Beiträge von bettina

    Ich würde ganz lässig behaupten, mehr als 98 Prozent der Menschen und Situationen, über die ich geschrieben habe, nicht selbst erlebt zu haben. 8-) (Und die zwei Prozent, die bleiben, sind auch nicht autobiografisch. ;) )


    Ich behaupte das von mir auch, obwohl ich immer wieder gefragt werde, ob meine Texte autobiografisch seien. Das sind sie nicht! Allenfalls greife ich auf mir bekannte Orte zurück. Alles andere ist reine Fantasie. Ich scheine mich in nicht Erlebtes hineindenken zu können, teils aus Erzählungen anderer, teils aufgrund von Recherche. Oft nehmen die Gedanken assoziativ ihren eigenen Weg und verselbständigen sich. So entstehen manchmal Szenen oder Personen ohne mein aktives Dazutun. Sie kommen einfach, werden und sind da. Und wenn sie einmal leben, lassen sie sich nicht wieder aus der fiktionalen Welt vertreiben.

    Beim Schreiben bin ich am verletzlichsten, was Kritik angeht. Das liegt daran, daß ich mir selber dort am einfachsten den Blick verbauen kann. Sicherlich, ich würde mir eine andere Strategie überlegen müssen, wenn ich vom Schreiben leben müßte. Meine jetzige Strategie ist, liegen zu lassen und mit zeitlichem Abstand wieder drüber zu schauen. Einer Kritik stelle ich mich nur, wenn ich abgeschlossen habe. Alles andere verunsichert mich nur und nimmt mir die Lust.


    Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Das Liegenlassen - manchmal sogar über Jahre - hat sich bei mir bewährt. Ich muss mit mir und dem Text selber ins Reine kommen, bevor ich ihn vorzeigen möchte. Es gibt eine seltene Ausnahme, aber die basiert auf besonderer Vertrautheit und hat mir manches Mal geholfen. Sonst bin ich lieber Einzeltäter.
    Mit Kritik am fertigen Produkt kann ich gut umgehen, wenn sie begründet wird.

    Ich war den Gestrengen der Familie nicht schön genug.


    das glaub ich dir nicht, Monika. Du hattest hier mal irgendwo ein Jugendbild, das war wunderschön. Und heute musst du dich auch nicht verstecken.
    Stefanie: Knirps-Foto, sehr niedlich.
    Wir könnten ja mal schriftliche Bilder unserer Ahnen verfassen, unsere Anfänge sind doch schon ganz gut. Und so kämen wir auch wieder auf den Sinn unseres Forums, die Literatur.

    Vom "Muss" wegzukommen, fällt mir sehr schwer, weil der größte Teil meines Lebens unter diesem Joch stand. Jetzt habe ich alles, um mich zufrieden zurück lehnen zu können. Ich muss gar nichts mehr. Ich habe Zeit. Aber ich genieße sie nicht, weil das "Muss" mir droht. Selbst wenn es mir zuflüstert "du musst aber genießen", werde ich geknebelt. Da ich das alles weiß, kann ich diese Bedrohung auch bekämpfen. Aber Kampf ist Kampf, Entspannung ist anders. Fazit: man kann sich das Leben auch schwer machen.
    Anders verhält es sich im Umgang mit dem "Muss", das mir andere auferlegen. Das akzeptiere ich nur noch selten. Ich finde Geralds Spruch "Jeden Tag wächst die Zahl derer, die mich mal können..." ganz wunderbar (Freunde schließe ich aus). Es gelingt mir immer besser, diesen Spruch auch in mein Leben zu lassen. Mit dem Aufregen geht's noch nicht so einfach. Das tu ich noch, aber muss ich ja nicht. Das mache ich ganz aus freien Stücken.
    Das "Muss"Thema finde ich sehr spannend. Man könnte sicher viele Geschichten dazu schreiben.

    Jay: auf dem Land, in meinem letzten Wohnort Drensteinfurt, hat sich das noch bis in die späten 60er Jahre gehalten. Sogar wesentlich jüngere Leute erzählen davon. Ich glaube, Voltaires Candide hatte Drensteinfurt im Sinn, als er ins Westfälische Tunderthentrunk kam.

    Im Spiegel sehe ich nur meine ungeliebte Tante Frieda (die hieß wirklich so), der ich niemals ähnlich sein wollte. Das geht so weit, dass ich alles an mir verändere, was nur entfernt an die erinnern könnte. Alle anderen Ähnlichkeiten spielen sich im Inneren ab, in der Erinnerung an Gesten, an Eigenschaften, Verhaltensweisen, Vorlieben in denen ich mich wiederfinde. Da sind beide Eltern sehr präsent.

    Mich ärgert ebenfalls die "dumme" Kritik, wie Joan es mit den 20ern meinte. Einige werfen mir vor, dass dies oder jenes nicht sein "könne", leider treffen diese Kritiker immer genau jene Fälle, die eins zu eins aus dem realen Leben gegriffen sind. Beispiel: die Geschichte mit der Transsibirischen Eisenbahn. Sie ist so, genauso passiert. Oder Szenen aus den "Kastanienblüten", wo infrage gestellt wird, dass man in den 50er Jahren als katholisches Kind nicht mit den Evangelischen spielte. Ich weiß, da sollte man drüber stehen. Es gibt ja auch sehr konstruktive Kritik, die mir weiterhilft und die nicht aus der Luft gegriffen ist. Nur dieses besserwisserische Blabla mag ich nicht.

    Maryannes Roman „Die Baumwollfarmerin“ erzählt die Geschiche einer jüdischen Familie aus der Ukraine, in deren Mittelpunkt die junge Perla steht, das Mädchen aus einfachen Verhältinissen, das sich zu einer starken und mutigen Frau entwickelt. Im Alter von fünfzehn Jahren folgt sie dem Rat ihre Großvaters. „Fortmachen“ , nichts als weg aus dem Elend und fortmachen in die Neue Welt, die man ihr verheißungsvoll verspricht. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Perla durchlebt schreckliche Zeiten als Prostituierte, aber mit den Jahren gelingt es ihr, sich ein neues, inneres und starkes Leben aufzubauen. Aus jeder Niederlage erwächst ihr Kraft. Und so gelingt es ihr, sich in einer von Männern dominierten Welt zu behaupten. Maryanne Becker entführt ihre Leser in eine fremde Welt und eine ferne Zeit, in das Texas des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Der mit großer Sorgfalt geführten Recherche folgt man mit Interesse. Das Leben auf der Baumwollfarm ist hart. Aber Perla meistert die Herausforderung. Eine großartige, starke Frau zeigt, dass das Unmögliche möglich werden kann, wenn man Herausforderungen anpackt. Die Autorin verschweigt nicht die Risiken, die mit Perlas Leben verbunden sind. Sie muss auf vieles verzichten, verhärtet sich Gefühlen gegenüber aber zeigt dennoch, dass auch sie eine weiche, eine empfindsame Seite hat. Das macht sie am Ende sympathsch.
    Ich habe das Buch sehr gerne und mit großer Anteilnahme gelesen und kann es nur jedem weiterempfehlen.

    Monika Deterings Roman spielt in den 50er/60er Jahren, in einer Zeit, die uns heute sehr fern erscheint. Erziehung und Familie sind von einer streng katholischen Moral geprägt, die Bürgerlichkeit lebt von Heuchelei und Bigotterie. In Wirklichkeit nimmt man es mit der sogenannten Moral nicht sehr genau. In diesem Zwiespalt von religiösem Anspruch und einer Wirklichkeit, in der jede Moral gebrochen wird, wächst Marie auf. Als Kind schon erlebt sie, dass sie zwei Leben hat: das brav bigotte der Mutter und das von Sexualität und Gewalt geprägte des Vaters. Wem soll das Kind glauben? Marie scheint zunächst stark genug, der kleinbürgerlichen Umklammerung zu entfliehen, aber die Liebe zu ihrem Freund endet im Fiasko. Die religiösen und bürgerlichen Normen der Mutter zwingen Marie, die noch nicht volljährig ist, als sie schwanger wird, den Vater ihres Kindes zu heiraten. Monika Detering geht sehr sensibel und behutsam mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs um, sie lässt ihre Leser in die Seele des leidenden Kindes blicken. Man möchte mit Marie schreien und weinen, möchte ihr Leid teilen, ihr zur Seite stehen. Der Zeitgeist wirkt bedrohlich, zerstörerisch. Es ist wichtig, sich an diese Zeit der doppelten Moral zu erinnern, denn sie ist nicht so fern, wie man annehmen möchte. Auch heute geschehen noch Dinge im familiären, aber leider auch im kirchlichen Bereich, über die man nicht gerne redet. Monika Deterings Roman könnte einen Beitrag zu mehr Ehrlichkeit leisten, damit sich nicht wiederholt, was wir meinen, überwunden zu haben.
    Komme

    aus Adalbert Stifter, Bergkristall:
    "Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann sich kaum etwas Lieblicheres denken als Pfingsten und kaum etwas Ernsteres und Heiligeres als Ostern. Das Traurige und Schwermütige der Karwoche und darauf das Feierliche des Sonntags begleiten uns durch das Leben. Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht und Schnee alle Fluren deckt, das Fest der Weihnacht. Wie in vielen Ländern der Tag vor dem Geburtsfeste des Herrn der Christabend heißt, so heißt er bei uns der heilige Abend, der darauf folgende Tag der heilige Tag und die dazwischen liegende Nacht die Weihnacht. Die katholische Kirche begeht den Christtag als den Tag der Geburt des Heilandes mit ihrer allergrößten kirchlichen Feier, in den meisten Gegenden wird schon die Mitternachtstunde als die Geburtstunde des Herrn mit prangender Nachtfeier geheiligt, zu der die Glocken durch die stille, finstere, winterliche Mitternachtluft laden, zu der die Bewohner mit Lichtern oder auf dunkeln, wohlbekannten Pfaden aus schneeigen Bergen an bereiften Wäldern vorbei und durch knarrende Obstgärten zu der Kirche eilen, aus der die feierlichen Töne kommen, und die aus der Mitte des in beeiste Bäume gehüllten Dorfes mit den langen beleuchteten Fenstern emporragt."
    Ich zähle 27 Adjektive, incl. der Substantivierungen wie "das Traurige". Sicher könnte man einige weglassen, aber hier erzeugen die Adjektive lebendige Bilder, sogar hörbar geworden wie "knarrende Obstgärten". Natürlich war hier ein Meister am Werk. Ich möchte mit diesem Beispiel eigentlich nur zeigen, dass man nicht generalisieren sollte. Man kann einen Text verhunzen oder, wie hier, zum Leben erwecken.