Beiträge von Jürgen

    Zitat

    Original von Marvin


    Und vor allem will ich wissen, was TWJ uns sonst noch dazu zu sagen hätte... 8-)


    Also ich vertrete die Auffassung, dass man sich in der Analyse nichts vorsagen lassen muss, sondern seine eigenen Gedanken machen und zur Diskussion stellen sollte.

    Hallo alle.


    Zitat

    Original von Anja
    ich glaube, man kann sich dem Text am ehesten über seine Symbole nähern.


    Hier möchte ich gern den Vorschlag machen, dass man sich dem Text nicht (wie im "schlechten" Literaturunterricht) mit theoretischen Modellen nähert, um dann zu prüfen, was der Text hergibt (so liest doch auch kein Mensch), sondern dass man umgekehrt von den unmittelbaren Wirkungen ausgeht, die der Text bei einem erzeugt. Nachdem man sich die Wirkung ausgesucht hat, die einen am stärksten beeindruckt, kann man endlich im zweiten Schritt auf literaturwissenschaftliche Modelle und Begriffe zurückgreifen, die einem die Wirkungen zu erklären vermögen. Man stellt sich also zunächst ganz dumm und guckt, welche Gefühle, Irritationen, Begeisterungsstürme, aber auch welches Unverständnis usw. der Text bei einem hervorruft.
    Beispiel. Ich nehme mal den Anfang. Da wundere ich mich, dass ich überhaupt über die erste Seite hinauslese, obwohl gar nicht im üblichen Sinne erzählt wird. Da werden auf geradezu positivistische Weise isolierte Ereignisse und Daten peinlich genau gennannt, aber auf eine zusammenhängende Darstellung der Ereignisse wird verzichtet. Es scheinen flüchtig gelesene Zeilen aus einem Zeitungsbericht oder aufgeschnappte Sätze eines belauschten Gespräches zu sein, so dass der Leser den Bruchstücken selber einen Sinn zuweisen muss. Also: Der Leser muss die Erzählerposition einnehmen und in seinem Kopf den Anfang der Geschichte selbst erzählen.
    Wie bringt der "faule" Erzähler mich dazu, weiterzulesen?
    Diese Frage stünde für mich am Anfang der Analyse der Reitergeschichte.
    Viele Grüße
    Jürgen

    Liebe Anja,
    ich hab's!
    An der Kasse der Kunst- und Buchhandlung Hübener entsponn sich der klassische Dialog:
    "Soll ich es als Geschenk einpacken?"
    "Nein danke, ich lese es gleich hier."
    Und tatsächlich, kaum zu Hause, hatte ich bereits 50 Seiten gelesen.
    Also, ich muss jetzt Schluss machen, Amor ruft.
    "Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe
    Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom."
    Viele Grüße
    Jürgen

    Zitat

    Original von Horst Dieter
    Von der derzeitigen und den ehemaligen Mitgliedern des 42er Autoren e.V. ist mir keines bekannt, das Mitglied werden musste. Alle haben das freiwillig gemacht. Alle!


    *fingerheb* Also, ich "musste" Mitglied werden, weil ich so gern am TAW teilnehmen wollte. Freiwillig hätte ich mich gar nicht getraut, mich vom AA grillen zu lassen.
    Und schon bin ich wieder
    weg.

    Zitat

    Original von siegfried


    Also mir hat "Die Vermessung der Welt" sehr gut gefallen. Das Buch ist witzig und sehr gut geschrieben. Der Autor des Artikels scheint ja Lesbarkeit als einen Makel zu empfinden.


    Lieber Siegfried,
    m.E. wendet der Autor sich gegen lesbare Bücher, die Literarizität vortäuschen, aber im Grunde nur "angenehm genießbar, verdaulich, schmerzfrei" sind, so dass sie dem Leser Lebensmöglichkeiten vorenthalten. Ihm schwebt wohl eine Lektüre vor, die (um eine Formulierung vom späten Lukács zu gebrauchen) nicht den ganzen Menschen, sondern den Menschen ganz ergreift. Beim Lesen soll der Leser bis ins Innerste erschüttert werden, so dass er aus eingefahrenen Wahrnehmungsmustern des Alltags ausbrechen kann. Dies gehört in der Tat zum Projekt Aufklärung, das bis in die Antike zurückreicht.
    Viele Grüße
    Jürgen

    Zitat

    Original von lametta
    Also eigentlich ist das Projekt Aufklärung kulturhistorisch doch abgeschlossen?
    Wir befinden uns in der Postmoderne. Wiederverzauberung ist vielleicht gerade angesagt?


    Wag ich jetzt mal in die Runde zu werfen...in der Hoffnung, das auf einen meiner Beiträge mal eingegangen wird...wenn auch kritisch...will doch auch lernen.


    Hallo Lametta,
    ich bin der Auffassung, dass das Projekt der Aufklärung, d.h. der Prozess der Selbstbefreiung des Individuums aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, noch nicht abgeschlossen ist, er auch gar nicht abgeschlossen werden darf, weil die Konseqenzen für uns unerträglich wären: Wenn wir unser Zusammenleben nicht auf unserer Autonomie begründeten, müssten wir uns aus Furcht vor einem gegenseitigen Abschlachten unter die Kuratel eines Anführers stellen und an die Weltanschauung der Ungleichheit (z.B. Religionen) glauben.
    Als Hegelianer aber weiß ich, dass es ein solches Zurück nicht geben kann Pünktchen Pünktchen Pünktchen.
    Viele Grüße
    Jürgen


    Tja, lieber Horst-Dieter und Siegfried,
    bin halt n unverbesserlicher Hegelianer.


    Viele Grüße
    Jürgen

    Zitat

    Original von siegfried


    Ein großes Problem ist das nur für jemanden, der immer noch vom Projekt Aufklärung träumt.


    Hallo Siegfried,
    aber wir sind beide doch wohl froh, dass es noch Institutionen gibt, die vom Projekt der Aufklärung nicht nur träumen, sondern es auch tagtäglich realisieren, wie z.B. unser Rechtssystem, das an dem Ideal der Autonomie und Selbstbestimmung des Individuums festhält; es verzichtet grundsätzlich (ob praktisch ist eine andere Frage) auf den Einsatz der Folter und verfolgt grundsätzlich (z. B. mit dem Strafvollzug) aufgeklärte Erziehungsideale.
    Ich meine, wenn der Rechtsstaat am Projekt Aufklärung weiterarbeitet, können wir (angehenden) Künstler das auch.
    Viele Grüße
    Jürgen


    edit: RS-Fehler

    Zitat

    Original von siegfried


    Ich lese in dem Artikel noch unterschwellig etwas anderes und das ist vielleicht der eigentliche Knackpunkt: Hier wird doch v.a. beklagt, dass ein Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit verloren geht. Die öffentliche Meinungsbildung erfolgt nicht mehr durch eine Art Bildungsbürgertum, die "gute", anspruchsvolle Werke zum Maßstab setzt, sondern durch ein mediales Event-Proletariat mit Casting- und Top-Ten-Fetischismus.


    Darüber hinaus (dass die "Diskurskartelle" die Maßstäbe setzen) benennt der Autor aber die Gefahr, dass Schriftsteller beginnen, hinter diesen Maßstäben herzurennen: Sie schreiben marktkonform, für die "Kulturindustrie"; nota bene: Sie geben vor "hohe" Literatur zu schreiben, dabei produzieren sie aber nur "Unterhaltung im Gewande der Literatur (...) - gut gemacht, klug arrangiert, technisch durchaus auf der Höhe der Zeit, angenehm genießbar, verdaulich, schmerzfrei". Anscheinend bezieht sich der Autor dabei auf Kehlmanns "Vermessung der Welt" und nicht auf Wallace oder Bolano.
    Diese der Kulturindustrie angepasste "Literatur" engt die Wahrnehmung des Lesers radikal ein und zerstört somit den kulturellen Raum - d.h. das Individuum entmündigt sich beim Lesen dieser hochgetunten Bücher selbst.


    Viele Grüße
    Jürgen

    Zitat

    Original von Tom


    ...
    Ich-Perspektive und Präsens sind nicht unkompliziert (...). Reflektierendes Erzählen (bezogen auf die Situation, von der gerade erzählt wird) ist so gut wie unmöglich, die Zeitschiene bewegt sich mit der Erzählung, es gibt nur das Jetzt und die Vergangenheit aus Sicht des Erzählers und der Erzählung. Das Miterleben ist unmittelbar ...


    Ein Autor hat das präsentische Icherzählen ohne Reflexion geradezu auf die Spitze getrieben; ich nehme mal den dritten Teil des Red Riding Quartetts heraus:
    David Peace: 1980

    ASIN/ISBN: 978-3453675285

    Dies ist ein Thriller, bei dem der Erzähler darauf verzichtet, Denken und Fühlen der Hauptperson Peter Hunter darzustellen. Hunter, der an der Fahndung nach dem Yorkshire Ripper beteiligt ist, leidet unter manisch wiederkehrenden angstbesetzten Vorstellungen, die der Erzähler aber nur in ihren körperlichen Auswirkungen beschreibt (Schlaflosigkeit, Schweißausbruch etc.). Dies hat zur Folge, dass dem Leser die Hauptperson, aus deren Sicht die Jagd nach dem Ripper erzählt wird, letztlich ein Fremder bleibt. Der Leser muss selbst ermitteln, welche Schlussfolgerungen die Hauptperson zieht und von welchen Gefühlen sie gerade beherrscht wird.
    Hier liegt also kein selbstbewusster, sondern eine Art unwissender Ich-Erzähler vor, ein subjektiver Protokollant der äußeren Ereignisse.
    Viele Grüße
    Jürgen

    Zitat

    Original von Margot
    Hallo Topi


    Das mit dem 'Eigen' hat sich ja bereits geklärt. Ich würde den Satz auch so stehen lassen ... ich finde ihn nämlich witzig. Da blitzt Humor durch und zeigt schon mal eine gewisse Grundhaltung/einstellung des Erzählers/Protagonisten.
    Und die Sprache ist - für Historisches - durchaus angemessen und mE nicht gestelzt ... daher passt auch 'das Eigen' gut hinein.


    Gruss
    Margot


    Hallo.
    Ich möchte die Formulierung des einzelnen Satzes noch einmal aufgreifen, um eine allgemeine Frage zu stellen.
    "Sein Eigen nennen" ist laut Duden eine gehobene Ausdrucksweise, die Distanz und vielleicht auch Witz schafft. Aber sie ist dadurch noch keine historisch verbürgte Ausdrucksweise. Laut Grimm und Adelung ist sie vor 200 Jahren (zumindest schriftlich) nicht oder kaum benutzt worden. Damals hätte man in Anlehnung an Luther wohl einfach gesagt: Sein eigenes Pferd. Bei "sein Eigen nennen" höre ich den ironischen Grundton mit, indem der Erzähler heute versucht die gehobene Ausdrucksweise aus dem Jahr 1900 nachzuahmen. M.E. müsste der Erzähler, wenn er die Sprache von 1800 nachahmt, sich elegant und klar wie z.B. Wieland oder Lessing ausdrücken.
    Jetzt stellt sich die allgemeine Frage für jeden historischen Roman: Ist es zulässig, durch eine historisch nicht verbürgte Ausdrucksweise einen historisierenden Eindruck beim Leser zu erzeugen?
    Grüße Jürgen