Beiträge von Jürgen

    Der "Maria Stuart"-Roman (1934) von Stefan Zweig besteht fast nur aus Tell:

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    Die Leidenschaft Maria Stuarts zu Bothwell gehört zu den denkwürdigsten der Geschichte; kaum die antiken und sprichwörtlich gewordenen übertreffen sie an Wildheit und Wucht. Wie eine jähe Stichflamme schießt sie empor, bis in die pupurnen Zonen der Ekstase, bis in die nachtdunklen des Verbrechens schleudert sie ihre rasende Glut. (...) Leidenschaften wie Krankheiten kann man weder anklagen noch entschuldigen: man kann sie nur beschreiben mit jenem immer neuen Erstaunen, dem ein leises Grauen sich beimengt vor der Urkraft des Elementaren, das manchmal in der Natur, manchmal in einem Menschen gewitterhaft zum Ausbruch gelangt.

    So geht es auf über 300 Seiten: Gefühle, Seelenzustände, Befindlichkeiten etc. werden von außen beschrieben, sie werden nicht als sie selbst, in einer Show gezeigt, sondern gefiltert durch das Milchglas des Erzählens. Entscheidend ist nicht die Show-statt-Tell-Regel, die dieses Erzählen tatsächlich "bricht", sondern die tieferliegende Erzählgesetzmäßigkeit, dass modernes (nachklassisches) Erzählen ein Erzählen der radikalen Subjektivität ist: In "Maria Stuart" finden wir die Anfänge dessen, was wir heute etwas vereinfachend "personalen Erzähler" nennen, erkennbar daran, dass aus der Perspektive eines Erzählsubjekts erzählt wird, das sein "leises Grauen" vor den erzählten Leidenschaften zeigt, und damit, nun ja, gewissermaßen auch seine Show abzieht. Das heißt also, dass die Show-don't-tell-Regel 1. nicht schon "immer" galt, sondern erst in der Moderne, 2. nicht beliebig gebrochen werden kann, sondern die Regel des personalen Erzählens voraussetzt.

    Denn natürlich gelten auch für die Kunst Regeln :)

    Als Begriff gibt's es wohl erst seit den 90 Jahren. Im Standardwerk von Peter Eisenmann (Das Wort. Grundriss der deutschen Grammatik, 3. Auflage, 2006) steht er nicht, im Grammatik-Duden (5. Auflage, 1995) heißt es, dass besonders bei Berufsbezeichnungen das Maskulinum

    Zitat


    neutralisierend bzw. verallgemeinernd ("generisch")

    (S. 196)

    ist. An den Gänsefüßchen wird schon deutlich, es ist kein Fachbegriff. Aber die Bedeutung wird eigentlich klar (was einige wohl abwertend deuten): Das Maskulinum drückt eine Verallgemeinerung aus. Um etwas auszuholen: Genus hat nichts mit dem, was wir herkömmlich unter "Geschlecht" verstehen, zu tun; es bedeutet einfach "Gattung" oder "Art", wie wir es zum Beispiel aus der biologischen Systematik kennen: Der Homo sapiens bildet eine Art der Gattung Homo. Übertragen auf die Grammatik bilden die Nomen / Substantive eine Gattung, die drei Arten, eben drei Genera haben: Maskulinum, Femininum und Neutrum. Spiegelbildlich bilden die Verben auch eine Gattung mit zwei Arten, die sogenannten "Genera Verbi": Aktiv und Passiv. (Ich habe in einem Blog-Beitrag für die Anerkennung auch eines dritten Genus verbi plädiert: des aus der altgriechischen Grammatik bekannten Medium.)

    "Genus" zielt also zunächst überhaupt nicht auf ein Geschlechtsteil, ebenso wie "Geschlecht" in einem älteren Sinne, zum Beispiel heute noch im Wort "Menschengeschlecht", eine verallgemeinernde Bedeutung hat, die alle Menschen umfasst. (In Paranthese: Vielleicht ist es gerade das generische Maskulinum, das heißt übertragen auf andere Sprachen: die verallgemeinernde Funktion von Worten, die es uns ermöglicht hat, die Gleichheit der Menschenrechte zu denken.)

    Trotzdem hat die assoziativ-spontane Verbindung von Genus und menschlichem Geschlechtsteil auch eine Berechtigung. Wenn wir einen weiblichen Arzt ansprechen, dann benennen wir ihn auch, ohne weiter zu überlegen, Ärztin. Dieses Wort ist aus einer sozusagen spontanen Genderfizierung hervorgegangen, und zwar schon im frühen Mittelalter (aus ahd. arzat, ursprünglich aus dem griech. archiatros: mhd arzatinne). Schon die Sprecherinnen und Sprecher unserer Vorgängersprachen haben auf diese feminine Form Wert gelegt, so dass sie seit fast tausend Jahren zu unserem Wortschatz gehört. Somit erweist sich die heutige Genderaktivität als überzogene und ins Extrem getriebene Bestrebung, die in unserer Sprache schon angelegt ist.

    Das generische Maskulinum hat ja auch seinen guten Sinn. Wenn ich meine Ärztin persönlich und konkret benennen will, sage ich "Ärztin", wenn ich nur auf ihre Funktion abhebe und meine Kommunikation von unwichtigen Detailinformationen entlasten will, sage ich spontan: Heute muss ich noch zum Schuster und zum Arzt.

    Deine Schlussfolgerung, lieber Jürgen, kann ich nicht nachvollziehen. Ich glaube nicht, dass es hier um eine Minderheit geht, die sich eine gendergerechte Sprache wünscht. Es geht vielmehr um die bisherigen Versuche, die dafür nicht tauglich sind bzw. zu viele Nachteile auf anderen Gebieten mit sich bringt.

    Ja, liebe Cordula, gerade diese dokumentierten "bisherigen Versuche" sind von vornherein kritisch zu sehen, da sie Normen für eine gendergerechte Sprache aufstellen (und mit staatlicher Hilfe durchzusetzen versuchen), ohne abzuwarten, bis sich die Veränderungen der Sprache von selbst (und durch die Mehrheit der Sprecher) ihren Weg gesucht haben.

    Für solche Versuche, die Sprache sozusagen auf administrativen Wege "verbessern" zu wollen, hatten schon die Grimms nur Spott übrig, aber egal.

    Ich will jetzt viel lieber darauf hinweisen, dass dieses Bedürfnis nach einer Gendersensibilität nicht von außen an die Sprache herangetragen werden muss, sondern dass es schon Teil der deutschen Sprache ist.

    Folgende immer wieder aufgestellte Behauptung ist falsch:

    Zitat

    Berufsbezeichnungen waren bis in die 1990er Jahre hinein überwiegend maskulin (...)

    https://gb.uni-koeln.de/e2106/…Poster_Webausgabe_ger.pdf

    Im Folgenden habe ich den Großen Duden von 1934 herangezogen und alle Wörter notiert, die mit spezieller weiblicher Endung (vor allem -in) aufgeführt sind. Diese Femina waren also bereits vor knapp 90 Jahren Bestandteile des deutschen Wortschatzes (und nicht nur mögliche grammatische Formen):

    Dies sind gut 140 Wörter, darunter natürlich auch Berufsbezeichnungen, die zeigen, dass der normale Sprachgebrauch längst dabei ist, Frauen "sichtbar" zu machen. Ohne staatlichen Eingriff und ohne, dass es uns so recht bewusst geworden ist.

    Viele Grüße

    Jürgen

    Zitat

    Für den Hochschulbereich erscheint fraglich, ob die Forderung einer „gegenderten Schreibung“ in systematischer Abweichung vom Amtlichen Regelwerk der deutschen Rechtschreibung für schriftliche Leistungen der Studierenden und die Berücksichtigung „gegenderter Schreibung“ bei deren Bewertung durch Lehrende von der Wissenschaftsfreiheit der Lehrenden und der Hochschulen gedeckt ist.

    U.a. daran zeigt sich, dass das sprachliche Gendern kein Ausdruck eines "natürlichen" Sprachwandels, sondern einer von oben durchgesetzten Sprachreform einer Minderheit ist.

    Ich habe mir den Spaß gemacht und im Rechtschreibduden nachgeguckt, wie sich unser Wortschatz in den letzten 90 Jahren entwickelt hat. Als Leitwort habe ich mir "Baby" ausgesucht. Im voraus sage ich schon mal, dass im Jahr 2000 eine dramatische Entwicklung einsetzt.

    1929 bis 1956 ist nur das Wort "Baby" aufgenommen.

    1961 bis 1973 kommen zwei Wörter hinzu: Babysitter und Babywäsche.

    1986 sind es sechs: hinzu kommen Babyjahr, Babynahrung, babysitten, Babysitter, Babyspeck. (Aber "Babywäsche" ist weg, so ist das Wortleben)

    2000 sind es elf; hinzu kommen u.a. Babyboom, -boomer und die Babysitterin. Der Sprachnutzer handelte also schon vorzeiten gendersensibel!

    2006 sind es 19 Wörter: hier spiegelt sich bundesrepublikanische Geschichte wider: u.a. Babybauch, Babybäuchlein, Babyfon, Babyjahr, Babyklappe, Babykorb, Babynahrung, Babypause, Babypuppe, Babystrich, Babyzelle

    2011 sind es 23, Babyblues, Babyboomerin (!), Babyleiche und babyleicht werden neu aufgenommen. Bemerkenswert: zumindest in der Umgangsprache wird die Konjugation des "babysitten" festgestellt (sie babysittet, hat babygesittet oder gebabysittet)

    2019 sind es 28 Wörter, hier alle: Baby, Babyaktie, Babybauch, Babybäuchlein, Babyblues, Babyboom, Babyboomer, Babyboomerin, Babyfon, Babyglück, Babyjahr, Babyklappe, Babykleidung, Babykorb, Babyleiche, babyleicht, Babymassage, Babynahrung, Babypause, Babypopo, Babypuppe, Babyschwimmen, babysitten (ugs: sie babysittet, hat babygesittet oder gebabysittet), Babysitter, Babysitterin, Babyspeck, Babystrich, Babyzelle

    Die Anzahl der Wörter und Kombinationen mit "Baby" hat sich seit 1996 vervierfacht, seit 1961 fast verzehnfacht. Dieser Wortboom geschieht vor allem auf dem Weg der Komposition von "Baby" mit Worten nichtenglischer Herkunft. Wenn man dieses Ergebnis mal verallgemeinert, kann man sagen, dass sich unser Wortschatz in den letzten Jahren vervielfacht hat, ohne dass es uns so recht bewusst geworden ist.

    Die beinahe durch die Bank falsche Verwendung des Adjektivs "virtuell". Eine "virtuelle Konferenz" ist nicht wirklich virtuell, sondern tatsächlich und real. Virtualität und die Verwendung digitaler Medien sind nicht das gleiche.

    Adjektive drücken nicht nur Eigenschaften eines Dings aus, sondern auch die Herkunft, den Stoff etc. So hat das "väterliche Haus" keine väterlichen Eigenschaften wie ein zweiter Vater, sondern es ist natürlich im Besitz des Vaters. Auch der "französische Wein" stammt aus Frankreich und hat keinen französischen Pass. Bei "virtueller Konferenz" erleben wir vielleicht gerade, dass aus einem Eigenschaftswort ("virtuelle Welt") ein Herkunftswort wird: Die Konferenz findet im virtuellen Raum statt.

    Alle Achtung, da wollte ich gerade aufbegehren und schreiben, solche Wörter wie "Beherbungsverbot" (z.B.) gibts längst. Tatsächlich finde ich die nicht im Wörterbuch der Grimms noch im Duden. Vielleicht müsste man letzteren aus der Zeit der 30er und 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mal prüfen, könnte mir denken, dass es das da drin schon gab, aber im aktuellen "vor Corona" war er nicht vorhanden. Gilt auch für ein paar andere, die ich überprüft habe. Endlich bin ich bei "Epizentrum" fündig geworden. Das Wort ist nicht neu, das gibt es schon lange. :nick

    "Beherbergung" steht im Duden schon 1929, fehlt allerdings im Sprachbrockhaus 1935. Die Kombi "Beherbergungsverbot" ist somit noch nicht im allgemeinen Wortschatz gewesen, was nicht heißt, dass es im Einzelfall schon mal gefallen ist.

    Beim "Epizentrum" hast du vielleicht den Wortwitz nicht verstanden oder ich deinen nicht ;)

    Interessant (und vorher auch bekannt gewesen) ist, wie produktiv die Nomen-Komposita sind, die von einigen doch so verpönt sind.:)

    Ich habe mir gerade die Geschichte "Q'topia" von Frank Schulz angehört, die an Beschreibungen von Details eines Bachlaufs geradezu überquillt. Die Aufgaben dieser Beschreibungen gehen über die Mobilisierung der Leserfantasie weit hinaus. Sie sorgen für den schulztypischen Erzählwitz, die Sprachmelodie, aber auch auf den Verweis auf andere Zusammenhänge, zum Beispiel bekommt anhand dieser Geschichte der Begriff "konkrete Utopie" eine neue Bedeutung. Aber (für mich großes Aber) mir fehlt etwas der allegorische Charakter dieser Details, der Verweis auf die "Geworfenheit" der menschlichen Existenz etc. Kann natürlich auch sein, dass ich vor lauter Binsen und Röhricht den Bruch nicht seh :)

    Ich habe mich in der letzten Zeit immer öfter gefragt, wieso meine Eltern und Großeltern nie etwas über die Spanische Grippe erzählt haben, diese fürchterliche Pandemie, die ziemlich genau vor hundert Jahren noch während des Ersten Weltkriegs ausbrach und Millionen Opfer forderte. Geschichten von den Weltkriegen wurden erzählt, wobei die beiden immer als der "Krieg" bezeichnet wurden, aber es war immer klar, welcher von beiden gerade gemeint war. Aber die Pandemie, die wir heute "Spanische Grippe" nennen und an der bestimmt auch Verwandte gestorben sind, scheint in den Erinnerungen der Familie nicht zu existieren.

    Nun bin ich zufällig auf eine Textstelle gestoßen, die vielleicht etwas Licht in die Sache bringt. In einer fabelartigen Geschichte, die der Philosoph Ernst Bloch in seinen "Spuren" erzählt, sucht ein Vater seine Tochter, die er in den Wirren am Ende des Ersten Weltkriegs aus den Augen verloren hat. Monate oder Jahre später erhielt er die Nachricht, dass sie in München als Schauspielerin lebt. Als er in München eintraf, erfuhr er, "daß die junge Schauspielerin vor einem Monat an der Grippe gestorben sei".

    Zunächst scheint die Geschichte eine scheinbar ungewöhnliche und unerhörte Wendung zu nehmen, denn es ist normaler Weise nicht üblich, dass gerade junge Menschen an der "Grippe" sterben, aber der zeitgenössische Leser weiß, da die Geschichte in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg spielt und ein junger Mensch (die am stärksten betroffene Bevölkerungsgruppe) stirbt, dass es sich höchstwahrscheinlich um die "Spanische Grippe" handelt. Aber wieso nennt Bloch diese Krankheit mit dem Allerweltsnamen "Grippe", obwohl sie ja, wie damals doch jeder wissen musste, keine normale Grippe war?

    Es scheint doch so, dass auch Bloch, ein Philosoph von enzyklopädischer Bildung, keinen Begriff oder Namen, kein Wort für die Erscheinung "Pandemie" hatte.

    Heute scheint es anders zu sein: Damals hatten die Menschen einen Begriff von "Weltkrieg", weil diese Erscheinung sie nicht nur persönlich betraf, sondern auch in der Zeitung stand. Heute ist die aktuelle Pandemie bis zum Überdruss mediales Thema. Außerdem haben wir anhand des Mediums Internet und der Erfahrung mit Computer-Viren durchaus schon ein Wissen vorgeprägt bekommen, mit dem wir uns eine weltweite Ausbreitung von realen Viren vorstellen können. Jetzt haben wir den Namen "Pandemie" in unserem Wortschatz gespeichert, so dass wir die Gefahr auch erkennen können. Und es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass die sich selbst so genannten "Querdenker" die Pandemie gerade nur als "Grippe" sehen wollen.

    Ich drucke jede Seite mindestens zehn Mal aus und korrigiere auf dem Papier und beim Eintippen auf dem Bildschirm. Die endgültige Fassung hat mit der ersten nicht mehr viel zu tun. Die besten Ideen entstehen erst beim Überarbeiten, wenn der Flow einsetzt und ich, ohne zu überlegen, nur noch das aufschreibe, was sich mir diktiert.

    Hurra, es gibt hier auch Systemtheoretiker. Sprache als höhere Emergenzstufe, die über unsere Köpfe hinweg ein "Eigenleben" entwickelt.

    Nur bei der "Vervollkommnung" gehe ich nicht mit. Da halte ich es mehr mit solchen Theoretikern wie Maturana und Varela, die von "Evolutionärer Drift" (anstelle einer Bewegung auf ein Ziel hin) sprechen.

    OT: Das von mir vertretene dialektische System wäre eben auch teleologisch und zweckgerichtet zu verstehen. Das ist natürlich ein Punkt, den die analytische Philosophie ablehnt. Aber die Vervollkommnung (okay, etwas übertrieben formuliert) der Sprache besteht im Moment gerade darin, dass sie - ablesbar an der Wortschatzerweiterung - immer genauer in der Ausdrucksfähigkeit wird.

    fehlübertragenen Anglizismus

    So was gibt's eben nicht, jedes Fremdwort wird von der Empfängersprache verarbeitet, der Grammatik unterworfen, durchgenudelt und verwurstet. Wenn man die aufgenommenen Wörter wie Fabrik, Industrie, Telefon etc. etc. nimmt, dann haben die nicht mehr viel mit den Ursprungswörtern zu tun. Diese Anverwandlung ist der Normalfall. Wenn man diesen Vorgang in seiner Aktivität würdigt, dann liegt der Schluss nah, dass die Integration von Fremdwörtern ein Zeichen der Stärke und Lebendigkeit der Empfängersprache ist. Dies ist auch ein Vorgang, den die Sprache als System vollzieht, da greifen Mechanismen, die gehen nicht durch das Bewusstsein der Sprecher, deshalb ist auch die Lächerlichmachung von Sprechern, die die neuen Tendenzen der Sprache ausprobieren und letztlich in die Welt setzen, selbst eine lächerliche Attitüde. Die Sprachkritiker stellen die Wirklichkeit geradezu auf den Kopf: Nicht sie, sondern die "bildungsfernen" Schichten scheinen das Gespür für die Weiterentwicklung, und das heißt: Vervollkommnung unserer Sprache zu haben. Ich wiederhole das Beispiel: Mit sicheren Griff fischt sich die Mehrheit der Sprecher die Wörter mit lateinischen Wurzeln aus dem Englischen (dessen Wortschatz bekanntlich zu Zweidritteln aus altfranzösischen Wörtern besteht); schon aus diesem Herkunftsgrund ist der Begriff "Anglizismus" falsch, letztlich dient er so nur als Bezichtigungsbegriff.

    Aber ich glaube, es ist einfach schwierig, über Sprache zu diskutieren, weil sie uns so nah geht, und wir dabei in Bildern denken, die fest in uns verwurzelt sind. So ähnlich ist es ja auch bei der von den gebildeten Schichten zu verantwortenden "gendersensiblen" Sprachreform.

    Vielen Dank für die angeregte Diskussion, hat Spaß gemacht... Uuups: Spaß machen... geht denn das, kein Ding, kein Zustand, kein Gaspedal... :blume

    Aber auf meine These, dass "Sinn machen" den Prozess des Sinnaufbaus ausdrückt (wie es auch "Sinn ergeben" macht, aber dies mit finalem Akzent), wurde nicht ernsthaft eingegangen. Dass Deppen, die

    sich intellektuell bestenfalls knapp oberhalb der Armutsgrenze bewegen

    zur Verfeinerung unserer Sprache beitragen, kann einen schon zur Verzweiflung treiben. Aber vielleicht entwickelt sich die Sprache ja ganz anders, als Hänschen es sich so vorstellt (nämlich immanent, gemäß eigener Gesetzmäßigkeit: der Steigerung der Differenzierungsfähigkeit (=hat schon Jacob Grimm herausgefunden)). Wir würden uns vorsätzlich selbst verblöden und uns sogar unterhalb die intellektuelle Armutsgrenze katapultieren, wenn wir unsere Sprache auf den Stand von 1950 einfrören. :)

    Viele Grüße

    Jürgen

    Anglizismus

    Es gibt keine "Anglizismen", also eine Art "englische Wörter", die sich im Deutschen breitmachen, das ist pure Ideologie. "Shoppen" stammt ursprünglich aus dem Lateinischen, und zwar über das altfranz. eschoppe, das noch in unserem heutigen "Schuppen" steckt. Shoppen ist also wie jedes Fremdwort ein "Wort der deutschen Sprache" (Eisenberg), das der Schreibweise (Doppel-p); der Lautung und vor allem der deutschen Grammatik angepasst wird. Wir sagen eben "du shoppst" (statt du shop) wie wir "dem Shop" den Genus Maskulinum und den Kasus Dativ geben: So ist es kein englisches Wort mehr und folglich auch kein "Anglizismus".

    Hallo,

    in einem anderen Zusammenhang kam die Frage auf, was es mit der Wendung "es macht Sinn" auf sich hat. Ein Abstecher ins Internetz belehrt, "'Sinn machen' wird niemals Sinn ergeben". Und der unvermeidliche Max prägte das goldtene Wort: dies sei ein "primitiver Übersetzungsanglizismus" von "it makes sense".

    Das kennt man ja, wenn unserer Sprache was Neues einfällt, dann werden die Sprecher als dumm, faul und primitiv beleidigt, weil sie angeblich aus dem Englischen eine Wendung klauen, statt eine schon vorhandene deutsche zu benutzen.

    Aber "Sinn machen" macht durchaus Sinn, wenn man sich mal nüchtern darauf einlässt.

    Sich von anderen Sprachen beeinflussen zu lassen, ist nun keine spezielle Eigenart des Deutschen, das gilt natürlich auch für das Englische. Sinn / sense kommt von lat. sensus, machen / make von griech. mássein, was "Lehm kneten für den Häuserbau" heißt. Bildhaft übersetzt heißt "Sinn machen" also: es wird gerade der Sinn geknetet. Dies scheint ein neuer Bedeutungsaspekt zu sein. Während "es hat Sinn" bedeutet, dass ein Sinn schon fertig, vorhanden ist (hier dominiert der perfektive Bedeutungsaspekt), hebt "Sinn machen" gerade auf den Prozess des Sinnentstehens, des Knetens ab, kurz bevor er ganz fertig ist (hier dominiert der durative Aspekt). Die Wendung "Sinn ergeben" scheint zwischen beiden Aspekten zu schweben, jedoch wird dabei der Prozess vom Ende, vom Ergebnis ("ergeben") her akzentuiert. Simsalabim: so füllt also "Sinn machen" gerade eine Bedeutungslücke in unserem Wortschatz, die sonst nur umständlich umschrieben werden könnte.

    Ob nun diese Wendung wirklich aus dem Englischen abgeguckt wurde? Erstens: na und? ist das schlimm? Zweitens sind das Deutsche und das Englische so sehr miteinander versippt und verschwägert, dass es auf solchen Kinderkram auch nicht mehr ankommt. Drittens: Vielleicht sind diese Wendungen in beiden Sprachen auch unabhängig von einander, aus der jeweils eigenen Sprachlogik entstanden, um gerade das Prozessuale auszudrücken, womit die indogermanischen Sprachen, die immer um ein Ding, das Substantiv, kreisen, so ihre Schwierigkeiten haben. Insofern hat "Sinn machen" sogar eine welteröffnende Dimension, als sie uns keine fix und fertige Welt präsentiert, die uns überwältigt, sondern eine Welt, die sich im Fluss befindet und in der der Sinn erst noch geknetet wird.

    Hi Ben,

    Kafkas Werke sind ebenso alt, aber stilistisch heute noch (für mich) brillant. Also das ist kein Argument. Wer Schwulst noch als Maßstab propagiert, hat entweder keine Ahnung, oder er plappert nur nach. Mich dünkt, das ist eine landestypische Eigenschaft, weil er als gesichert gilt in der Literaturwelt, ist man vermeintlich unangreifbar. Ich sage, selbst denken, lesen, Hirn einschalten.

    Dieses Zauberberg-Zitat erscheint "schwülstig", weil der "Schwulst" die Personen charakterisieren soll, die mit ihrem von der Wirklichkeit abgehobenen Geschwätz in der Anstalt auf dem Berg im Begriff sind, in den Ersten Weltkrieg zu schlittern, das heißt, die trotz ihrer Bildung und vorgeblichen Zivilisiertheit mit einem Male der Barbarei verfallen. Hier wird ein Bürgertum charakterisiert, das wenige Jahre später halb Europa massakrieren und in Schutt und Asche legen wird. Insofern ist es nachvollziehbar, den "Schwulst" (der eigentlich ironisch wirken soll) abstoßend zu finden.

    Den Thomas Mann Kult werde ich nie verstehen, der muss einer besonders gründlichen Gehirnwäsche des deutschen Bildungssystems obliegen. Man stelle sich vor, sowas lieferte einer in der BT- Runde ab:

    Ich nenne das die Sprache der Weimarer Republik, die uns in der Zeit des Nationalsozialismus ausgetrieben wurde. Es gab in der Bundesrepublik noch Autoren, die über die Emigration hinaus an dieser Sprache festhielten, wie zum Beispiel (wenn ich noch mal Werbung für den 42er-Blog machen darf:) Peter Weiss.

    Ob eine besonders gründliche Gehirnwäsche des deutschen Bildungssystem ausreicht, die Erinnerung an diese (etwas gemein gesagt: ) "Bügelfaltenprosa" (Alfred Döblin) wachzuhalten, bezweifle ich. Wenn es keine Autoren mehr gibt, die mit ähnlich feiner Ironie schreiben, gibt es bald auch keine Leser mehr, die Vergnügen daran finden. Ein Teufelskreis.

    Aber wie Thomas Mann kann man meines Erachtens nur schreiben, wenn man einen entsprechenden Freundes- und Familienkreis hat, in dem auch so gesprochen und diskutiert wird.

    Ich lerne von meiner Nachbarschaft. Meine Prosa orientiert sich am neuesten Stand der Sprache aus meinem Stadtteil.