Beiträge von Petra

    Jürgen, ich bin beinahe ein bisschen neidisch auf die Art, wie Du Romane liest. So ergeht es mir tatsächlich weder mit den einen noch den anderen Romanen (wenn das denn überhaupt immer auseinanderzuhalten ist).


    In einer alten Folge von „Das literarische Quartetts“ behauptete der Schauspieler/Autor Christian Berkel („Der Apfelbaum“) einmal, alles außer Genre sei autobiografisch - Thea Dorn hat dem dann entschieden widersprochen.

    Nun kommt Edgar Selge und legt einen autobiografischen Roman vor („Hast du uns endlich gefunden“).

    Die beiden sind nicht die ersten und nicht die letzten Schauspieler, die die eigene (Familien-) Geschichte in einen Roman gepackt haben. Während das andere abschreckt, wäre der autobiografische Bezug für mich tatsächlich der einzige Grund, die Romane zu lesen. Und dabei könnte ich nicht mal hersagen, wo diese Schauspieler überhaupt mitgespielt haben :achsel

    @ Juergen P.: Hat ein Leser denn nicht immer eine Statistenrolle (ich würde sogar sagen eine Zuschauerrolle) inne, egal, ob ein Roman dem Erleben seines Verfassers entspringt oder seiner Fantasie? Er hat die Freiheit (oder folgt einer Notwendigkeit, wie man‘s nimmt), sich das Aussehen der Figuren vorzustellen, er wandelt die Worte vor seinem geistigen Auge um in Bilder; anders als beim Schauen eines Films, wählt er die Besetzung und die Ausstattung (im vom Autor abgesteckten Rahmen). Aber darüber hinaus? Bei einem offenen Ende darf/muss der Leser entscheiden, aber sonst? Wieso gibt Dir ein fiktionaler Stoff Freiheit, die Dir ein nicht (oder halb-) fiktionaler Stoff nicht gibt? Auch da weiß man doch in der Regel nicht alles vorher?

    Kannst Du das bitte noch weiter ausführen? Du erklärst das ja schon, aber ich kann das noch nicht nachvollziehen, und ich würde das gerne verstehen.


    Deine Sicht wird wahrscheinlich von vielen geteilt. Kann sein, dass autobiografische Stoffe die Tendenz haben, zu befremden.

    Ist womöglich immer ein bisschen Selbstverliebtheit dabei, über sich selbst zu schreiben? Immerhin muss sich einer ernst nehmen, der über sich schreibt - was ja generell nicht verkehrt ist. Selbstüberschätzung? Kann sein. Was mich nicht interessiert, muss ich aber ja nicht lesen.

    Was mich interessiert, sind Erfahrungen, die Menschen mit anderen Menschen teilen, gar nicht mal so das Einzigartige. Das kann etwas Befreiendes haben, wenn es zwar sehr wohl andere Menschen in einer ähnlichen Situation gibt, aber eben nicht darüber gesprochen wird.

    So kann auch ein und dasselbe Thema den einen peinlich berühren, während ein anderer dankbar ist, dass jemand darüber spricht.


    Ein Gespräch mit Freunden ist doch etwas völlig anderes als ein Roman. In einem Gespräch sucht oder gibt man womöglich etwas wie Rat, Erleichterung, Absolution … man teilt eine Erfahrung mit einem vertrauten Menschen und erhält Resonanz - und möchte wahrscheinlich, dass Vertraulichkeit gewahrt bleibt. Ein Roman ist kein Gespräch, auch wenn auch da so etwas wie ein (einseitiger) zeitversetzter Austausch stattfindet. Wenn schon, dann ist er eine Ansprache. Öffentlichkeit Voraussetzung. Ein autobiografischer Roman ist eine Umsetzung eines Lebens oder einer Erfahrung in Literatur; und als solches ganz anderen Regeln unterworfen als z. B. ein Gespräch oder auch als andere Textformen, wie Sachbuch oder (Selbst-) Porträt. Die meisten (oder alle) autobiografischen Romane werden sich zudem nicht streng an Fakten halten, weil „Geschichten, die das Leben schreibt“ selten gut erzählt wären - zu verworren, zu langweilig, zu umständlich … Autofiktion erschafft so eigene „Wahrheiten“.


    Es wird übrigens gesagt, dass Dürrenmatt dieser Selbstoffenbarung Frischs in „Montauk“ skeptisch gegenüberstand bzw. sie ihm nicht abgenommen hat - wer ihn kennt, weiß, dass er so nicht ist, soll er sich geäußert, es wenn auch wieder zurückgenommen haben.


    Ich weiß nicht, was das gesteigerte Interesse - vorausgesetzt, der Eindruck täuscht nicht - hervorruft. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass Menschen Bestätigung suchen? Vielleicht gibt es - neben dem sicher ungebrochenen Trend nach Zerstreuung und Ablenkung, die Flucht in Traumwelten - auch einen, sich wiederfinden zu wollen, mit seinen Ängsten, Fehlern, Makeln, Fragen …? So etwas findet man nicht in erfundenen Romanen, dafür braucht es Autoren, Menschen, die hinter den Romanen stehen und sagen: Ich weiß, wie es ist.

    Nach der Romanvorlage von „Das Ende einer Affäre“ von Graham Greene hat man zwei Filme gedreht: der jüngere mit Julianne Moore und Ralph Finnies ist momentan in der ZDF-Mediathek zu sehen.


    Ein aufstrebender englischer Schriftsteller verliebt sich in eine verheiratete Frau. Sie beginnen eine Affäre, die seinerseits bald in eine Obsession mündet. Als er bei einem Luftangriff vermeintlich zu Tode kommt, hat ihre Beziehung ein jähes Ende.


    Ich fand das schon interessant gemacht: Der Schriftsteller im Schaffensprozess, die verschiedenen Zeitebenen, wie da zwischen den Zeilen geredet wird … Es kippt dann aber und macht ein paar Turns, wovon zumindest einer für meinen Geschmack dann doch etwas zu dick aufgetragen ist; „Das Ende einer Affäre“ zählt zu Greenes sog. „katholischen Romanen“.

    @ Juergen P.: Der ersten Hälfte Deines Beitrags stimme ich zu, der zweiten, oh, Wunder, nicht.


    Fan-tum in Bezug auf Schriftsteller kenne ich für mich nicht, will aber nicht bestreiten, dass dieses Phänomen bei manchen Bestseller-Autoren eine Rolle spielen könnte. Wenn ich mich an meine Leseanfänge erinnere, an Pucki, Hanni, Nanni und Carrie 🙂, waren mir die Figuren und die Handlung wichtig, die, die sie erschaffen haben (Magda Trott, Enid Blyton und Stephen King) nicht. Ich lese bis heute einen Roman des Romans wegen, der Verfasser ist mir in aller Regel weitgehend unbekannt und gleichgültig. Wenn mir der Roman gefallen hat, schaue ich mir vielleicht die Biografie des Autors an, vielleicht. Manchmal auch nur seine übrigen Veröffentlichungen, so vorhanden.


    Wenn einer etwas so zu sagen hat, dass es unterhaltend ist, spannend, einem eine neue Sichtweise eröffnet … - je nach dem, was einem wichtig ist - warum soll das Erlebte dann hinter dem frei Erfundenen zurückstehen? Ich kenne genügend fiktionale Stoffe, die ihrerseits in Korsetts stecken, nämlich, weil sie Trends hinterherhecheln. Serienmörder sollen seit Hannibal Lecter gerne hochintelligent sein, je mehr Blut fließt, desto besser, je abartiger desto besser. Vampire setzen Trends oder Millionäre mit ulkigen SM-Fantasien. So wenig, wie „echtes Erleben“ ein Qualitätsmerkmal sein kann, ist es Fantasie um jeden Preis. Ich habe einen Roman gerne glaubwürdig, was in Fällen, wo ich nicht genau Bescheid weiß, zugegeben leichter zu erreichen ist. Manche Fantasieprodukte sind aber auch so schlecht daherfabuliert, dass es gar keinen Experten braucht, um zu erkennen, dass da nichts stimmt, oder konkreter: stimmig ist. Ja, manche Genres funktionieren zudem nur unter Abkehr von der Wirklichkeit, Krimis z. B., trotzdem kann da ein persönlicher Einblick nicht schaden. Darüber hinaus glaube ich, dass einer, der vordergründig (!) über das Weißen einer Wand schreibt, mich, wenn er es denn kann, mehr anspricht, als wenn einer über, meinetwegen, blutsaugende Elfen im Catsuit schwadroniert. Wenn einer erzählen kann und etwas zu sagen hat, geht es nämlich in dem Text nicht nur darum, dem Leser zuzumuten, Farbe beim Trocknen zuzusehen, während im anderen Szenario der Bär steppt und es trotzdem ermüdend sein kann. Ich habe den Eindruck, dass Freiheit des freien Erfindens im Vergleich zu Fesseln, die einem Erlebtes - angeblich - anlegen, überschätzt wird. Man hat ja Freiheiten, derer man sich bedienen kann, auch wenn es einen wahren Kern gibt. Man kann übertreiben, meinetwegen aus einer Familie, die ein Vater neben der eigenen (aus Sicht des Verfassers) hat, zwei oder drei machen, und und und.


    Ich glaube, ich lege demnächst mal so eine „Montauk-Session“ ein. Zeit werden wir ja höchstwahrscheinlich bald wieder haben, wenn auch nicht zum Reisen. Das ist aber auch nicht nötig: Montauk kann überall sein. In Paris wie in Castrop-Rauxel. Lynn kann jeder sein - oder auch niemand.

    Selbst wenn zu erwarten ist, dass dabei weniger etwas herauskommt, das an Max Frisch erinnert, und dafür mehr an Lieschen Müller, die über den letzten Kindergeburtstag oder das Purzeln ihrer Fettpolster schreibt (ich *bin* Lieschen Müller!): Ich möchte jetzt mal wissen, was dabei entsteht 🙂!

    Vorausgesetzt, jemand sucht sich seine Themen nicht - was aber natürlich völlig legitim wäre - ausschließlich nach dem Markt aus, dann ist jeder Roman ein Stück autobiografisch - genau: das wäre eine Definitionssache. Ich könnte also sämtliche Details dieses Romans erfinden, aus dem Vollen meiner Fantasie schöpfen, aber das, was mich dazu veranlasst hat, über genau das zu schreiben, kommt letztendlich doch aus mir. Wie ich darüber denke, gibt zudem eine Tendenz vor, in welche Richtung sich der Roman entwickelt. In der Regel kennt der Leser die Verfasser von Romanen ja nicht, ich unterstelle aber, dass vertraute Personen aus einem mehr oder weniger engen Kreis des Autors bei bestimmten Details aufmerken, nach dem Motto, ach, guck, da ist es wieder: eine Einstellung, eine prägende Erfahrung oder Erkenntnis oder offene Frage. - Was freilich nicht bedeutet, dass sich einer immer am selben Trauma abarbeiten muss.


    Darüber hinaus meine ich, dass man über die nichtigsten Dinge fesselnd schreiben kann - wie einen Wochenendausflug - wenn man sie unterfüttert mit Reflexionen, mit Dingen, die über Handlungsort, Ereignis, Person hinausweisen. Oskamp schreibt ja nicht etwa vornehmlich über Füße, sondern über Menschen. In diesem Fußpflegesalon trifft sich ein bestimmter Menschenschlag, als Individuen verschieden, aber die Nachbarschaft ist der gemeinsame Nenner; wer dort im Einzugsbereich lebt, ist oft etwas abgehängt, älter, vielleicht sogar schräg, aber die Autorin behandelt ihre Kundschaft nicht von oben herab, schlimmer noch, dass sie sich über sie lustig machen würde. Auch das zeichnet diesen Roman aus, der doch so einen profanen Handlungsort und überhaupt keine strahlenden Heldinnen und Helden aufzuweisen hat.


    Das mit dem „einfach“ Nacherzählen steht ja nicht von ungefähr in Anführungszeichen - wobei ich die auf „nacherzählen“ ausgedehnt verstehe. Es ist nicht einfach und es ist nicht nur nacherzählt. Das wäre zu flach. Dimension bekommt etwas erst durch den Hintergrund des Erzählers: durch dessen Empathiefähigkeit, Lebenserfahrung, Intellekt, die Fähigkeit, Verbindungen zu sehen und heranzuziehen, und indem er Schreibhandwerk so einsetzt, dass eine runde Sache daraus wird.

    Mag sein, dass ich auch in diesem Beitrag wieder Mokkatässchen auf den Tisch stelle 🙂: Ich meine, es nimmt zu. Zwar haben zu jeder Zeit Schriftsteller aus ihren Erfahrungen geschöpft, aber das auch zu offenbaren, war nicht immer so „in“ wie heute. Das scheint mir etwas damit zu tun zu haben, dass die Verfasser von Romanen heute viel präsenter in den Medien sind. Das gilt natürlich nicht für jede Art Roman. Bei einem Thriller fragt selbstverständlich niemand „Haben Sie das tatsächlich erlebt?“, man freut sich am Nervenkitzel und dass der Autor „trotzdem“ so ein sympathischer Mensch ist! Aber diese Frage ist beileibe nicht immer verkehrt; bei Bov Bjergs „Serpentinen“ zum Beispiel fragte sich sogar das Feuilleton, was in dem Roman autobiographisch sein könnte. (Ich habe nicht verfolgt, ob/wie er sich dazu geäußert hat.)


    Was die Banalität eigener Alltagserfahrungen angeht: Dieses Wochenende Frischs an der amerikanischen Ostküste birst nun auch nicht gerade vor Originalität. So oder so ähnlich können Ausflüge tausendfach verlaufen. Dass ich es im Fall von „Montauk“ dennoch gerne gelesen habe, liegt an der Umsetzung, der Art und Weise, wie einer auf eine Sache blickt und sie in Worte fasst. Das ist eine Kunst für sich, bei der Fantasie nicht der entscheidende Faktor ist und ein Bescheiden auf das tatsächlich Erlebte auch kein Korsett.

    Es wird niemand schief angeguckt, der was hat oder nicht.

    Ist das so? Das erscheint mir genauso verallgemeinernd zu sein, wie wenn ich das Gegenteil behaupten würde. Dabei scheint es stark auf das Auftreten anzukommen. Vielleicht muss man nicht unbedingt ein Hochschulstudium vorweisen können - aber so zu erscheinen als ob, dürfte durchaus von Vorteil sein.


    Nachtrag zur oben angeführten Aufzählung:


    Pierre Michon („Leben der kleinen Toten“, Jahrgang 1945, Literaturstudium (abgebrochen))


    Lukas Rietzschel („Mit der Faust in die Welt schlagen“, Jahrgang 1994, Master in „Kultur und Management“, sein Verleger bei Ullstein fand ihn „spannend, weil er aus dem Niemandsland des Erzählens stammt.“. (Stern, 2018)

    Kennt Ihr das? Manchmal liest man Bücher und ist sich nicht sicher: Ist das noch ein Sachbuch (wie Biografien zu den Sachbüchern zählen) oder doch schon ein Roman?


    Mir ging das dieses Jahr so mit „Hillbilly Elegy“ von J. D. Vance und „Der große Trip - Wild“ von Cheryl Strayed. Der eine erzählt von einer Kindheit in einer Familie, die gemeinhin in den USA als White Trash verschrieen ist, und vom Aufstieg aus diesem Milieu, die andere von einer Wanderung auf dem Pacific Crest Trail, eigentlich aber von einem in die Binsen gegangen Leben, von Sucht, (Selbst-) Betrug und Trauer. Beide Bücher haben einen autobiographischen Hintergrund, werden aber so erzählt, dass sie locker als Romane gelten können. Beide Bücher haben so eine starke Geschichte, dass es sehr nahe lag, Filme anhand der Vorlagen zu drehen. Dabei kann man wahrscheinlich nicht voraussetzen, dass Biografien generell gut (filmisch) zu adaptieren sind. Während man auch (so vom Verlag bezeichnete) (Auto-) Biografien an sich nicht als bloße Abbildungen eines Lebens verstehen darf - hier lässt einer etwas weg, da erfindet er etwas dazu, hier strafft er zeitlich usw. - braucht es erzählerischer Kniffe, um ein Leben wie einen Roman zu erzählen. Eine ausschließlich faktenbasierte Schilderung liefe viel eher Gefahr, langweilig zu werden, zäh - wahrhaftig (in dem Sinne, dass jemandes Erinnerungen und Empfindungen zwar tatsächlich wahrhaftig sein können, aber nicht unbedingt „wahr“), wahrhaftig also, aber dröge. Die Amerikaner können das gut: fesselnd erzählen. Vielleicht erfinden sie dann auch mehr hinzu - ich halte das für sehr wahrscheinlich. Ansonsten kämen dabei wahrscheinlich nicht Bücher heraus, bei denen sich selbst Verlage schwertun mit der Einordnung.


    Nicht, dass das ein neues Phänomen wäre. Mit „Montauk“ legte Max Frisch z. B. schon 1975 ein von ihm selbst Erzählung genanntes Stück autobiografischer Prosa vor. Auf die Folie eines real erlebten Wochenendes bringt Frisch hier Erinnerungen an frühere Beziehungen auf. Wo allein schon der Entschluss, über etwas zu schreiben, das erst noch passieren muss (falls das so gewesen sein sollte), die Dinge unweigerlich ein Stückweit verfälscht, und Frisch auch hier natürlich die schriftstellerische Entscheidung trifft, was er (aus-) erzählt und was er weglässt oder allenfalls andeutet, fügt er dem äußeren Erlebnis ein inneres hinzu. Damit dehnt er das postulierte „nur Schildern, was an diesem Wochenende passiert“, auf mehrere Ebenen aus, die eine gegenwärtige und zahlreiche vergangene. (Übrigens eine interessante Ausgangsposition, finde ich.)


    Ich habe den Eindruck, dass solche „Hybride“ zunehmen auf dem Buchmarkt. Und, dass das entscheidend damit zu tun hat, dass wir immer stärker daran gewöhnt sind, dass Menschen ihre Erfahrungen mit anderen - Fremden - teilen. Auch und gerade intime. 1975 waren die Frauen, über die Frisch schrieb, wahrscheinlich noch um einiges empörter, erschrockener …, über sich selbst in einem Buch zu lesen als sie es heutzutage wären (so, wie (die bei Erscheinen des Buches bereits verstorbene) Ingeborg Bachmann sich dem entschieden verwehrt hatte). Das bringt einen in die Bredouille: Während man einerseits schätzen kann, solche Einblicke zu bekommen, möchte man selbst nun kein solcher „Steinbruch“ sein, aus dem ein Schriftsteller/eine Schriftstellerin „Literatur macht“.

    Nach der letzten ist immer noch Platz für die allerletzte 🙂


    „Zumindestens“? Ich staune „Einzigsten“, ja, aber das nun nicht. Wahrscheinlich kann „zumindestens“ hier nicht heimisch werden, weil schon „zumindest“ nicht allzu gebräuchlich sein dürfte. „Mindestens“ reicht vollkommen 🙂

    Ich habe ein wirklich interessantes und überaus lesenswertes Interview mit der Literatursoziologin (!) Carolin Amlinger zu diesem Thema gefunden, in dem sie die Historie, die Hintergründe und die Situation skizziert: https://www.welt.de/kultur/lit…ter-der-Gesellschaft.html

    „Soziale Passung“ - sieh mal einer an! Oder auch: Sag ich doch --u:-)


    Dorothée Letessiers „Eine kurze Reise“, in der eine bretonische Fabrikarbeiterin, Ehefrau und junge Mutter für ein Wochenende ans Meer flüchtet, wurde 1980 als autobiographisch verkauft, offenbar um die Diskrepanz „Facharbeiterin“ : „literarisches Talent“ kalkuliert als verkaufsfördernde Maßnahme einzusetzen. In Wahrheit hatte Letessier zwar Erfahrung mit der Arbeit in der Fabrik, war aber darauf nicht als Hauptbroterwerb angewiesen und hatte mit einiger Wahrscheinlichkeit – was ich aber nicht finde, da diese Autorin offenbar hierzulande in Vergessenheit geraten ist oder auch nie einen großen Bekanntheitsgrad hatte – eine Hochschulbildung durchlaufen (behaupte ich jetzt einfach mal!).


    An zeitgenössischen Autoren mit einer tatsächlichen Herkunft aus, wie es oft heißt, „einfachen Verhältnissen“, die diese Verhältnisse in ihren Büchern thematisieren, fallen mir ein:


    Édouard Louis („Das Ende von Eddy“, 1992 in der Picardie geboren, Soziologiestudium an einer Elite-Universität)


    Louis ist ein Schüler von Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“, 1953 in Reims geboren, abgebrochenes Philosophiestudium, was in Frankreich nicht daran hindert, an einer Hochschule zu lehren)


    Annie Ernaux („Erinnerung eines Mädchens“, 1940 in Lillebonne geboren, Lehrerin)


    J. D. Vance („Hillbilly Elegy“, 1984 in Middletown, Ohio geboren, studierter Jurist, Finanzmanager)


    Christian Baron („Ein Mann seiner Klasse“, 1985 in Kaiserslautern geboren, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik)


    Ich habe – unabhängig von meiner Leseliste – Wikipedia mit weiteren Namen von aktuellen (Bestseller-) Autoren/Autorinnen gefüttert: Letztendlich habe ich jemanden gefunden: Wolfgang Hohlbein, Industriekaufmann. Mit Ulla Hahn dann gleich noch eine? Bürokauffrau, stand da zu lesen – aber nein, Hahn hat ihr Abitur nachgeholt und studiert. Ich hätte meinen Eindruck ja letztendlich doch nicht ungern korrigiert: Aber die Rubrik „Leben und Werk“ von Autoren und Autorinnen beginnt mit einiger Zuverlässig in der Art von: „studierte xyz … in …“.


    Die oben genannten fünf Schriftsteller sind augenscheinlich Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, die durch welche Wendungen in ihrem Leben auch immer in den Genuss einer Hochschulbildung gekommen sind.

    Es mag aber auch Autoren und Autorinnen geben, die ihre Herkunft aus ebensolchen Verhältnissen nicht an die große Glocke hängen: Tatsächlich interessiert das ja auch nicht, wenn man über diese Verhältnisse nicht schreiben will. Dass es aber doch relativ wenige tun, hängt meiner Meinung nach auch mit der eingangs von mir aufgeworfenen Fragestellung zusammen.

    Mal angenommen, wir befänden uns hier nicht in einem virtuellen Raum, sondern auf einer Party. Die Gäste kennen sich nicht alle untereinander, außerhalb kleinerer Gruppen trifft man zum ersten Mal aufeinander. Ein höflicher Herr gesellt sich zu einer Gruppe und stellt sich vor. Man kommt ins Gespräch und landet bei den Berufen. Ich bin Postbote, sagt unser fiktiver Gast, dem folgen ein paar Sätze, in denen es hauptsächlich um Ärgernisse um fehlgeleitete Sendungen geht, bevor man sich wieder interessanteren Dingen zuwendet. Neue Party, derselbe Mann, nennen wir ihn Gert. Ich bin Chefarzt einer psychiatrischen Klinik. Welcher Gert ist wohl der begehrtere Gesprächspartner?

    Ich weiß nun nicht, ob Agenturen - nehmen wir diesen Weg, weil er der professionellere ist im Vergleich zu ins Blaue verschickten Manuskripten - den Beruf ihres Klienten nennen. Ich könnte es mir aber vorstellen. Und jetzt ist es absolut egal, ob in dieser Vorstellung steht, „mein Klient ist Briefzusteller“ oder „… Dr. med. und Dr. phil., Chefarzt im Klinikum …“?!


    Das dünne Eis ist mir bewusst. Aber ich behaupte nicht, dass ein Studium unabdingbar ist. Mir geht es auch um Rüstzeug, das manche mitbekommen und andere nicht. (Wozu auch Mentoren gehören: Menschen in wegweisenden und - bestenfalls - einflussreichen Positionen.) Es nützt nichts, so zu tun, als ob es keine gesellschaftlichen Unterschiede gäbe. Oder als ob jeder mit den selben Chancen ins Leben geht. Als ob - gerechtfertigt oder nicht - in den Köpfen der meisten Menschen nicht bestimmte Vorstellungen vorhanden sind. Akademiker profitieren - vielleicht ja sogar teils unbewusst - von Vorstellungen, die andere sich von ihnen machen, zurecht oder auch nicht. Während Leute in nicht-akademischen Berufen Türen erstmal überhaupt öffnen müssen.


    Natürlich KANN das echte Manuskript eines echten Postboten besser sein als das eines Chefarztes. Es könnte aber auch sein, dass es der Postbote schwerer hat, sich überhaupt Gehör zu verschaffen? Nein? Weil Lektoren anders als der überwiegende Rest der Menschheit gerade nicht Vorurteilen gesellschaftlicher Art unterliegt? Mag ja sein, dass es auf den Verlag ankommt: in einem, der hochgeistige Literatur vertreten möchte, wird der Postbote es definitiv schwer haben, überhaupt die erste Hürde zu nehmen - behaupte ich jetzt natürlich nur. Es muss ja auch etwas zu bedeuten haben, wenn einem Fälle/Personen einfallen, die Ausnahmen darstellen. Denn das bestätigt doch: Die Regel ist es nicht. Die „Postboten“ sind in der Minderzahl.

    @ Jürgen: Dein Beitrag, der den "abgebrochenen" (Medizin-)studenten Bertolt Brecht ins Spiel bringt, hat mich grübeln lassen. (Außeruniversitärer Akademiker – das gefällt mir :)) Hätte Brecht das Medizinstudium weiterverfolgt, wer weiß, vielleicht wäre das sogar das Ende seiner literarischen Arbeit gewesen ... Wenn man in die Waagschale legt, wie viel Zeit und Energie es braucht, einen Roman zu schreiben: Geht einer z. B. in einem sehr anspruchsvollen Beruf auf, könnte Literatur gut und gerne auf der Strecke bleiben. – Wie das so ist mit solchen Fragen: Sie führen nirgendwohin.


    Genre-Werke mit groben Mängeln verkaufen sich: aber hallo!

    (Was aber nun nicht ausschließt, dass prominente Vertreter „solcher“ sich gut verkaufender Romane ebenfalls studiert haben =))



    @ Jürgen P.: Nein, unabdingbar ist ein Studium fürs Schreiben nicht. Das würde ich nie behaupten, genauso wenig, dass jeder Akademiker automatisch in der Lage wäre, einen (guten) Roman zu schreiben. Ich glaube, es ist ein Puzzleteil, aber ein nicht unwichtiges. Und ein häufig vorkommendes.

    Deine Kriterien kann ich gut nachvollziehen. „Lebenserfahrung“ möchte ich noch hinzufügen, verwandt vielleicht mit Deinem „ein mit großer Offenheit gelebtes Leben“. Hier könnte man natürlich einwenden, dass Fantasie Erfahrung bis zu einem gewissen Grad wettmacht. Ich meine aber, dass man mit 20 womöglich andere Romane als mit 50 schreiben kann (nicht muss) – was natürlich auch wiederum von individuellen Erfahrungen abhängig ist.


    Durchaus: Akademikereltern = Akademikernachwuchs, eine Formel, die oft aufgeht. Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen wird wohl niemand in Abrede stellen. Wenn man bedenkt, dass Eltern, die eine Hochschulausbildung genossen haben, ihren Kindern (u. a.) wertvolle Informationen mit auf den Weg geben können, die Studienanfängern ohne akademisch gebildete Eltern schlichtweg fehlen (und das Studium zusätzlich erschweren), scheint es darauf hinauszulaufen, dass die Weichen bereits früher gestellt werden.

    Was nun aber NICHT heißt, dass es ohne nicht geht – es ist nur schwieriger. Eine Binse: Das Leben ist ungerecht.



    Ok, vielleicht führen Stichproben wie die meine nicht wirklich weiter – obwohl ich nicht glaube, dass man eine gehäufte Anzahl von – meinetwegen – Handwerkern unter den Romanautoren findet. Bei vielen hier sähe eine Stichprobe unter den letzten gelesenen Romanen womöglich ganz ähnlich aus.

    Möglicherweise ist das aber eine Art Bias. Es trifft möglicherweise zu, dass viele (die meisten, würde ich nach wie vor vermuten) in Publikumsverlagen veröffentlichte Autoren ein Studium welcher Art auch immer absolviert haben. Unabdingbar dafür – da sind wir uns wahrscheinlich einig? – ist die Fähigkeit, sich schriftlich verständlich, fesselnd, interessant (was auch immer das heißen mag – siehe „Genre-Werke mit groben Mängeln“) …, mitzuteilen. Und der Wunsch und der Wille, sich ans Schreiben zu geben.

    Ich bin überzeugt davon, dass Schreiben an sich eine verkopfte Sache ist.



    @ Tom: Die Nr. 7 meiner Liste, Studium der Theaterwissenschaften und Literatur, ist Katja Oskamp. Ausschließliche Fußpflegerinnen dürfte es wenige unter den Schriftstellerinnen geben.

    Ich halte fest: „Marzahn, mon amour: Geschichten einer Fußpflegerin“ ist einer der wenigen Romane, die von einer ansonsten wenig beachteten Lebenswirklichkeit erzählen. Aber wenn Katja Oskamp nicht die Fähigkeiten gehabt hätte – woher auch immer - *so* darüber zu erzählen, würde es freilich auch keinen gesteigert interessieren.

    Hallo zusammen,


    da fing‘s schon an: Wie nenne ich diesen Thread?

    „Sind Akademiker die besseren Schriftsteller?“ - Nein, geht nicht! Was heißt schon „gut“ und wie definiert man „besser“?! Und „besser“ als was? Also: nein!

    „Schriftstellernde Akademiker“ - Das klingt arg nach einem peinlichen Hobby einer sonst seriösen Person, verbietet sich also auch.

    Der gewählte Titel ist dann auch angreifbar (und müsste treffender heißen „veröffentlicht zu bekommen“, denn Selbstverlag ist hier gerade nicht gemeint): Bestehen denn etwa Zweifel daran, dass es Vorteile hat, Akademiker zu sein (alle anderen Begleitumstände weggelassen)?Dann müsste die Antwort mit einiger Logik „ja“ heißen - oder nicht?


    Meine These ist: Ja, sie haben bessere Voraussetzungen. Ich meine natürlich nicht, dass ein Studium Voraussetzung dafür ist, einen Roman zu schreiben. Genauso wenig fiele mir ein zu behaupten, jeder Akademiker könne, wenn er denn wollte, einen Roman schreiben. Ganz sicher nicht! Aber: Ich meine, sie haben bessere Voraussetzungen, weil:

    Um die Herausforderung, einen Roman zu schreiben, zu bestehen, hilft es, und das mache ich als entscheidenden Faktor, aus, während die nachfolgenden Punkte dann eher Zuckerl on-top sind:

    - geübt darin zu sein, umfassende Denkprozesse a) anzustellen und b) niederzuschreiben/in Worte zu fassen/umzusetzen

    - Recherchemöglichkeiten/-ansätze zu kennen, die in einem Studium vermittelt werden

    - sich in einem Kreis anderer Akademiker zu bewegen, deren Sachkenntnis man bei Bedarf auf kleinem Wege abfragen kann


    Man könnte natürlich auch sagen: So ein Quatsch, jeder kann alles werden! Eine Frau von 1,90 Körpergröße wenn’s denn sein muss auch Primaballerina - man muss dann nur das Konzept von Ballett, wie wir es kennen, ändern! - DAS meine ich nicht! In dem Sinne kann (darf sowieso!) JEDER einen Roman schreiben. Ich gehe hier vom Buchmarkt aus, der der Definition folgt: Wir verlegen Romane, die sich mit einiger Sicherheit gut verkaufen werden.


    Ich habe dann mal ein bisschen gegoogelt. Hier also eine kleine, selbstverständlich NICHT repräsentative Stichprobe, nämlich bez. der Autoren und Autorinnen, von denen ich zuletzt Romane gelesen habe. (Ich bin dabei nicht tief in die Recherche eingestiegen, sondern habe schlicht Wikipedia befragt.) Es hat sich folgender berufliche Hintergrund/Werdegang der Verfasser herausgestellt:


    - Schauspiel

    - Geschichte, Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaft

    - Journalist

    - VWL, Journalismus

    - Literaturwissenschaft, Journalismus

    - Kommunikationswissenschaftlerin

    - Theaterwissenschaften, Literatur

    - Chemie, Physik, Englisch, Kreatives Schreiben

    - Journalist

    - Philologie, Germanistik

    - Jura

    - Literatur, Journalistin

    - Musikwissenschaftler, Journalist

    - Biologie

    - Germanistik, Philosophie (beides abgebrochen), Journalismus

    - Journalist

    - Journalismus

    - Kreatives Schreiben

    - Zootechnikerin/Mechanisatorin


    („Journalismus“ meint hier ein absolviertes Studium, „Journalist“ den Beruf, ohne Hintergrund, ob mit oder ohne Studium ausgeübt.

    Die Studiengänge Kreatives Schreiben betreffen nicht deutsche Autoren.)


    Es fällt auf: Eine Ausbildung (in dem Fall zwei) hat EIN Autor (in dem Fall eine Autorin) gemacht, bezeichnenderweise mit einer DDR-Herkunft. Alle anderen: Akademiker oder zumindest in einem schreibenden Beruf zuhause.


    Was heißt das? Womöglich nichts. Vielleicht lese ich bloß „die falschen“ Romane.


    Vielleicht heißt es auch: Es ist schwieriger, sich mit einem nicht-akademischen/nicht-musisch geprägtem Hintergrund auf die Reise Romanschreiben zu begeben. Es ist nicht unmöglich, es ist machbar, einige, vielleicht gar nicht wenige, haben es vorgemacht - deren Reise war dann womöglich etwas beschwerlicher. So, wie es immer angenehmer ist, in der Business oder gar der ersten Klasse zu fliegen als mit angezogen Beinen in der Holzklasse.


    Ein Resultat wäre dann aber womöglich, dass manche Themen/Lebensläufe/Figuren in der Literatur weniger vertreten sind, weil sie in der Lebensrealität des Großteils der Schreibenden nicht vorkommen.


    Nein?

    Nur so ein Gedanke.

    Naja, stimmt schon. Aber wir sind ja alle so herrlich faul beim Sprechen. Das ist vergleichbar mit "Hast du dir die Haare geschnitten?"

    Das habe ich tatsächlich noch nie gehört. „Warst Du beim Friseur?“, fragt man hier - abgesehen von Zeiten, in denen niemand in diesen Genuss kam. Da wäre „hast Du Dir …“ aber ja wiederum richtig gewesen.

    Oder Charlottes - im "Paardiologie"-Podcast habe ich "fande" zum ersten Mal von ihr gehört (oder es zumindest bewusst wahrgenommen). Seitdem andauernd. Vielleicht ansteckend?


    Noch so was: "Habt Ihr Euch alle schon geimpft?" "... impfen lassen", solle man meinen, im Großteil der Fälle.

    Wo wir schon mal dabei sind ...:

    Was ist denn von "fande" zu halten? Ich höre das immer wieder - in letzter Zeit so häufig, dass ich langsam den Verdacht hege, dass ich (Raum Köln) mit "fand" falsch liege ...? Heißt ja schließlich auch "dachte ich", nicht "dacht ich" ... Denken, dachte - Finden, fande ... ?!??

    (Ich weiß, ich könnte das jetzt googeln, aber ich würde gerne mal Eure Meinung hören :))

    Doch beachtlich, wie viel Gedöns um das Buch herum veröffentlicht wird. Als ich nach dem Titel bei Amazon suchte, erschienen Cover in schwarz, weiß und rot. Was erstmal an so was wie „Collector Editions“ im Musikbereich erinnert, sind Lesung, Hörspiel, Songs zum Streamen, Buch + Audio-CD. - Ein Roman mit einem eigenen Soundtrack 😳: Ich bin widerwillig schwer beeindruckt!

    Es liegt nicht am Gerät, sondern daran, wie Du die ISBN kopierst und einfügst bzw. markierst und zum Buch-Tag umwandelst.

    So isses ja meistens: UTB 😆

    Ehe ich mir also noch weiter die Finger verrenke, schmeiße ich für Rezensionen halt in Zukunft immer den Laptop an.

    Danke, Tom!