Hallo alle,
um es gleich vorweg zu sagen: Es geht hier nicht um Literatur, sondern ums Theater, ganz genau um das Musiktheater.
Hier in Salzburg laufen ja aktuell wieder mal die Festspiele. Und parallel dazu schon seit vielen Jahren auch die "Festspielnächte". Da werden bei freiem Eintritt und unter freiem Himmel auf einer riesigen Leinwand alte und neue Festspielinszenierungen aus dem Archiv des ORF gezeigt, auch zeitversetzte Live-Übertragungen sind ab und zu dabei. An warmen Sommerabenden ist das eine wirklich schöne Sache, man kann kommen und gehen, wann man will, setzt sich hin, bleibt eine Weile da und geht dann wieder oder schaut sich die gesamte Aufzeichnung an. Dazu werden in einem Zeit auch Essen und Getränke angeboten, natürlich bleibt es da, auf dem Kapitelplatz, ruhig, also kein Volksfest, sondern immer noch Festspiele via Leinwand.
Gestern haben wir uns also einen Teil des Mozartschen "Don Giovanni" aus dem Jahr 2021 angesehen. Wir sind früher gegangen, allerdings nicht, weil die Vorstellung so schrecklich war, sondern weil es uns zu spät wurde und wir noch ein Lokal ansteuern wollten.
Und genau dort, im Lokal, haben wir uns dann lange über das Thema Werktreue unterhalten.
Ich nehme mal an, die meisten von Euch kennen den Don Giovanni, so dass ich hier nicht noch zur großen Inhaltsangabe ausholen muss. Der Titelheld erlebt seinen Niedergang. Die Oper setzt mit Verführung/Vergewaltigung (so klar sagt das das Libretto nicht) und Mord am Vater eines Mädchens ein und endet damit, dass der Geist bzw. die Statue des ermordeten Vaters den Don Juan zur Reue für sein gesamtes Leben bewegen will. Der bereut aber nichts, weder Vergewaltigungen, noch Verführungen (zusammengenommen sicher an die 2000), noch den Mord und fährt lieber in die Hölle.
Man nennt den Don Giovanni gerne auch die "Oper aller Opern", und sie ist in gewisser Weise tatsächlich zeitlos, denn es geht vor allem um Paar- und Liebesbeziehungen in allen denkbaren Konstellationen.
Man muss daraus absolut keine Kostümklamotte machen, auch in Jeans und Minirock bleibt die Oper glaubhaft.
Aber die Inszenierung aus dem Vorjahr macht etwas, das auch von der Kritik etwas zwiegespalten aufgenommen wurde. Ich war ja selber zehn Jahre Kritikerin, und, ehrlich, gestern war ich heilfroh, dass ich dazu keine Kritik schreiben musste.
Denn der Regisseur erzählt schlicht nicht die Geschichte des Stückes. Stattdessen hatte ich den Eindruck, dass er jede Szene in ein eigenes, vielleicht archetypisches Bild auflöst und diese Bilder dann aneinanderreiht. Und selbst wenn eine Oper ja vorwiegend über die Musik erzählt wird, gibts eben auch ein Libretto, und Lorenzo da Ponte war nicht der schlechteste Librettist. Er hat nicht nur einfach irgendeinen mehr oder weniger simplen sangbaren Text zur Musik bereitgestellt, sondern sein Libretto ist auch für sich genommen gut.
Und abgesehen davon, dass sich die Szenen für mich einfach nicht zu einer Geschichte zusammenfügen wollten, war das Ganze in Teilen auch noch völlig am Libretto vorbeiinszeniert.
Mal ein paar Beispiele:
Am Anfang läuft die junge Adelige Donna Anna aus dem Haus, Sie verfolgt einen Mann (Don Giovanni), der laut Libretto sein Gesicht verhüllt. Er hat sie verführt/vergewaltigt, und nun soll sie nicht erfahren, wer er ist. Im Text singen sie beide genau davon: Sie sagt sinngemäß, dass sie ihn nicht eher in Ruhe lässt, bis er sich ihr zeigt, er sagt, er werde den Teufel tun, eher würde er sie umbringen.
In dieser Inszenierung steht Donna Anna alleine auf der einen Seite vorne am Bühnenrand, sie ist gekleidet wie eine griechische Rachegöttin, weitere Rachegöttinnen zerren an Don Giovanni herum, der auf der anderen Seite der Bühne steht und keineswegs sein Gesicht verhüllt ...
Dann kommt der Vater des Mädchens: Hier fällt zuerst mal sein Rollstuhl mit lautem Knall aus dem Schnürboden auf die Bühne, dann betritt er auf eine Krücke gestützt selber die Bühne. Laut Text fordert er Don Giovanni zum Duell heraus. Hier legt er ihm von hinten seine Krücke an den Hals und droht ihn damit zu ersticken. Es sieht also ziemlich schlecht aus für Don Juan. Dann: (vermutlich) ein Schwächeanfall. Der Alte fällt hin. Don Giovanni schnappt sich dessen Krücke und erstickt nun seinerseits den Vater des Mädchens. Das Bild dieses alten Mannes, der sogar noch mit seiner Krücke den Verführer der Tochter umbringen will, finde ich persönlich sogar sehr gelungen. Aber: Laut Libretto erdolcht Don Giovanni ihn. Überall Blut.
Giovanni sucht das Weite, Donna Anna kommt mit ihrem Verlobten zurück. Sie sieht den Vater, singt, die Wunde, das Blut ... Nur: Da liegt gar kein Vater mehr. Aus unerfindlichen Gründen ist der Mann nämlich in der kurzen Dunkelheit, die vorübergehend auf der Bühne geherrscht hat, verschwunden. Stattdessen schmiert sich ihr Verlobter seine Arme mit Blut ein (warum bloß?) und singt, man solle doch bitte den Toten fortbringen, dessen Anblick seine Verlobte so sehr erschüttere. Den Toten, der schon gar nicht mehr dort liegt ...
Und so geht das weiter. Es entstehen tatsächlich ein paar sehr eindringliche, durchaus auch sehr schöne Bilder. Nur wird eben meiner Ansicht nach eher eine Art "Metageschichte" erzählt.
Für Opernkritiker, die wahrscheinlich schon ihre mindestens zehne Don-Giovanni-Inszenierung rezensieren, mag das ja interessant sein. Aber für die wird an sich nicht inszeniert oder sollte nicht inszeniert werden. Auch für mich war das der vielleicht sechste Don Giovanni, ich habe eine neue Sichtweise auf das Stück kennengelernt, über die ich nachdenken und über die ich mit anderen sprechen kann - für die das auch die sechste oder zehnte Inszenierung ist.
Aber wie ist das mit Theaterbesuchern, die das Stück vielleicht erst zum zweiten Mal sehen? Die es vorher nicht so gut kennen, um das Original von der Lesart des Regisseurs zu unterscheiden?
Ich musste gestern glücklicherweise ja nichts dazu schreiben, ich muss das schon seit Jahren nicht mehr und ich bin ehrlich gesagt auch sehr froh darüber. Aber gestern hätte ich wirklich nicht gewusst, wie ich diesen Zugang zum Stück bewerten soll.
Was meint Ihr zu dieser Art der "Meta-Inszenierungen"?