Großbritannien in nicht allzu ferner Zukunft: Rund um das ganze
Land zieht sich eine Mauer aus Beton – 10.000 Kilometer lang, fünf Meter hoch
und an der Krone drei Meter breit. Alle drei Kilometer steht ein Wachhaus für
die Wachmannschaften, insgesamt mehr als 3000. Weiter gibt es in regelmäßigen
Abständen Kasernen, Krankenstuben, Hubschrauberlandeplätze, Wassertürme, Vorratslager,
Munitionslager, Fahrzeughangars und Rampen, um Boote zu Wasser zu lassen. Und natürlich
Treppen, Millionen rutschiger Treppen, auf denen die Mannschaften, die die
Mauer Tag und Nacht bewachen, auf und abgehen. Ach ja die Mannschaften: eigentlich
kann man sie gar nicht so nennen, denn sie bestehen aus Männern und Frauen. 300.000
Soldaten und Soldatinnen sind jeden Tag das ganze Jahr lang an der Mauer im
Einsatz, exakt 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen, und alles geschieht
ganz ohne Diskriminierung, denn die Frauen wachen, kämpfen und sterben genauso
wie die Männer. Sie alle zusammen machen die "Defender" aus, die
Verteidiger, die die Mauer gegen die die "Others" schützen, die
Anderen.
Diese Anderen sind in der Hauptsache Afrikaner, gegen deren
Eindringen sich Großbritannien nach einer globalen Katastrophe, die in diesem
Roman immer nur "The Change", der Wechsel, genannt wird, schützen
will. Dieser mysteriöse Wechsel, der sich vor einem Menschenleben ereignet hat
und von der jungen Generation im Roman den Alten angelastet wird, stellt ein Ansteigen
des Meeresspiegels aufgrund einer Umweltkatastrophe dar, wodurch tiefergelegene
Länder reihenweise überflutet wurden. Was genau den Wechsel ausgelöst hat, wird
nie erklärt, aber es ist klar, daß dieser die Welt in zwei Gruppen aufgeteilt
hat: die Staaten, deren Landmasse über dem gestiegenen Meeresspiegel liegt, und
die anderen, deren Länder untergegangen sind, und die nun mit Schiffen und
Flößen auf den Meeren herumfahren und mit aller Macht darum kämpfen, in die
Länder, die es noch gibt, einzudringen. Wenn es sein muß mit Gewalt.
Der Wechsel und die Abschottung Großbritanniens gegen die
Anderen haben das Land in eine Diktatur verwandelt, in der eine vage als "Elite"
bezeichnete Oberschicht den Rest der Gesellschaft in einem permanenten
Kriegszustand regiert. In diese Elite wird man nicht demokratisch hineingewählt,
sondern nach Ausbildung und Leistung berufen.
Das ist der Hintergrund für den neuen Roman des britischen
Schriftstellers John Lanchester. Das Ganze beginnt damit, daß der junge Joseph
Kavanagh seine zweijährige Dienstzeit als Defender auf der Mauer antritt. Natürlich:
auf der Mauer ist es kalt, der Dienst, der daraus besteht, jeden Tag mit
geschultertem Gewehr zwölf Stunden lang auf das graue Meer hinauszuschauen, ist
langweilig, das Essen schlecht und der Sergeant wortkarg. Doch der junge Kavanagh kommt mit all dem
einigermaßen zurecht, weil jeder Brite Dienst auf der Mauer tun muß und
Kavanagh ohnehin nicht weiß, was er sonst mit seinem Leben anfangen soll.
Und damit sind wir beim ersten Problems des Romans: der
uninteressanten Hauptfigur, die nichts kann, nichts will, nichts liebt, nichts haßt
und auf 275 Seiten weder einen klugen Satz sagt noch einen interessanten
Gedanken denkt. Mit den Nebenfiguren ist es nicht besser bestellt. Da haben wir
einen knorrigen Sergeant, einen verschwiegenen Hauptmann, der streng nach Dienstvorschrift
lebt, sich im nachhinein aber als Verräter herausstellt, einige hausbackene
Verteidigerinnen, die unter ihren dicken Klamotten als Frauen nicht erkennbar
sind, und noch mehr junge Männer, die auch nicht wissen, was sie wollen, und
über die Mauer, die Welt, die Anderen und die ganze Misere, in der England sich
befindet, nichts zu sagen haben. Schließlich gibt es da noch Hifa, die spätere
Geliebte des Antihelden, die genauso gewöhnlich redet, denkt und handelt wie
sie aussieht.
Voltaire hat einmal gesagt: Jede Art zu schreiben ist erlaubt,
nur die langweilige nicht. Diesen coolen Spruch sollte sich John Lanchester für
seinen nächsten Roman unbedingt merken, denn Die Mauer ist langweilig. Das
liegt noch nicht einmal so sehr an der unwahrscheinlichen Handlung, zu der wir
noch kommen, sondern an all diesen blassen und konturlosen Figuren. Das klassische
Rezept für das Verfassen eines guten Romans lautete immer: Nimm eine Figur, die
etwas von der Welt will und lieber zugrunde geht, als es nicht zu bekommen. Alle
großen Romane haben solche Protagonisten: Werther will Lotte bekommen, der
grüne Heinrich will Maler werden, Anna Karenina will aus einer lieblosen Ehe
ausbrechen, Ahab will den weißen Waal killen, Gatsby möchte Daisy
zurückgewinnen, Josef K. will wissen, warum er angeklagt wurde, Franz Biberkopf
will frei sein, Winston Smith will durch die Liebe zu Julia dem System
entkommen, Stiller nicht er selbst sein und Harry Potter Lord Voldemort
besiegen.
Gute Romane brauchen starke Hauptfiguren. Und Nebenfiguren,
die dem Willen und Wollen der Hauptfiguren Widerstand leisten, sie quälen,
verfolgen, unterdrücken, ihnen Prügel zwischen die Beine werfen, ihnen
auflauern, schaden und sie manchmal sogar umbringen. John Lanchasters Josef
Kavanagh jedoch will gar nichts außer dreimal am Tag einen Müsliriegel mit
einem Becher Tee und am Abend ein warmes Bett. Ja, er will noch nicht einmal
Sex mit Hifa - da muß die ihn erst draufbringen.
Nun gibt es aber andere Romane, die ebenfalls über ein
ziemlich durchschnittliches Personal verfügen, dieses Manko aber durch eine
spannende Handlung wieder wettmachen. Viele Krimis, Thriller und Sciencefiction-Romane
fallen in diese Kategorie. Die Thriller John le Carrés sind nie mit überzeugenden
Charakteren bevölkert, Stanislaw Lems Raumfahrer sind reine Schablonen, und so unterschiedliche
Autoren wie Agatha Christie, Daphne du Maurier, Dan Brown, Stieg Larsson und Tom
Clancy haben nie auch nur eine psychologisch glaubhafte Romanfigur zustande
gebracht. Aber dafür haben sie etwas anderes: Eine mitreißende Handlung, die oft
in einem nervenzerreißenden Höhepunkt kulminiert und in einem überraschenden
Schluß endet.
Die Mauer kann damit leider auch nicht aufwarten. Nachdem die
Defender eine erste Attacke der Anderen zurückgeschlagen haben, kommt irgendwann
endlich der große Angriff auf die Mauer, auf den ihre Bewacher sich seit Jahren
vorbereiten. Der fällt schlimmer aus als der erste, aber nur deshalb, weil der
bislang übereifrige Hauptmann sich als ein früherer Anderer erweist, der die Aggressoren
unterstützt. Doch bald sind sie überwältigt, und an der Mauer herrscht wieder
Ruhe. Außer für Kavanagh, seine Freundin Hifa und einer Handvoll anderer
Armleuchter, die beim Kampf gegen die Anderen aus Sicht nie genannter
Vorgesetzter versagt haben, weshalb sie ohne Gericht und Urteil in der Nordsee in
einem Boot auf Gedeih und Verderb ausgesetzt werden. Nun müssen sie noch ein Abenteuer
im Kampf gegen Piraten bestehen, aber die Geschichte wird nun zunehmend weniger
plausibel, bis alles in einem kläglichen Ende verlischt.
Das ist schade, denn John Lanchester schreibt eine
sachlich-kühle, präzise Prosa, wie man sie aus den Romanen George Orwells oder Eric
Amblers kennt. Der Autor ist hier eindeutig an einem großen Thema dran, das,
spannend erzählt, sehr viel hergeben würde. Der Klimawandel – egal, ob er
stattfindet oder nicht – ist jeden Tag in den Nachrichten, Großbritannien
laboriert am Brexit wie an einer schweren Krankheit, und Donald Trump will
zwischen den USA und Mexiko eine Mauer errichten. Ein Autor mit Fantasie,
Wirklichkeitssinn und einer gehörigen Portion an Fabulierlust und literarischen
Fähigkeiten könnte mit diesem Stoff im Hinterkopf eine absolut fesselnde
Version unserer Zukunft entwerfen. John Chandler ist leider nicht dieser Autor.