Inszenierungen am Text/an der Musik - Werktreue versus Metaebene

  • Alexander

    Tot ist er aber auch nach dem Erdrosseln - oder? Ich halte das für keinen allzugroßen Stilbruch.


    Tom

    West Side Story war eine Adaption des Stoffes in die damalig aktuelle Zeit. Das Thema kommt da nicht abgenutzt herüber, es funktioniert auch ohne den ursprünglichen "Kontext". Zur modernen Oper, die sich nicht am alten System bedienen, fallen mir spontan drei Beispiele ein: Die Opern von Philipp Glass, Porgy and Bess von Gershwin und Tommy von The Who.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Kuhlen, Kohlen und Geklimper

    ASIN/ISBN: 3947848994


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Tot ist er aber auch nach dem Erdrosseln - oder? Ich halte das für keinen allzugroßen Stilbruch.

    Für sich allein genommen ist das tatsächlich keine große Sache, aber in der Wiederholung nerven solche Abweichungen vom Libretto. Wozu soll das gut sein? Worin besteht der Mehrwert? Für das Werk? Für das Publikum?

    Autor oder -in haben das Rezept geschrieben, Regisseure und -innen sind die Köche.

    Ein Rezept ist eine Anleitung. Die Partitur und das Libretto wären demnach also nichts weiter als eine Anleitung? Eine Anleitung zu was?


    Ich stelle mir vor, beim Zappen mit der Fernbedienung bei der Fernsehübertragung der modernen Inszenierung einer klassischen Oper hängenzubleiben. Aber der Ton ist ausgefallen. Vermutlich werde ich auch eine Stunde später noch nicht die leiseste Ahnung davon haben, um welche Oper es sich handelt. Im umgekehrten Fall, Ton ist da, Bild ist weg, bräuchte ich nur ein paar Sekunden, um das Werk zu identifizieren. Was also ist wesentlich für eine Opernaufführung? Die Musik und das Libretto oder die Inszenierung?

    Während es anfangs darum ging, die Interessen der Autoren und -innen möglichst unmittelbar, bestenfalls sogar verstärkt darzustellen, also den Text und die Musik und ggf. die Handlungsanweisungen so direkt wie möglich in Szene zu setzen

    Inszenierung, so verstanden, ist hilfreich und notwendig. Sie stellt sich in den Dienst der Sache, in diesem Fall die einer Oper. Bei vielen modernen Inszenierungen und Adaptationen verhält es sich aber genau andersherum, stellen Regisseur oder Regisseurin die Sache, die Oper, in den Dienst ihrer eigenen Vorstellungen und Assoziationen oder wie Alexander schreibt:

    Zugespitzt formuliert: Mir scheinen die Verhältnisse bei Aufführungen heutzutage mitunter auf den Kopf gestellt. Wer ist Koch und wer Kellner? Meiner Ansicht nach ist der Autor der Koch. Der Regisseur der Kellner. Und der Darsteller ein Hilfskellner. Diese Sichtweise scheint mir heute im Allgemeinen umgekehrt vertreten zu sein.


    Die Wandlung der Kunstform Oper hin zu einer musealen Kunstform ist unbestreitbar und daran ändern auch die von Horst-Dieter genannten Beispiele (die Opern von Philipp Glass, Porgy and Bess von Gershwin und Tommy von The Who) nichts. Auch die haben bereits einige Jährchen auf dem Buckel und das Ausbleiben weiterer solcher Werke, zumindest was einen messbaren Erfolg beim Publikum angeht, ist ein weiteres Indiz für diese Wandlung.

    Aber die Leute gehen ja auch ins Museum und das, um die Werke der alten Meister im Original zu betrachten und nicht die als Original ausgegebene Nachempfindung eines Kunststudenten.


    Eine Opernaufführung ist für mich immer auch eine Zeitreise und in dieser besteht ein nicht unbeträchtlicher Teil meines Vergnügens, ist die Einbettung des Werks in den Kontext seines Entstehens somit eine unabdingbare Voraussetzung, auch um den Preis, mir ob der Schwülstigkeit einiger Libretti manchmal am Liebsten die Ohren zuhalten zu wollen. Aber ich bin nicht bereit, einen Eintrittspreis von 50 oder 60 € für einen mittelprächtigen Platz in der Oper zu bezahlen, der, wie Tom zurecht anmerkt, noch dazu mit beträchtlichen Steuermitteln subventioniert wird, nur um mir den Abend durch die möglicherweise vergebliche Mühe einer versuchten Entschlüsselung der Chiffren eines selbstverliebten Theaterregisseurs versauen zu lassen.

    Oder kürzer formuliert: Ich erwarte, dass, wo Don Giovanni draufsteht, auch Don Giovanni drin ist.

    Ich halte von Kulturadaption im Sinne einer zeitgemäßen Transformation nichts. Dann lieber das Motiv aufgreifen und etwas Neues schreiben.

    Exactly.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    "Bibbidi-Bobbidi-Boo!" (Die Gute Fee in Cinderella)

  • Für sich allein genommen ist das tatsächlich keine große Sache, aber in der Wiederholung nerven solche Abweichungen vom Libretto. Wozu soll das gut sein? Worin besteht der Mehrwert? Für das Werk? Für das Publikum?

    Mehrwert in der Kunst? Die Frage ist unzulässig. :rofl

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    Emanuel von Bodmann


  • Die Wandlung der Kunstform Oper hin zu einer musealen Kunstform ist unbestreitbar und daran ändern auch die von Horst-Dieter genannten Beispiele (die Opern von Philipp Glass, Porgy and Bess von Gershwin und Tommy von The Who) nichts. Auch die haben bereits einige Jährchen auf dem Buckel und das Ausbleiben weiterer solcher Werke, zumindest was einen messbaren Erfolg beim Publikum angeht, ist ein weiteres Indiz für diese Wandlung.


    Weitere Werke sind nicht ausgeblieben. Letzte Oper von Glass stammt aus dem Jahr 2014, das ist zwar nicht gestern aber auch noch nicht so lange her. Außerdem lebt der Komponist noch und ist nach wie vor aktiv. Möglich, dass sogar noch eine Oper kommt, was aber nicht so wichtig ist.


    Das Argument, dass ein messbares Publikum nicht vorliegt, ist von zwei Seiten zu betrachten. Einmal stimmt es nicht, der Erfolg kann gemessen werden, auf Operabase zum Beispiel, das seit mehr als zwei Jahrzehnten alle Aufführungen und die Mitwirkenden verzeichnet.


    Der Erfolg beim Publikum soll ausschlaggebend sein für die Relevanz von Kunst? Das, so finde ich, ist ein ganz besonders haariges Argument. Aber es ist, das gebe ich zu, weit verbreitet. Ich will es auch nicht diskutieren, sondern auf etwas anderes verweisen. Damit Opern im Barock erfolgreich waren, wurden sie "getestet" und notfalls umgeschrieben. Vivaldi hat das so gemacht und ganz besonders Händel. Aber nicht nur diese beiden. Später wurde das Usus bei den frühen Musicals in den USA. Man schickte eine Truppe mit einem neuen Musical über Land, schaute, welche Nummer besonders gut ankamen und legte dann erst die endgültige Fassung fest, selbstverständlich dann mit bekannten Darstellern. DIESER Kontext wird heutzutage, wenn man alte Schinken von Händel wieder auflegt (von Vivaldi eher selten) nicht berücksichtigt. Weshalb ich nach wie vor meine, der Kontext ist für den Hörer und Zuschauer scheißegal. Wenn das, was Komponist und Librettist tatsächlich mitteilen wollten herüberkommt, dann hat sich das Zusehen und Zuhören gelohnt und dann ist es egal, ob jemand erdrosselt oder erstochen wurde. Es dürfte jeder verstehen, dass der Protagonist danach tot ist.


    Subventionierung von Kunst finde ich gut, aber die Bevorzugung bestimmter Sparten finde ich auch bescheuert. Nach Bayreuth in eine Aufführung würde ich selbst mit geschenkter Karte oder wenn der Eintritt kostenlos wäre, nicht gehen. Das, was seit dem Bau dort an Drumherum stattfindet – bis heute – ist auch Oper, aber keine Gute.

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    Emanuel von Bodmann


  • Ich glaube, wir reden aneinander vorbei.

    Mit Mehrwert meine ich hier die Hinzufügung einer Qualität, die dem Werk ohne die vorgenommene Abweichung vom Libretto fehlen würde.

    Erdolchen, erdrosseln, erschlagen, ertränken, aus dem Fenster werfen, mit einer Bratpfanne totprügeln ... In der Tat: Who cares? Aber warum es dann nicht gleich bei der vom Libretto vorgegebenen Wahl der Methode belassen? Ich finde es jedenfalls irritierend, wenn ich etwas anderes sehe als das Bild, welches das Hören des Textes in mir erzeugt.

    Der Erfolg beim Publikum soll ausschlaggebend sein für die Relevanz von Kunst?

    Das habe ich nicht behauptet und ist das Gegenteil dessen, was ich denke. Aber jede Film-, Musical- und Opernproduktion kostet Geld. Sehr viel Geld. Und wenn der kommerzielle Erfolg über längere Zeit ausbleibt, wird sich irgendwann auch niemand mehr finden, der solche Projekte finanziert und das entsprechende Genre oder sogar eine ganze Kunstform über kurz oder lang in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, ob wir das nun gut finden oder nicht.

    In der Literatur ist es nicht anders. Natürlich sind die Bestsellerlisten kein getreuer Spiegel der literarischen Qualität der dort aufgelisteten Werke. Aber warum reden wir dann wiederkehrend über Themen wie "Die Suche nach der Bestseller-Formel", über Marktgängigkeit, Trends, über "das, was der Markt will"? Insofern, ja, ist der Erfolg beim Publikum durchaus von Bedeutung.

    "Bibbidi-Bobbidi-Boo!" (Die Gute Fee in Cinderella)

  • …Insofern, ja, ist der Erfolg beim Publikum durchaus von Bedeutung.

    Natürlich, für den Verlag, der ohne dass Bücher erfolgreich verkauft werden nicht überleben kann, ebenso wie der Autor. Aber das alles hat mit Kunst nichts zu tun.


    Und nein, wir reden nicht aneinander vorbei. Deine Befindlichkeit beim Hören und Sehen einer Oper sind für Dich wichtig. Du kannst auch frei entscheiden, ob Du Dir eine "moderne" Interpretation antuen willst, oder nicht. Allein ein allgemeingültiges Urteil kannst Du nicht abgeben darüber.

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  • Deine Befindlichkeit beim Hören und Sehen einer Oper sind für Dich wichtig.

    Ja. Für dich nicht?

    Ich bin weder Musik- noch Literaturwissenschaftler und auch kein Kunstkritiker, Menschen, die schon von Berufs wegen völlig andere Maßstäbe in der Bewertung eines Werks und seiner Interpretation anlegen, anlegen müssen. Für mich stellt sich vor allem anderen die Frage, ob mich ein Film, eine Oper, das Hören eines Musikstücks oder die Lektüre eines Buchs berührt oder nicht und auf welche Weise dies geschieht.

    Wenn ich einen Schachtelsatz fünf Mal lesen muss, um mir halbwegs sicher sein zu können, ihn auch verstanden zu haben, dann wirft mich das aus der Geschichte, nicht anders wie ein schiefes Bild oder eine unpassende Metapher. Vielleicht noch nicht beim ersten Mal, aber ganz sicher, wenn es zum wiederholten Mal geschieht. Wie so oft, macht auch hier die Dosis das Gift. Nicht anders verhält es sich bei einer Oper, wenn die Inszenierung immer wieder vom Libretto abweicht.

    Allein ein allgemeingültiges Urteil kannst Du nicht abgeben darüber.

    Sowenig wie jeder andere. Aber ich erlaube mir, eine Meinung dazu zu haben. So wie jeder andere.

    "Bibbidi-Bobbidi-Boo!" (Die Gute Fee in Cinderella)

  • Klar, meine Befindlichkeit spielt für mich natürlich auch eine Rolle. Und ich erlaube mir auch eine Meinung. Mich ärgern aber moderne Interpretationen, die vermeintlich von der Intention der Urheber – sei es Libretto oder Musik – abweichen, grundsätzlich nicht (im Einzelfall schon, aber ich halte es für legitim, so etwas zu machen). Und ich liebe Schachtelsätze, wenn sie gut gemacht sind. ;-)

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  • Aber ich bin nicht bereit, einen Eintrittspreis von 50 oder 60 € für einen mittelprächtigen Platz in der Oper zu bezahlen, der, wie Tom zurecht anmerkt, noch dazu mit beträchtlichen Steuermitteln subventioniert wird, nur um mir den Abend durch die möglicherweise vergebliche Mühe einer versuchten Entschlüsselung der Chiffren eines selbstverliebten Theaterregisseurs versauen zu lassen.

    Mit 50 oder 60 Euro wirst Du bei den Salzburger Festspielen vermutlich noch nicht ganz weit kommen;).


    Was ich aber eigentlich schreiben wollte: Es gab vor Jahren sogar mal den Trend, "das Haus leerzuspielen". Heißt: Man brachte Inszenierungen, die das Publikum größtmöglich brüskierten. Und da habe ich mich tatsächlich gefragt, worin der tiefere Sinn liegt, sich die Zuschauer gezielt zu vergraulen. Klar hat sich dieser Ansatz gegen all jene "Kulturspießer" gerichtet, die sich mit einem Opernbesuch unterhalten lassen wollten. Aber: Die anderen, wer auch immer das gewesen sein soll, hat man damit keineswegs für sich gewonnen. Eine möglichst werkferne Inszenierung lockt nämlich trotzdem keinen Metall-Fan in die Oper.


    Mein Sohn hat gerade in der Schule den "Don Giovanni" in Musik behandelt. Sie haben auch verschiedene Inszenierungen gesehen. Mein Sohn ist klassischer Musik nicht völlig abgeneigt, er hört aber auch anderes. Gelegentlich zwingt Mama ihn, sich "Zauberflöte" oder dergleichen anzuschauen, dann macht er das auch halbwegs klaglos. Aber auch er hat mir erzählt, dass ihm die konventionelle Inszenierung (sie haben mehrere zum Vergleich angeschaut) besser gefallen hat als die Bronx-Version. Und ich denke, das ist gar nicht so untypisch für Jugendliche. Die brauchen nämlich keineswegs irgendwelche Modernisierungen, um den Inhalt eines Werks zu verstehen. Genau das hat man aber eine Weile vermutet.


    Natürlich gibt es Opern oder Oratorien, die einen "musealen" Charakter haben. Es gibt aber auch solche, die zeitlose Themen behandeln. Wenn man die in einer Inszenierung herausarbeitet, kann das auch im modernen Bühnenbild etc. sehr gut werden. Aber Regieexperimente ... Ich glaube, da stehen vor allem die Regisseure auch unter dem Druck, unbedingt etwas "ganz Neues" hervorbringen zu müssen. Oder ihre eigene Handschrift zu entwickeln, um aus der Masse hervorzustechen. Oder auch einfach nur, um nicht zu bloßen Arrangeuren eines Bühnengeschehens zu werden. Das hauen ihnen nämlich die Kritiker nachher tatsächlich um die Ohren.


    Es ist schwierig: Was die Kritik oft sogar begeistert, stößt beim "Durchschnittszuschauer" oft einfach nur auf Unverständnis. Und das führt dann wieder zu der Frage: Für wen wird das Ganze denn nun auf die Bühne gebracht?

  • Anja

    Zwischen Publikum vergraulen und etwas Neues ausprobieren wollen ist ein weites Feld. Ich finde es kritisch, der Extreme wegen jedwede Abweichung als unnötig oder gar falsch abzuwerten. Ich weiß, das tust du nicht, aber es kommt insgesamt in dieser Diskussion manchmal herüber. Dabei ist nichts tödlicher für Kunst (jeder Art), über Jahrhunderte immer nur der Tradition verpflichtet zu sein.

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  • Ich weiß, das tust du nicht,

    Genau. Ich tue das nicht:). Im Gegenteil. Ich mag selber diese Inszenierungen nicht, in denen die Figuren auf der Bühne eher arrangiert wurden, als dass man von einer richtigen Regie sprechen kann. Damit verpflichtet man sich ja auch nicht dem Werk, sondern es entstehen oft sehr blasse Inszenierungen ohne psychologische Profile der Figuren - sofern es die überhaupt gibt, natürlich. Nicht jede Oper bietet die.


    Aber Interpretationen, in denen man das Werk gar nicht mehr wiedererkennt, und das jetzt nicht als polemische Überspitzung, sondern die gibts ja wirklich, finde ich auch an der Sache vorbei gearbeitet.

  • Mit 50 oder 60 Euro wirst Du bei den Salzburger Festspielen vermutlich noch nicht ganz weit kommen ;) .

    Das will ich gerne glauben.:)


    Und ja, Anja, es ist schwierig. Ich habe mich in dieser Diskussion recht eindeutig positioniert. Aber ich erkenne an, dass man hinsichtlich deiner eingangs gestellten Frage unterschiedliche Perspektiven einnehmen kann, dass je nach Perspektive Aspekte anders gewichtet und die Prioritäten dementsprechend gesetzt werden.


    Für mich besteht der Zweck von (Theater)Regie zuallererst darin, dem Zuhörer und Zuschauer einen Zugang zum Werk zu verschaffen, den er ohne die Arbeit eines Regisseurs sonst womöglich nicht hätte, hier also Zugang verschaffen primär im Sinne von Zugang erleichtern. Dass dabei die eigene Sicht des Regisseurs auf das Werk und damit seine Interpretation in die Inszenierung einfließen, liegt in der Natur der Sache, ist unvermeidlich und bis zum einem gewissen Punkt durchaus auch wünschenswert.


    Schwierig wird es spätestens dann, wenn die „Handschrift“ des Regisseurs beginnt das Werk zu überlagern bis hin zu einer Verfremdung, hinter der das ursprüngliche Werk kaum noch zu erkennen ist. Und manchmal kommt es mir so vor, als bestünde zwischen einem Teil der Theaterregisseure und Teilen der Kritik eine stillschweigende Übereinkunft, wonach die einen möglichst skandalträchtige Inszenierungen zu schaffen haben, damit die anderen umso mehr zu schreiben haben und die sich wiederum revanchieren, indem sie Erstere für ihre „bahnbrechenden Visionen“ und „wegweisende Neuinterpretation“ feiern und nachfolgend zu absoluten Autoritäten erklären. Und manchmal sieht es für mich so aus, als hätten Skandale im Allgemeinen und durch eine Inszenierung ausgelöste Skandale im Besonderen auch die Funktion eines Rituals zu erfüllen, so wie zum Beispiel im Fall der Bayreuther Festspiele, bei denen ein handfester Skandal alle paar Jahre mittlerweile schon zur Tradition geworden ist.


    Ich bin in der Frage der Werktreue nicht so rigide, wie es hier möglicherweise hin und wieder rübergekommen ist. Wenn zum Beispiel ein Kritiker zur Ring-Inszenierung des Jahres 1976 schreibt, dass Pierre Boulez ‚Rheingold‘ dirigiert, als wär’s von Debussy“ , dann klingt das für mich ungemein spannend und macht mich neugierig. Das ist dann eine Interpretation im ursprünglichen Sinn des Wortes. Vom Werk wird nichts weggenommen und ebenso wenig wird ihm etwas hinzugefügt, sondern dem Zuhörer eine andere Perspektive angeboten.

    Etwas völlig anderes aber sind Inszenierungen, die Werk und Künstlerensemble zur Geisel nehmen, nur um die Weltsicht des Regisseurs mitsamt seiner Fantasien und Assoziationen zu propagieren.


    Ich habe größten Respekt vor Regisseuren und Regisseurinnen, die sich dieses Unterschieds bewusst sind und die ein feines Gespür dafür haben, wie viel Interpretation einem Werk guttut und wo je nach Werk die Grenze für diese Interpretation verläuft, deren Überschreitung das Werk beschädigen würde.

    Und den anderen wünsche ich etwas mehr Bescheidenheit.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

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  • Für mich besteht der Zweck von (Theater)Regie zuallererst darin, dem Zuhörer und Zuschauer einen Zugang zum Werk zu verschaffen, den er ohne die Arbeit eines Regisseurs sonst womöglich nicht hätte, hier also Zugang verschaffen primär im Sinne von Zugang erleichtern.

    Dem schließe ich mich an. Es soll angeblich Menschen geben, die "Leonce und Lena" nicht bereits gelesen, durchgearbeitet und in mehreren Aufführungen gesehen haben. Wenn die dann ins Theater gehen und eine entfremdete Aufführung des Stück sehen, bei dem etwa die Leichtigkeit der romantischen Komödie "weginszeniert" wird - so durfte ich es einmal in Bochum bei den Ruhrfestspielen sehen -, dann hat dieser bemitleidenswert kulturell rückständige Mensch leider nach dem Theaterbesuch keine Ahnung von Büchners Lustspiel.


    Soweit ich es sehe, geschehen solche Exzesse ja auch nur bei Stücken von Autoren, deren Urheberrecht bereits erloschen ist. Ansonsten wäre es vielleicht ehrlicher, über das Theaterplakat zu schreiben: "Stück, inspiriert durch 'Kabale und Liebe' in einer Neufassung des Regisseurs Adalbert Schweißfuß". Oder traut man sich ähnliche "Metaebenen" auch bei Jelinek & Co.?

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • …Oder traut man sich ähnliche "Metaebenen" auch bei Jelinek & Co

    Vermutlich reicht die Schockkomponente der Originalfassung noch eine Weile aus, bevor man sich bemüssigt sieht, da noch etwas zuzulegen. 8-)

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  • Soweit ich es sehe, geschehen solche Exzesse ja auch nur bei Stücken von Autoren, deren Urheberrecht bereits erloschen ist.

    Diese Einschätzung entspricht zweifellos der Realität, zumindest insoweit es die materiellen Aspekte einer solchen Aneignung berührt.


    Skandalumwitterte Inszenierungen sind keine „Erfindung“ der Neuzeit. Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich seit dem Tannhäuser-“Skandal“ von 1861 etwas im Grundsätzlichen verändert hat, dass etwas ins Rutschen geraten ist, dass zuletzt, mit zuletzt meine ich die letzten 15 bis 20 Jahre, etliche Dämme gebrochen sind und sich viele Menschen jetzt ungeniert an dem von anderen Geschaffenen bedienen und damit verfahren als wär’s ihr Eigenes. Es ist nicht der einzige Grund, aber zweifellos hat zu dieser Entwicklung auch das Internet beigetragen. Mittlerweile ist es bereits die zweite Generation, die damit groß wird, dass alles immer und überall und, wenn man sich den Teufel um Legalität schert, noch dazu gratis verfügbar ist und dies auch zu sein hat.


    Für mich steht es außer Frage, dass diese Hemmungslosigkeit im Umgang mit von anderen geschaffener Kunst die Arbeit ihrer jeweiligen Urheber entwertet, was wiederum die Hemmungslosigkeit nur noch weiter steigert. Ein klassischer Circulus vitiosus. Zuletzt wird diese Selbstbedienungsmentalität als Gewohnheitsrecht ausgegeben.


    Aber unabhängig davon, ob querdenkende Verfassungsschützer die Freiheit gefährdet sehen, die sie anderen vorenthalten wollen oder „Erweckte“ mit dem Impetus religiöser Eiferer im Sinne einer sich selbst zugemessenen moralischen Autorität literarische Werke umschreiben oder ob ein narzisstischer Theaterregisseur eine Oper zum Zweck einer Markenbildung in eigener Sache schreddert: Die damit einhergehende Enthemmung entwickelt sich stets auf der Grundlage ein und derselben Pathologie, einer Pathologie, für die Selbstüberhöhung und Missionierungsdrang kennzeichnend sind.

    "Bibbidi-Bobbidi-Boo!" (Die Gute Fee in Cinderella)