Berufsziel: Romanarchitekt
Glaubt man den Bekundungen in Autorenforen und -blogs, dann teilen sich die Schriftsteller Deutschlands in zwei Fraktionen, wenn es um die Umsetzung von Romanprojekten geht: Während die so genannten Bauchschreiber, mit einer Idee beginnend, ihren Gefühlen praktisch freien Lauf lassen und ein emotionales Ballett mit ihren Figuren tanzen, planen die so bezeichneten Kopfschreiber minutiös und einem präzisen Kalkül folgend jedes Kapitel, jede Szene, manchmal sogar jeden Absatz, bevor sie mit der eigentlichen Schreibarbeit beginnen. Es dürfte zulässig sein, Juli Zeh als die Kaiserin, vielleicht sogar die Göttin dieser Fraktion zu bezeichnen. Sehr wenige Autoren - nicht nur im deutschsprachigen Raum - dürften die Kopfschreiberei auf diese Weise auf die Spitze treiben: Juli Zeh ist keine Schriftstellerin, sie ist eine Romanarchitektin.
Irgendwo in der Ostprignitz, wir schreiben das Jahr 2010, es ist Sommer und ungewöhnlich heiß. Auf der verblüffend gut besuchten Gemeindeversammlung des 200-Seelen-Dorfs "Unterleuten" (der nächste Ort heißt "Groß Väter") wird von Bürgermeister Arne Seidel verkündet, dass demnächst zehn Windräder auf dem zur Gemeinde gehörenden Land aufgestellt werden. Es geht nicht mehr um die Frage, ob, sondern nur noch darum, wo es geschehen soll. Die Eignungsflächen reduzieren sich alsbald auf die "Schiefe Kappe", einen Hügel am Ortsrand, und die drei Stücken Land, um die es konkret geht, befinden sich im Eigentum von Kron, einem Altkommunisten, Konrad Meiler, einer Heuschrecke aus Ingolstadt, und Linda Franzen, einer selbstverliebten, zugezogenen Pferdeflüsterin, die sämtliche Lebensweisheiten einem Tschaka-Ratgeber mit dem Titel "Dein Erfolg!" entnimmt, verfasst von einem gewissen Manfred Gortz. Dieses Buch gibt es übrigens tatsächlich, man kann es kaufen - allerdings verbirgt sich hinter Manfred Gortz niemand geringeres als Juli Zeh höchstselbst.
Die Figurenschar ist noch um einiges größer, wie auch das Beziehungsgeflecht, das Fundament von "Unterleuten". Da sind der zum Vogelschützer mutierte, ehemalige Soziologe Gerhard mit seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Jule nebst Baby Sophie - alle drei aus Berlin -, deren Nachbar Schaller, der seit einem Unfall unter Gedächtnisverlust leidet und an der Grundstücksgrenze pausenlos Reifen verbrennt, dazu Frederick, der entscheidungsunfähige Freund von Lina Franzen - und viele mehr. Vor allem aber ist da Gombrowski, Sohn der ehemaligen Gutsherren, denen alles um Unterleuten herum gehörte, Ex-Chef der LPG und Geschäftsführer der "Ökologica", des landwirtschaftlichen Betriebs, von dem letztlich alle im Dorf leben, und der in den frühen Neunzigern nach einer schweren dörflichen Krise aus der LPG hervorgegangen ist. Gombrowski ist der Intimfeind von Kron, aber so richtig grün ist sich hier sowieso keiner. Das Soziotop lebt von Gefälligkeiten und eingeforderten Altschulden, vom Geben und Nehmen, von Gerüchten und vom Buschfunk, und es wird beherrscht vom dicken Gombrowski, der mit den Windrädern die "Ökologica" retten will, dabei aber die Rechnung ohne ein paar Unbekannte gemacht hat. Oder doch, wie man will. Und außerdem gab es da diesen Todesfall. Der nicht der letzte bleiben wird.
Juli Zeh erzählt in diesem wort- und seitenmächtigen Opus jeweils aus der Perspektive eines der Beteiligten, von denen übrigens kein einziger sympathisch ist. Das Personal von "Unterleuten" besteht tatsächlich aus literarischen Figuren im Wortsinn, aus fiktiven Gestalten, die außerordentlich präzise, originell und glaubwürdig gezeichnet sind, aber keinen noch so kleinen Schritt aus der Rolle heraus machen: Sie gehören und gehorchen der Meisterin. Präzise und nüchtern, fast schon ein wenig steril kommen diese Leute daher, und die Gefahr der Verwechslung wächst mit der geschilderten Unterschiedlichkeit. So habe ich die "großen" Widersacher des Romans, Kron und Gombrowski, bis zur letzten Seite nur schwer auseinanderhalten können, obwohl es körperliche, politische und soziale Unterscheidungsmerkmale zuhauf gibt: Emotional sind sie sich äußerst ähnlich, und ihr Verhalten gleicht sich fast. Das gilt nicht nur für diese beiden Exponenten. Es ist hinreißend, fast schon unglaublich, wie Juli Zeh etwa die Soziologengattin Jule skizziert, wie sie deren Entscheidungen verdeutlicht und die seltsame Ehe begründet, doch die Gefühlsebene bleibt diffus, kostümhaft und schwer erreichbar. Hier zeigt sich, dass auch die Königin der Kopfschreiber gelegentlich dem Rumoren des einen oder anderen Hormons lauschen sollte.
Aber das ist Nörgelei auf extrem hohem Niveau. "Unterleuten" ist sprachlich ein Fest, ein Text zum Niederknien, bei dem jeder Satz stimmt, jeder Terminus genau trifft, jedes Bild exakt gezeichnet ist. Die soziologischen und politischen Analysen sind brillant, die Figuren, allesamt als Archetypen angelegt, sind stimmig bis ins Detail, solide unterfüttert und mit starker Hand geführt. Dazu gesellt sich ein allerfeinster, nicht notwendigerweise immer nur leiser Humor - dieser Juli Zeh-Roman ist grundkomisch, insgesamt ein Riesenspaß, mal auf äußerst subtile Weise, dann wieder sehr direkt. Da stört es fast überhaupt nicht mehr, dass es sich letztlich um ein Opus Magnum auf emotionaler Diät handelt, denn das Fehlen der Gefühle - nicht nur der großen - gleicht Juli Zeh mit anderen Aspekten um ein Vielfaches aus.
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