Hallo, liebe 42er,
vorausschicken will ich meinen Fragen das Eingeständnis, dass ich mir keine Geschichten ausdenken kann. Ein paar Mal habe ich es versucht. Herausgekommen sind von platten Figuren bevölkerte dünne Geschichtchen, des Papiers nicht wert, auf dem sie geschrieben waren.
Es beginnt immer mit mindestens einer, häufiger sogar mit mehreren Figuren, die plötzlich in meinem Kopf sind und die anfangen, mir ihre Geschichte zu erzählen. So war es bisher und hat auch insoweit recht gut funktioniert, als dabei in meinem Empfinden überwiegend lesenswerte Geschichten herausgekommen sind.
Und dann habe ich heute Nacht diesen verrückten Traum. Es war der reinste Horrorfilm, und das umso mehr, als etliche Details aus meinem realen Leben in den Traum eingebettet waren - Orte, Personen, Begebenheiten, Gegenstände. Noch während des Wachwerdens habe ich versucht, den Traum so schnell wie möglich „loszuwerden“, aber stattdessen entwickelt sich aus dem Traum heraus rasend schnell eine eigenständige Geschichte, die zwar immer noch einige Horrorelemente enthält, inzwischen aber ganz sicher nicht mehr eine Horrorgeschichte zu nennen ist. Aber die drei Hauptakteure des Traums sind auch die Hauptakteure der Geschichte, einige Nebenfiguren sind hinzukgeommen ... wie gesagt, es geht rasend schnell, auch, was die praktische Umsetzung angeht, was für mich völlig untypisch ist. So weit, so gut. Aber ...
Ich bevorzuge tragisch-komische Geschichten mit einem erkennbaren Bezug sowohl zur Gegenwart als auch zur Realität, den Protagonisten wünsche ich mir in der Regel mit ein paar ordentlichen Macken, aber auch mit einer hilfreichen Portion Selbstironie ausgestattet, und wenn es zwischendurch auch mal ganz tief nach unten geht, soll zumindest am Schluss der Geschichte stets auch Raum für Hoffnung sein. Ich mag mich nicht zum Chronisten des Leids und des Scheiterns machen und möglicherweise bei Leserin und Leser Depressionen auslösen.
Und heute also nistet sich praktisch von jetzt auf gleich diese irre, düstere Geschichte in meinem Kopf ein, verdrängt einstweilen meine beiden aktuellen Romanprojekte und einige andere Ideen vollständig, obwohl es eine Geschichte ist, von der ich nie hätte annehmen wollen, dass ich sie schreiben will: mit drei auf sehr unterschiedliche Weise extrem beschädigten Hauptfiguren, die essentielle Anteile ihres Lebens bislang an andere Menschen delegiert haben und durch diese „ausleben“ lassen, es ab einem bestimmten Punkt aber nicht mehr dabei belassen wollen ... Verwerfungen, die aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeiten daraus entstehen inklusive einer sich parallel entwickelnden doppelten Liebesgeschichte, einer Dreiecksgeschichte schließlich ... eine Hauptakteurin, für die Mord das Normalste auf der Welt ist, lästig zwar wegen der regelmäßig damit verbundenen Umstände, aber hin und wieder halt notwendig, so wie Zähneputzen. Das sind ganz grob skizziert ein paar Ingredienzen der Geschichte, die, so wie es aussieht, beim besten Willen keinen Raum für ein optimistisches Ende bieten kann, und die zu schreiben ich nicht nur deshalb einen Mordsbammel verspüre, sondern mehr noch, weil sie in fast jeder Beziehung so völlig anders ist als alles, was ich bisher geschrieben habe. Aber gleichzeitig ist da eine Begeisterung, die ich seit dem Schreiben meines allerersten beendeten Romans nie mehr verspürt habe.
Oder ist das eher der Stoff, aus dem Rohrkrepierer gemacht sind? Denn das kenne ich ja zu Genüge: dass ich abends mit ein paar „brillianten“ Ideen schlafen gehe, für die ich am nächsten Morgen allenfalls eine Grimasse übrig habe. Aber das hier fühlt sich anders an.
Was meint ihr? Soll ich diese Begeisterung, den aktuellen Schwung nutzen, dranbleiben, so gut es geht? Oder im Gegenteil versuchen, diese Bilder- und Gedankenflut zunächst möglichst zu ignorieren und zu schauen, ob die Begeisterung dennoch bleibt, ehe ich weiterhin Zeit und Energie in ein Projekt stecke, dass sich am Ende doch als der erwähnte Rohrkrepierer herausstellen mag? Wie ist das bei euch? Habt ihr ähnliche Erfahrungen hinsichtlich der Entstehung einer Geschichte gemacht? Und vor allen Dingen: Was ist daraus geworden?
Herzliche Grüße,
Jürgen