mir meine geistige Gesundheit alleweil wert.

    "Im Internet weiss keiner, dass du eine Katze bist." =^.^=

  • Nun, es ist tatsächlich ein bisschen mehr als nur eine Sau, die für ein paar Tage durch den Ort gejagt wird. Was die Verlage in diesem Zusammenhang besonders fürchten, das ist das Etikett, das kleben bleibt, und zwar durchaus nachhaltig, wenn auch nicht mehr mit dieser Breitenwirkung. Man will nicht der Spielzeughersteller/Kinderbuchverlag sein, dem mal nachgesagt wurde, beispielsweise rassistische Titel im Programm gehabt zu haben. Je früher der Shitstorm endet, weil man nachgegeben hat, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er ausufert, dass er sich potenziert, und das geht sehr, sehr schnell. Genauso schnell endet es sicher auch wieder, gleich wie die Reaktion ausgefallen ist, aber nach dem einen Ausgang steht man mit etwas weißerer <hüstel> Weste da als nach dem anderen. Es gibt nicht wenige Beispiele von Läden, die heute noch mit ihrem Ruf zu kämpfen haben, weil irgendwas mal die Runde gemacht hat, ohne dass irgendwer nachgeprüft hatte, ob das stimmte oder nicht. Der "Müller"-Milchkonzern, die Brauerei "Warsteiner", der Säftepresser "beckers bester" und einige andere Buden kämpfen heute noch mit dem Imageschaden, den Gerüchte wie die, man würde an die NPD spenden oder Scientology nahestehen, vor Jahren und Jahrzehnten generiert haben. "beckers bester" hatte existentiell zu kämpfen, zumal man seinerzeit versuchte, die spätlinken Vorstadtökos abzuholen, und ich erlebe es heute noch, dass Leute ein Glas Warsteiner auf den Tisch gestellt bekommen, das Etikett betrachten und die Stirn runzeln. War da nicht was? Ja, da war was. Es war unwahr, aber es war, und es blieb.


    Aus dieser Perspektive habe ich ein gewisses Verständnis. Zumal es tatsächlich Wirkung hat. Die Umsätze gehen runter, Leute wenden sich von den Produkten ab, schauen sich um, finden möglicherweise einen sogar besseren Mitbewerber. Aber wenn ich ein Unternehmen betreibe, das Kunst herstellt und die Arbeit von Künstlern verwertet, habe ich nicht nur Verantwortung meinen wirtschaftlichen Stakeholdern gegenüber, sondern auch gegenüber jenen Künstlern und gegenüber der Gesellschaft. Ich riskiere eines der Grundvertrauen in die Kulturbranche, wenn ich mich so verhalte.


    Die unsägliche Aufregungskultur mit ihrem Wettbewerb um den nächsten wirksamen Aufreger bei zugleich minimalem Risiko für sich selbst ist ein anderes Thema, wenn auch hiermit zusammenhängend. Denn wie Gesellschaft, Institutionen und Menschen auf dieses Vorgehen reagieren, das entscheidet darüber, ob es irgendwann enden wird - oder ob es sich zum omnipräsenten Hebel gegen missliebige Meinungen weiterentwickelt.

  • Abgesehen davon habe ich es aber auch schon immer für fraglich gehalten, dass Nicht-Betroffene über solche Themen schreiben und meinen, sie hätten eine Ahnung davon. Ich schreibe als heterosexuelle Frau kein Buch über homosexuelle oder transsexuelle Männer. Ich schreibe als Weiße nicht über die Interessen, Probleme und das Trauma indigener Kulturen. Egal, ob in Kinderbüchern oder nicht. Ich kann doch nicht über ein gesellschaftliches Thema schreiben, von dem ich nicht betroffen bin, oder? Vielleicht als Sozialwissenschaftler in einer datenbasierten Abhandlung, aber doch nicht in einem emotionsgeladenen Roman. Ich habe aber zugegeben den Shitstorm nicht mitbekommen und weiß nicht, ob das hier der Fall war.

    Shitstorms sind davon abgesehen meistens nicht mehr als eine Blase heißer Luft. JK Rolling wurde auch massiv kritisiert. Und? Ist Harry Potter in der Versenkung verschwunden? Nein. Kein HP-Fan hat deswegen seine Merchandise-Sammlung verbrannt. Die Leute, die sich da aufregen, hätten das Buch so oder so nicht gekauft.

    Naja, dann dürfen also nur noch Native Americans Indianergeschichten schreiben? Und wieso sollte mein Buch keinen schwulen Protagonisten haben, nur weil ich hetero bin?


    Ich kann ein künstlerisches Argument nachvollziehen, also im Sinne von "write what you know" und vermutlich wäre ein Roman über schwule Polygamie von einem Hetero mit 50 Ehejahren auf dem Buckel eher oberflächlich.

    (aber, man höre und staune, es soll ja auch so etwas wie Recherche geben)


    Aber die Idee, dass es bestimmte Eigenschaften gibt, die es mir erst moralisch erlauben, über bestimmte Themen zu schreiben, lehne ich ab und ich kann auch kein überzeugendes Argument erkennen. Wen sich jemand von der Tatsache allein in seinen Gefühlen verletzt fühlt, dass ich über Indianer schreibe ohne Indianer zu sein, dann sollte er zum Arzt, nicht zu Twitter.