Kennt Ihr das? Manchmal liest man Bücher und ist sich nicht sicher: Ist das noch ein Sachbuch (wie Biografien zu den Sachbüchern zählen) oder doch schon ein Roman?
Mir ging das dieses Jahr so mit „Hillbilly Elegy“ von J. D. Vance und „Der große Trip - Wild“ von Cheryl Strayed. Der eine erzählt von einer Kindheit in einer Familie, die gemeinhin in den USA als White Trash verschrieen ist, und vom Aufstieg aus diesem Milieu, die andere von einer Wanderung auf dem Pacific Crest Trail, eigentlich aber von einem in die Binsen gegangen Leben, von Sucht, (Selbst-) Betrug und Trauer. Beide Bücher haben einen autobiographischen Hintergrund, werden aber so erzählt, dass sie locker als Romane gelten können. Beide Bücher haben so eine starke Geschichte, dass es sehr nahe lag, Filme anhand der Vorlagen zu drehen. Dabei kann man wahrscheinlich nicht voraussetzen, dass Biografien generell gut (filmisch) zu adaptieren sind. Während man auch (so vom Verlag bezeichnete) (Auto-) Biografien an sich nicht als bloße Abbildungen eines Lebens verstehen darf - hier lässt einer etwas weg, da erfindet er etwas dazu, hier strafft er zeitlich usw. - braucht es erzählerischer Kniffe, um ein Leben wie einen Roman zu erzählen. Eine ausschließlich faktenbasierte Schilderung liefe viel eher Gefahr, langweilig zu werden, zäh - wahrhaftig (in dem Sinne, dass jemandes Erinnerungen und Empfindungen zwar tatsächlich wahrhaftig sein können, aber nicht unbedingt „wahr“), wahrhaftig also, aber dröge. Die Amerikaner können das gut: fesselnd erzählen. Vielleicht erfinden sie dann auch mehr hinzu - ich halte das für sehr wahrscheinlich. Ansonsten kämen dabei wahrscheinlich nicht Bücher heraus, bei denen sich selbst Verlage schwertun mit der Einordnung.
Nicht, dass das ein neues Phänomen wäre. Mit „Montauk“ legte Max Frisch z. B. schon 1975 ein von ihm selbst Erzählung genanntes Stück autobiografischer Prosa vor. Auf die Folie eines real erlebten Wochenendes bringt Frisch hier Erinnerungen an frühere Beziehungen auf. Wo allein schon der Entschluss, über etwas zu schreiben, das erst noch passieren muss (falls das so gewesen sein sollte), die Dinge unweigerlich ein Stückweit verfälscht, und Frisch auch hier natürlich die schriftstellerische Entscheidung trifft, was er (aus-) erzählt und was er weglässt oder allenfalls andeutet, fügt er dem äußeren Erlebnis ein inneres hinzu. Damit dehnt er das postulierte „nur Schildern, was an diesem Wochenende passiert“, auf mehrere Ebenen aus, die eine gegenwärtige und zahlreiche vergangene. (Übrigens eine interessante Ausgangsposition, finde ich.)
Ich habe den Eindruck, dass solche „Hybride“ zunehmen auf dem Buchmarkt. Und, dass das entscheidend damit zu tun hat, dass wir immer stärker daran gewöhnt sind, dass Menschen ihre Erfahrungen mit anderen - Fremden - teilen. Auch und gerade intime. 1975 waren die Frauen, über die Frisch schrieb, wahrscheinlich noch um einiges empörter, erschrockener …, über sich selbst in einem Buch zu lesen als sie es heutzutage wären (so, wie (die bei Erscheinen des Buches bereits verstorbene) Ingeborg Bachmann sich dem entschieden verwehrt hatte). Das bringt einen in die Bredouille: Während man einerseits schätzen kann, solche Einblicke zu bekommen, möchte man selbst nun kein solcher „Steinbruch“ sein, aus dem ein Schriftsteller/eine Schriftstellerin „Literatur macht“.