Beiträge von Michael Höfler

    Interessante Anmerkungen. Ruht bei mir schon eine Weile auf dem Nachttisch, aber weiter unten im Stapel; ich war zuletzt eher enttäuscht von Boyles Romanen, die zwar stilistisch und dramaturgisch immer noch perfekter werden, zugleich aber auch immer routinierter, einander ähnlicher und monothematischer (Mensch & Natur). Vielleicht rücke ich "Blue Skies" jetzt doch ein, zwei Bücher nach oben. Zumal da Platz ist, weil ich Anselm Nefts "DIe bessere Geschichte" ungelesen verschenkt habe.

    Da würde ich jetzt fast prophezeien, dass Du Boyles neues Werk auch zu routiniert findest. Meine Kritik kann man auch so formulieren: Mit dieser routinierten Herangehensweise wird er diesem existenziellen Thema nicht gerecht. Ich habe gerade angefangen, Ilja Trojanow Dystopie "Tausend und ein Morgen" zu hören. Das ist richtig groß und dramatisch angelegt; mal sehen, ob es aufgeht.

    Dystopieromanen gegenüber bin ich skeptisch, wahrscheinlich weil ich das Thema gerne vermeide. Doch T.C. Boyle extrapoliert in "Blue Skies" kaum über die Gegenwart hinaus, erzählt nahe an den Figuren und ihren Beziehungen und das so gut, teils brilliant, wie in den Romanen, die ich vor zwanzig Jahren von ihm gelesen habe ("Wassermusik", "Grün ist die Hoffnung"). Sehr kurz gesagt, wenn das Problemgemengelage auf der Welt das psychische Ergehen in Zukunft nicht stärker beeinträchtigt als in dieser Fiktion, beruhigt mich diese Lektüre fast. Sicher ist dies so gewollt, anderes wäre schwer lesbar, und Boyle probiert es erst gar nicht. Anders gesagt: eine Geschichte, die, so wie sie gebaut ist, weitgehend funktioniert*, aber dem Anspruch einer Dystopie mit wenigstens einigen damit einhergehenden Konflikten überhaupt nicht genügt. Wo auch immer dieser Anspruch herkommt (Marketing?). Interessanterweise scheinen die Rezensionen in den großen Zeitungen diesen Anspruch als ganz gut erfüllt zu betrachten.



    * Man könnte kritisieren, dass manche inneren Konflikte etwas im Unklaren bleiben, v.a. bei Cat; der Figur, die sich von der ignoranten Hedonistin zur sensiblen Zeitgenossin entwickelt. Und ein paar Längen in der Erzählung.


    https://www.penguin.de/Hoerbuc…er-Hoerverlag/e617506.rhd

    Solange die Leserschaft zu Scham fähig ist, wenn sie einen KI-Roman gelesen und dies nicht bemerkt hat, mache ich mir keine Sorgen. Oder ist das schon zu elitär egdacht?

    Gequält:

    Uwe Tellkamp - Der Turm, zwei Jahre, mit Unterbrechungen. Ich hatte zwei Gründe das Buch zu lesen


    "Der Turm" habe ich tatsächlich zweimal probiert, weil (in Dresden) gar so viele darüber geschwärmt hatten. Ich fand es sprachlich und erzählerisch überhaupt nicht gut und bin auch nicht über Seite 100 hinausgekommen. Autor ist nicht Werk, aber es zeigte sich später, dass wohl mehr Intention dahintersteckte als, wie ich beim Lesen glaubte, bräsige Bürgerlichkeit zu feiern.

    Sehr mächtige oder kraftvolle Apparate werden auf eine Welt losgelassen, die mit derlei bislang nicht die geringste Erfahrung hat. Das ist zwar ein Mechanismus, den der technische Fortschritt von Anbeginn mit sich bringt, aber die Klippen werden immer höher. Das halte ich ganz persönlich für problematischer als die vermeintliche Unausgewogenheit einiger Aspekte, andererseits ist das eine auch ein Teil des anderen. Mmh ...

    Ja, Medienkompetenz wird immer mehr zum Distinktionsmerkmal. Das ist wirklich problematisch, weil Medienkompetenz sicher stark mit Zugang zu Bildung zusammenhängt. Und den haben wir hier initial auch nur geschenkt bekommen und uns nicht selbst verdient. Die Nachrichtenmedien tragen erfahrungsgemäß nur sehr bedingt zur Medienkompetenz bei. Ich kenne v.a. den MDR und der holt die Menschen nicht wohin ab, sondern bespielt sie lieber dort, wo sie stehen geblieben sind. (ist aber auch so ein regionales Ding, NDR Info ist wesentlich informativer als MDR Aktuell).

    Auch Aufklärung und ein Update von Medien-Kompetenz tut Not. Eine KI-Suchmaschine liefert eine eindeutige Antwort, was psychologisch bestimmt ganz anders wirkt als die vielen Suchtreffer, die Google ausspuckt. Hypothese, dass das Eindeutige, wenn es auch noch "intelligent" heißt, als Wahrheit genommen wird, statt zu verstehen, dass die Antwort einfach aus den Informationen gebaut wird, die in ein System gefüttert wurden.


    Das ist andererseits natürlich ein Segen, um mechanische Tätigkeiten auszuführen. Beim Schreiben zum Beispiel, um verschiedene Satzstellungen und Wortwahl vorgeschlagen zu kriegen. Dabei aber schon wieder die Einschränkung, dass die KI bei beidem, so ist sie gebaut, nur das Gängige, nicht das Originelle vorschlägt. Bessere, rein mechanische Beispiele: Literaturverzeichnis einheitlich formatieren, Software suchen und Code bauen lassen, um ein bestimmtes Diagramm zu erstellen.

    Ja, KI weiß nichts. Socher und andere haben frühzeitig erkannt, dass Expertensysteme, also das Füttern der Modelle mit Fakten, nicht funktioniert; sondern dass man die Systeme lieber inhaltsblind lässt und Fragen über riesige Datenmengen löst. Formal funktioniert dies über Vektoren mit der Länge 1 Mio und mehr (ein Vektor stellt eine sprachliche Frage dar und die Antwort darauf ist ebenso ein Vektor).


    Darum setzt die KI Lügen, Rassismus, aber auch alles Gute im Netz, einfach fort. Sie ist blind, also ist sie gar nichts, außer eben eine Maschine. Keine Ahnung, was die beste Intervention dagegen ist, aber erstmal ist es wichtig, dies zu verstehen. Neulich gesehen: Eine koreanische Frau ließ sich von einer KI ihr Bewerbungsfoto ändern mit der Aufgabe, es bewerbungstauglicher zu machen. Ergebnis war ein Foto, das eine weiße Frau zeigte. Das ist unbestreitbar problematisch. Aber natürlich schwierig, darüber eine legitime Instanz zu setzen, die Regeln festlegt. Wer auch immer eine Löösungsidee dazu hat, gerne her damit. Ich habe keinen Schimmer.

    KI kann in dem Sinne nichts voranbringen, als sie darauf ausgelegt ist, dass wahrscheinlichste aufgrund der in sie eingespeisten Information zu produzieren. Daher geht sie nur den geradlinigen Weg weiter, trägt weiter, was in den Daten ist (z.B. dass Hautfarbe weiß sei). Klar, es gibt auch eine Zufallskomponente in den Vorhersagen*, die KI macht, aber die bewegt sich eng um die wahrscheinlichste Vorhersage herum.


    * KI ist nicht ist nichts anderes als eine Vorhersage der wahrscheinlichsten Antwort auf eine Frage, gegeben die Daten und das Modell, wie ich bei Richard Socher hörte; zumindest in den Sprachprozessierungsmodellen, die der verwendet.

    In der Wissenschaft gibt es auch solche Dinger, die wie die Bezahlverlage auf die Eitelkeit, hiwer der Genannten, setzen. Auf Englisch heißen die Pseudoverlage bezeichnenderweise "vanity press".

    Pardong, ich wollte dies hier rein kommentiert haben:



    "Vielleicht sollte die KI in Liebsbriefe ein paar Grammatik- und Rechtschreibfehler einbauen, um authentischer zu wirken.


    Ich versuche mich gerade an einem Text über Kunst und KI, der über (vermutete) bisherige Versuche hinaus geht."

    Für mich vielleicht so ein Beispiel, wie Debatten funktionieren, wenn sie den einen (Verlagen) dienen, um Aufmerksamkeit für die eigene Sache zu generieren und den anderen (Feuilleton) dazu, ihre Spalten voll zu kriegen; wo dann jede Meinungsgymnastik und jeder Rhetorikmove andere nach sich zieht. Siehe die ganzen selbstgebackenen Themen in der Politik: Pkw-Maut, darf Protest stören, ist Streik nicht vielleicht Erpressung?

    Tom, es geht hier nicht darum,. Werke umzugestalten (also manche Wörte im nachhinein zu ändern*), sondern um die Auswahl von Werken und v.a. (weiß nicht, wie sehr Reichl das thematisiert) deren Präsentation - und die Frage, wie man ein Werk in Kontext setzt. Also z.B. ein Drama von Schiller zu lesen und die Aufgabe zu stellen, das Frauenbild darin zu erörtern - mit der wahrscheinlichen Erkenntnis, dass sich das seit Schiller sehr geändert hat. Damit wäre die Frage der Auswahl gar nicht mehr so wichtig.


    * das finde ich auch nicht richtig. Es ist viel besser, das zu kommentieren und einzuordnen.

    Das erinnert mich daran, was der Titanic-Autor Stefan Gärtner (der Schriftgelehrte dort, der die politischen Texte dort schreibt) mal schrieb: "Bühne ist Bühne" o.s.ä. Meint: Sobald jemand auf der Bühne steht, spielt es keine Rolle, inwieweit die Bühnen-Figur mit der Person dahinter übereinstimmt; es zählt nur die Qualität des Werkes. Als Beispiel führte er Heinz Becker / Gerd Dudenhöffer an. Vielleicht ist das in Analogie mit Büchern zu sehen, das Werk auch dort vom Autor zu trennen und als allein als solches zu beurteilen. Das fällt zugegebenermaßen manchmal schwer, siehe zum Beispiel Benjamin vSB, wo unangenehm deutlich ist, wie aus dem Leben das Werk wurde.

    Ich versuche noch mal ein bisschen Dialektik: Reichl kritisiert, dass das Frauenbild in Schillers Figuren auf heute Einfluss nehme. Also vielleicht weniger Schiller-Werke oder das Frauenbild thematisieren. Wenn sich kein damals bedeutendes Werk einer Frau findet, dann vielleicht thematisieren, dass solche Werke damals schlechtere Chancen hatten, Bedeutung zu erlangen`. Dann vielleicht ein Werk einer Frau von ebenbürtiger Qualität suchen. So könnte man schön den Meta-Inhalt einbringen, den wir hier besprechen: Wonach sollte man Literatur beurteilen und auswählen?

    Eine andere m.E. gute Frage ist die nach der Qualität. Und was die mit dem Geschlecht zu tun hat, in positiver wie in negativer Hinsicht. Eine andere ist die nach den Fakten. Ich kann schwerlich einen Geschichtskurs über einflussreiche amerikanische Präsidenten und -innen geben und versuchen, den inhaltlich geschlechterparitätisch zu besetzen, weil es seit der Installation der U.S. of A. einfach noch keine einzige Frau in diesem Amt gab, man also in dieser Hälfte des Geschichtskurses stillschweigen müsste (was symbolpolitisches Handeln wäre). Das ist mehr als nur "bedauerlich", es ist aber zugleich ein unumstößliches Faktum. Es waren bis weit ins neunzehnte Jahrhundert fast ausschließlich Männer, die einflussreiche Literatur veröffentlicht haben, und darum geht es bei Kanonisierungen: Um Einfluss, um Bedeutung, um die Folgen für die Kultur. Es ist ebenfalls extrem bedauerlich, dass vor allem die westliche Kultur für eine unglaublich lange Zeit eine patriarchalische Kultur war, aber sie war es nun einmal. Das kriegt man nicht nachträglich dadurch geradegebogen, dass man irgendwas hervorkramt und mit Bedeutung aufpustet, die es nicht hatte.


    Ob Kanonisierungen wichtig sind, kann ich nicht entscheiden, will ich auch nicht, aber wenn ich etwas über Kulturgeschichte lernen oder vermitteln will, ist das wohl eines der verfügbaren Mittel.

    Da finde ich jetzt die Frage gut herausgearbeitet (und ich habe keine Antwort auf sie): Was sollte die Schullektüre bei früheren Epochen abdecken? Was damals Einfluss hatte? Verschiedene Perspektiven auf die damalige Zeit? (Reichls Position) Die beste Qualität?


    Horst-Dieter: Einen Schulkanon gibt es wohl dadurch, dass die Ministerien Lehrpläne und Materialien bereitstellen, dass die Werke bei Reklam verfügbar sein müssen (Antwort von Reichl, dass die Lehrerinnen nichts dafür können). Vielleicht auch anders vorstellbar alles, aber dafür müssten die Ministerien Macht abgeben, oder jemand darüber sie ihnen wegnehmen.

    Beim NDR spricht die Kabaretistin Theresa Reichl über ihr Buch Muss ich das gelesen haben?. Darin greift sie den Schulkanon deutscher Klassiker an, weil er fast auschließlich von christlichen weißen ... Männern geschrieben sei und damit nur einen Bruchteil auch der früheren Bevölkerung repräsentiere. Ich finde es richtig, diese Frage aus diesem Grund zu stellen, werde aber das Buch nicht lesen, weil mir die Sprache in der Vorschau nicht so zusagt. Schwache Meinung zum Thema: Die deutschen Klassiker haben qualitativ generell schon ihre Berechtigung, aber es gibt auch andere, v.a. von Frauen geschriebene Werke, für die das ebenso gilt, aber die wenig bekannt sind und gleichfalls in den Kanon gehören.