Beiträge von Petra

    Ich war schon stolz, dass ich das vom Smartphone aus mit Verlinkung hingekriegt habe, jetzt auch noch eine persönliche Stellungnahme …? :)


    Wenn diese Romanvorstellung so geraten ist, dann wahrscheinlich (auch), weil sie hier an einem Ort steht, an dem man sich mit einem Romanstoff nicht nur als Leser auseinandersetzt, sondern dazu als jemand, der selbst schreibt und andere, die schreiben, adressiert. Gut möglich, dass bei meinen Beiträgen allein schon durch diesen Ort ein Mischmasch entsteht bzw. Elemente enthalten sind, die in einer Rezension streng genommen nichts zu suchen haben oder dafür eher uninteressant sind.

    Der Umstand, dass der Ich-Erzähler nicht als klar männlich oder klar weiblich zu erkennen ist (ich habe einen Mann erzählen hören – aber am Ende denke ich, wird es wohl doch eher eine Frau gewesen sein …), bei Pradelski der Säugling, der von seiner eigenen Geburt berichtet: Solche erzähltechnischen Entscheidungen interessieren mich sehr. Ist etwas reine Pose oder erfüllt es einen tieferen Zweck? Deshalb ist wahrscheinlich auch immer mal wieder etwas „Selbstbefragung“ enthalten.

    Während die launige Bemerkung im Zusammenhang mit Claudes Selbstmord eher auf eine Art Fassungslosigkeit gegenüber dem zurückzuführen ist, der sie/ihn findet, nach dem Motto: Meine Güte, was für ein …! Tschuldigung, da fällt Rezension dann mit etwas zusammen, das mit dem Roman oder Literatur an sich nichts zu tun hat :)


    Das führt mich zu Deiner Frage: Wie fand ich den Roman?

    Es ist eine komplexe Geschichte, trotz des geringen Umfangs, mit vielen Zwischentönen. Ich hätte auch eine Geschichte gelesen, wo A B versteckt, A und B heiraten, aufs Land ziehen und fortan glücklich und zufrieden sind – aber so finde ich es deutlich interessanter. So ist es für mich eine Geschichte, die nachhallt. Eine, die Fragen aufwirft. Die Formel „jemand hat einen Verfolgten versteckt, ergo ist er ein guter Mensch“ greift hier nicht. Das allein machte den Roman für mich schon interessant: weil eine ungewöhnliche Geschichte erzählt wird. Dieser Roman hebt sich ab von solchen, in denen schwarz-weiß-gemalt wird und zeigt auf, dass ein Hinterfragen oft überraschende Dinge zutage fördern kann (was ohne Zweifel für mich ein, wenn nicht das Kernthema wäre, würde ich denn endlich mal schreibend zu Potte kommen – egal, anderes Thema!).

    Da ist außerdem dieser enorm unsympathische Ich-Erzähler. Kein Monster, ein „ganz normaler Mensch“, hierzulande wäre er ein Mitläufer gewesen, einer, der sich aus allem raushält, seine Meinungen hat, im Grunde aber in erster Linie in Ruhe gelassen werden, lesen will. Ein Eigenbrötler. Möglicherweise hätte so eine Figur heutzutage eine Diagnose aus dem Spektrum, vielleicht „hatte“ diese hier (im Kopf des Verfassers, versteht sich) „nur“ eine schwere Kindheit, vielleicht nichts von beidem … Ein unauffälliger Mensch ist das, der schließlich – aus Gründen – einen Juden im Keller versteckt. Das an sich ist eine heroische Tat, die ihm einiges abverlangt und ihn zudem um Kopf und Kragen bringen könnte, aber nun gerade nicht reiner Menschenliebe zuzuschreiben ist. Man erfährt nichts über den Ich-Erzähler, was er selbst nicht erzählt, dabei kann ein Autor ja auch immer viel breiter erzählen, wenn er das denn will, z. B. indem er eine zweite Erzählstimme eingeführt hätte. Das hat Rozier nicht getan, und diese Entscheidung kann ein Leser gut finden kann oder eben nicht.

    Man muss entweder die Auslassungen akzeptieren, oder aber es fehlt einem zu viel.

    Man muss einem Unsympathen als Ich-Erzähler folgen wollen.

    Womöglich macht mir das eine klare Einordnung für andere schwer.

    Aber, da man ja ohnehin nur den eigenen Eindruck schildern kann: Ich fand’s gut. Nicht, dass es mich aus den Socken geworfen hätte, aber gut.

    Eine Familie in Frankreich während des zweiten Weltkriegs, zur Zeit der Besetzung durch die Deutschen: Während sich der Vater in Kriegsgefangenschaft befindet, wohnt die Mutter mit ihren zwei erwachsenen Kindern und einem Schwiegerkind zusammen. Die jüngere Schwester des Ich-Erzählers hat ein Verhältnis mit einem SS-Mann, das mit schöner Regelmäßigkeit akustisch die halbe Straße unterhält. Der Erzähler selbst, er unterrichtet Deutsch, flüchtet sich wann immer er kann in den Keller, wo er sich einen versteckten Verhau eingerichtet hat. Dorthin hat er die Bücher gerettet, die die Deutschen längst dem Feuer überlassen haben: Werke nun verpönter Schriftsteller wie Heine, Arnold und Stefan Zweig, Schnitzler: „Feinde des Ewigen Deutschland“. Eines seiner liebsten Bücher hat er selbst in Deutschland gekauft, als er in Heidelberg studiert hat: eine in rotes Leder gebundene Ausgabe von „Der Tod in Venedig“. Verheiratet ist er mit Claude, die Ehe wurde aber nie vollzogen. Da die Schwiegereltern bereits über eine vielköpfige Enkelschar verfügen und Claude selbst nicht groß dagegen aufzubegehren scheint, hat man sich scheinbar einmütig mit diesem Zustand arrangiert.


    Während ich nun hier bereits über Personalpronomen und Bezeichnungen stolpere, die man nur mit gutem Willen für ein generisches Maskulinum halten kann, ist es an der Zeit zu erwähnen, dass der Ich-Erzähler dieses Romans keinen Namen hat, kein Gesicht, kein eindeutiges Geschlecht. Die „bessere Hälfte“ Claude kann genauso gut ein Mann wie eine Frau sein. So bleibt auch der Erzähler im Ungewissen.


    Eines Tages wird jene/r Ich-Erzähler/in zur Gestapo zitiert. Dabei hält er sich gerne heraus. Als ein junger Mann, den er schon als Kind kannte, auf offener Straße niedergeschossen wurde, rezitierte er in seinem Klassenzimmer weiter Wandrers Nachtlied. Zum Widerständler taugt er nicht, denn so jemand braucht mehrere Identitäten, während er nur eine einzige hat: die des Bewunderers deutscher Sprache und deutschsprachiger Literatur. Ein Kollaborateur möchte er aber auch nicht sein. Nun aber soll er als Übersetzer für die neuen Herren arbeiten, und er weiß nicht, sich dem zu entziehen. Von nun an bringt er viel Zeit mit Warten auf den Fluren des Gestapo-Hauptquartiers zu, sieht Dinge, hört Dinge, Menschen, die daraufhin spurlos verschwinden. Er begegnet der Kurzwarenhändlerin Madame Bloch, deren Nähe er als Kind gesucht hatte, um ein bisschen Wärme zu bekommen, und möchte am liebsten vor Scham im Boden versinken. Dann passiert etwas, das er sich nie hätte vorstellen können: Wieder einmal sieht er eine Person, die er von früher kennt. Unbehelligt spaziert er daraufhin mit dem polnischen Juden namens Herman aus dem Gebäude, gewährt ihm in seinem Bücherversteck Unterschlupf - und verliebt sich in ihn. Als er ihm ein verloren geglaubtes Buch überreicht - eine Übertragung von Heine-Gedichten ins Jiddische - haben die beiden zum ersten Mal Sex.


    Als dieses „Ich“ die Geschichte erzählt, sind über 60 Jahre vergangen. Aus ihm ist ein alter Mann oder eine alte Frau geworden. Er wendet sich an ein unbekanntes Gegenüber, das ihn zu interviewen scheint. Er hält mit nichts hinterm Berg, auch wenn ihm vieles nicht gerade zum Guten gereicht - eher im Gegenteil. Dass Claude sich das Leben genommen hat, während Herman im Keller versteckt war, und er womöglich nicht ganz unschuldig an diesem Entschluss gewesen sein könnte, sieht er ein - und beklagt gleichzeitig die „Verschwendung“, sich unbekleidet auf dem Ehebett zu richten, wenn man sich auch in einem vollbesetzten Nazi-Etablissement in die Luft hätte sprengen können. (Dabei dürfte nach einer Ehe, in der die Eheleute weder miteinander geschlafen noch geredet haben (denn: „Claude las nicht“), ein nackter Hintern als letzter Gruß zumindest als deutliches Statement verstanden werden, meine ich ...)

    Nein, sympathisch ist dieses „Ich“ nicht, nicht in jungen Jahren während des Krieges, und nicht im hohen Alter in Friedenszeiten, als Mann nicht und als Frau nicht. Oft erscheint dieses „Ich“ berechnend, distanziert, kaltschnäuzig bis kalt, dabei leicht kränkbar und fordernd. Er scheint auch keine wirkliche Beziehung zu seiner Mutter oder der Schwester zu haben. Das schadet dem kurzen Roman (gut 130 Seiten) aber meiner Meinung nach nicht. Vieles bleibt hier nur angedeutet. „Eine Liebe ohne Widerstand“ ist ein Roman mit Grautönen. Man darf eine originelle, aber keine romantisch-verklärte Geschichte erwarten. Der Autor hätte, egal ob zwischen Mann und Frau oder zwei Männern, eine dramatische Liebesgeschichte erzählen können. Obwohl es ein Befreiungsschlag für den Ich-Erzähler war, hat Rozier das aber nur sehr bedingt getan. Auf dem Buchumschlag ist die Rede von „zwei Menschen, die alles teilen“: Das ist freilich nur eine Seite der Medaille.


    Man könnte sich nun fragen: Warum alle Nebenfiguren vage und die Hauptfigur so gestalten, dass sie dermaßen schemenhaft bleibt, dass nicht einmal ihr Geschlecht offenbar wird?

    Wenn „Ich“ sich lakonisch rechtfertigt, dass das jüngste Kind in christlicheren Familien ohnehin im Kloster gelandet wäre - „In gewisser Weise war ich Claudes Priestertum“, spricht das für eine Frau. Der Lieblingsroman - und einige andere Hinweise (ganz zu schweigen von einem Ausrutscher (in der Übersetzung?) - deuten hingegen auf einen Mann.

    Man kann Belege für das eine oder das andere suchen und sich während der Lektüre auch diverse Male umentscheiden, oder man lässt es bleiben, entscheidet sich für einen Mann oder eine Frau. - Vielleicht ist das ja gerade Sinn und Zweck dieses erzählerischen Kniffs: dem Leser/der Leserin die Wahl zu lassen.


    Den Angaben im Buch zufolge ist/war der Autor (Jahrgang 1963) Stand 2005 Direktor des Hauses für jiddische Kultur in Paris.


    ASIN/ISBN: 3442733804

    Das neueste Technik-Gadget kommt in ganz und gar altmodischer, harmloser und zudem technisch längst etablierter Gestalt daher: Kentukis sehen aus wie ganz gewöhnliche Plüschtiere, Modell Panda, Kaninchen, Drache, Krähe, Maulwurf und einige mehr. Bloß, dass sie auf Räder montiert sind. Bloß, dass in ihrem Inneren eine Kamera steckt mit einer WLAN-Verbindung zu einem anderen Menschen. Ein Kentuki hat nämlich immer mindestens zwei Besitzer: den mit dem Plüschtier (der Herr/die Herrin) und den mit dem Zugangscode (das Kentuki oder das Wesen). Den, der sich zeigt, und den, der beobachtet. Am Anfang sind sie sich fremd. Sie können Kontinente voneinander getrennt sein. Wer mit wem verbunden wird, entscheidet die Herstellerfirma. Die Stimme des Herrn oder der Herrin, und nur diese, werden dem Wesen übersetzt. Das Kentuki kann nicht sprechen, aber Wege, miteinander zu kommunizieren, gibt es viele, so werden sich Herr/in und Kentuki zumindest einseitig mit der Zeit immer vertrauter.

    Was sich zunächst nur wie ein übergeschnapptes Spiel anhören mag, hat viele Tücken. Aber daran denken die meisten Käufer am Anfang entweder nicht - oder gerade das macht für sie den Reiz aus.


    Warum setzt sich einer - potentiell - ständiger Überwachung aus?

    Zum Spaß. Für den Kick. Aus Langeweile. Aus Berechnung. Aus Einsamkeit. Aus schierer Verzweiflung.

    Da sind die zwei Kaninchen-Kentukis, die der Betreiber eines Pflegeheims für die Bewohner gekauft hat: Läuft der Akku eines Kentukis leer, bricht die Verbindung unabänderlich ab. Ein Kentuki kann nicht wieder in Betrieb genommen werden - ein Kentuki, ein Leben. Oder aber wenn der am anderen Ende die Verbindung kappt. Zum Teufel mit dem Kaufpreis: Niemand möchte Kentuki in einem Pflegeheim sein!

    Da ist Alina, die ihrem Lebensgefährten Sven in eine Künstlerkolonie gefolgt ist, der Junge Marvin aus schwerreichem Haus, der nach dem Tod seiner Mutter so verzweifelt gerne Schnee sehen möchte, Emilia aus Lima, der die Firma ein Kentuki zugeteilt hat, das in der Wohnung einer Frau in Erfurt steht, die ihre Tochter sein könnte, da ist Enzo, dessen Ex-Frau ihm auf Anraten einer Psychologin einen Kentuki für ihren gemeinsamen Sohn „verordnet“ hat, da ist Grigor, der weder Herr noch Wesen sein will, aber wittert, wie die Wünsche Anderer ihn und seinen Vater aus ihrer prekären finanziellen Lage heraushelfen könnten.

    Beziehungen zwischen Kentuki und Herr können tragisch verlaufen, denn sie sind anfällig für Missverständnisse, einseitig aufkommende Wünsche, entstehende Abhängigkeiten. Was, wenn ein Wesen - Mann, Frau, Kind - mehr zu sehen bekommt, als es sehen möchte? Und manchmal stirbt der/die Herr/in eines Wesens, was dann?


    Schweblin hat eine fesselnde Geschichte geschrieben, mit Motiven, die in Form von Tamagotchi, Cayla, Paro, Alexa, Hikikomori, Big Brother … längst Realität sind. Dabei ist es aber nicht in erster Linie eine Geschichte über ein technisches Gimmick, sondern über (fehlende oder scheiternde) zwischenmenschliche Beziehungen, innerhalb Partnerschaften, Familien, mit Fremden. Es ist eine Geschichte über Beziehungen zwischen Kentuki und Herr, zwischen Menschen, in deren Leben ein Kentuki getreten ist, zwischen Kentukis untereinander. Auf dem Umschlag des Romans steht der Satz: „Hundert Augen ist ein visionärer Roman über unsere vernetzte Gegenwart und über den Zusammenprall von Menschlichkeit und Horror.“ Dem stimme ich in Gänze zu und füge hinzu: Es ist keine Dystopie, die da beschrieben wird: Auch wenn Kentukis an sich eine Erfindung der Autorin sind, hat die Bundesnetzagentur hierzulande doch ähnlichen Ansinnen (bislang) einen Riegel vorgeschoben.


    Mein Fazit: Das neue Jahr ist noch nicht alt, aber „Hundert Augen“ wird garantiert zu meinen Lese-Highlights 2022 zählen, das ist jetzt schon sicher.


    Die Autorin Samanta Schweblin wurde 1978 in Argentinien geboren und lebt in Berlin.


    ASIN/ISBN: 3518429663

    @ Tom:


    Auch über den Kölnberg gibt es einen Dokumentarfilm: „Am Kölnberg“ von Robin Humboldt und Laurentia Genske. Wenn ich den nicht gesehen hätte, wüsste ich gar nichts darüber, denn auch ich habe keine ehemaligen Mitschüler/Freunde/Kollegen, die dort wohnen.

    Der Schluss war insofern zugegeben zu kurz gefasst, weil es natürlich neben dem Trash-TV auch andere Formate gibt, die sich mit „solchen“ Milieus befassen.

    Aber in der erzählenden Literatur sind sie doch deutlich weniger vorhanden?


    Dass Du Juli Zeh erwähnst, ist interessant, denn gerade bei ihr hatte ich den - offenbar verkehrten - Eindruck, dass ihre Figuren (zumindest die Protagonisten, die Antoganisten nicht) eher „der“ Schicht angehört, die „Hündinnen Jochen-der-Rochen“ nennt, was man durchaus originell finden kann, schlichtere Menschen wie ich sich dann aber fragen, wie zum Henker man einen Hund ruft, wenn der sich gerade auf Nachbars Waldi stürzt, der Jochen-der-Rochen heißt (und ob man den Namen beugen muss: Schatz, hast Du schon Jochen-den-Rochen gefüttert?) 🙂. Ich weiß, das sind Vorurteile (und auch nicht ganz ernst gemeint), und hätte ich nicht einen Roman von Juli Zeh gelesen, der mir nicht gefallen hat, wäre ich längst wieder bei einem ihrer Romane gelandet!

    Zur Sache:


    Kesslers Polemik von 2014 „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn“ ist bei der Zeit noch hinter einer Bezahlschranke abzurufen; mittlerweile allerdings auch gewissermaßen überholt, da Kessler sich in der Folge offenbar teilweise selbst vom Inhalt distanziert hat.


    Wenn (oder doch falls …?) sich bestätigt, dass Literatur zum großen Teil aus einem bestimmten, ich nenne es mal „bildungsbürgerlichen“ Milieu heraus entsteht, dann bleiben gewisse Erfahrungen/Schauplätze, die in, um bei Kesslers Titel zu bleiben, „Medizinerhaushalten“ nicht vorkommen, auch in der Literatur außenvor, blitzen höchstens mal als Randerscheinungen auf, wenn sie denn, durch welche Fügung auch immer, gehört werden.


    Es braucht für manche Themen persönlichen Zugang, meine ich. Es ist nicht unmöglich, Milieus glaubhaft zu schildern, in denen man sich nie bewegt hat, aber es hilft ungemein, wenn man Einblick hat. Wenn einer aber zum Beispiel keine Mitschüler/Kollegen/Freunde hat, die - beispielsweise - auf dem Kölnberg wohnen (für Nichtkölner: ein Hochhauskomplex, einst als hochwertiges Wohnprojekt konzipiert, längst zum sozialen Brennpunkt verkommen), dann wird er darüber auch nie schreiben wollen. Dabei wären dort sehr wohl erzählenswerte Geschichten zu verorten. Andersherum: Wer dort Mitschüler/Kollegen/Freunde hat oder selbst dort lebt, wird sich in der Regel selten das Handwerkszeug aneignen können, um darüber zu schreiben. Möglicherweise wollte man auch nicht darüber schreiben, weil man sich damit zweifellos ein Stückweit offenbaren müsste. Also bleibt dieses Feld halt eher fragwürdigen Scripted Reality-Formaten überlassen, die ein sehr einseitiges Bild zeichnen. Man überlässt „solche“ Milieus allenfalls dem Trash-TV, während in der Literatur, im Genrebereich sowieso, eher - ich überspitze - auf schicken Ledersofas gesessen, Latte Macchiato geschlürft und Midlife-gekriselt wird.

    (Ich ahne, dass das ein Satz ist, mit dem ich das nächste Fass aufmachen könnte, deshalb gleich: Ich möchte niemandem vorschreiben, worüber er zu schreiben hat (!), und ich weiß, dass es eine Menge Romane gibt, die, selbst wenn (Achtung: Überspitzung) die Protagonisten auf Ledersofas sitzend Latte trinken, wichtige Themen aufgreifen, gut geschrieben sind etc. pp.)


    Man mag sich auch fragen: Wollte das denn überhaupt jemand lesen? Man kann den Leuten ja schließlich nicht verordnen, sich Milieus zuzuwenden, die sie mit Argwohn oder sogar Abscheu betrachten. Ein solches Ansinnen, wenn es sich denn im Bereich des Möglichen befände, läge mir auch fern. Andererseits: In den 1970er Jahren kam ein (Sach-) Buch über die Drogen- und Stricherszene groß raus („Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“). Ich meine: Wenn andere Milieus als die, in denen der Großteil der Autorinnen und Autoren aufgewachsen ist und in denen sie sich bewegen, mehr vorkämen, wäre es eine Bereicherung.

    Luke Roy lebt ein zurückgezogenes Leben in einer amerikanischen Küstenstadt, die durch den Bau einer Umgehungsstraße langsam aber sicher ins wirtschaftliche und politische Abseits zu geraten droht. Seine Eltern haben ihm den Trawler geschenkt, auf dem er lebt. Die beiden sind vor Jahren gemeinsam auf Weltreise gegangen und schicken ihm seitdem, aber auch schon Jahre nicht mehr, Ansichtskarten von unterwegs. Luke arbeitet in einer Fabrik, die Käse herstellt, seine zwischenmenschlichen Kontakte halten sich in Grenzen. Zwei Männer gibt es, Henry und Nestor, zu denen er eine Art freundschaftliche Beziehung unterhält; es scheint, als könne er sich nicht genügend abgrenzen, als ertrüge er es, wenn sie da sind. Wären sie es nicht, wäre das auch okay. Nicht erst seitdem Luke mit 14 bei einem Bootsausflug auf einem Teich fast ertrunken wäre, verspürt er eine tiefe Todessehnsucht in sich. Er schleppt sich durchs Leben, stellt sich tausend Möglichkeiten vor, wie er sich daraus verabschieden könnte.


    Eines Morgens steht er auf einer 35 Meter hohen Brücke, von der schon einige vor ihm in den Tod gegangen sind. Ein Sprung von der „richtigen“ Stelle ins Wasser darunter bedeutet den sicheren Tod, da sich dort, abgesehen von der schieren Höhe, gefährliche Strömungen und Felsen befinden. Luke reflektiert sein Leben, zaudert, überlegt, springt, hält sich fest, kann sich noch fangen. Just da kentert auf dem nahegelegenen Teich (eben dem) ein Boot und einer der Schiffbrüchigen gerät in den Fluss, der unter Luke tobend und brüllend Richtung Meer fliest. Er sieht die Person im Fluss treiben – und springt ins Wasser. Gegen jede Wahrscheinlichkeit kann er den dem Tode geweihten Jungen retten, schleppt ihn und sich selbst ans Ufer und überlässt den anderen der Obhut weiterer auf den Schiffbruch aufmerksam gewordenen Menschen. Schwer verletzt schleppt Luke sich nach Hause, versorgt notdürftig seine Wunden und legt sich ins Bett.


    Als einer seiner Freunde Stunden später auf dem Hausboot den Fernseher einschaltet, beherrschen die Nachrichten über den Bootsunfall und den aus den Fluten Geretteten die Lokalnachrichten. Es gibt kein anderes Thema, vor allem, da jemand die Ereignisse gefilmt hat. Die Medien schnappen über, und mit ihnen die Zuschauer. Luke Roy gerät in einen Strudel unglaublichen Ausmaßes. Ein Lokalpolitiker nötigt ihn, sich mit ihm fotografieren zu lassen, bald kampieren Schaulustige auf der Wiese vor seinem Hausboot und skandieren Lukes Namen, lokale und überregionale Medien aller Art entsenden ein Heer von Berichterstattern. In den sozialen Medien werden private Dokumente über ihn hochgeladen. Luke ist von einem Niemand zur Person öffentlichen Interesses geworden, das Letzte, was er sich wünscht. Er wehrt sich verzweifelt, kommt aber gegen die, die ihn feiern und die, die von seinem Ruhm ein Stück abhaben wollen, nicht an. Ein Held, der sein eigenes Leben altruistisch aufs Spiel gesetzt hat, um ein anderes Leben zu retten – das ist die Nachricht.

    Oder, vielleicht war es auch ganz anderes? „Warum sind Sie weggelaufen, Mr. Roy?“, fragt eine Reporterin, und dann taucht ein zweites Video auf, das den Schluss nahelegt, dass Luke sich doch eigentlich das Leben nehmen wollte. Wie unglaublich empörend, dass er vor allen den Helden gespielt hat! Die Meute hat neues Futter bekommen, die Stimmung dreht sich, jetzt gegen den Mann, den sie eben noch enthusiastisch gefeiert hat.


    Nachdem ich vor einigen Jahren von Gerard Donovans „Winter in Maine“ restlos begeistert war, freute ich mich auf diesen neuen Roman. Während in „Winter in Maine“ ein Mann sich nach diversen Enttäuschungen in eine Hütte im Wald zurückzieht, seine einzige Gesellschaft Bücher und sein Hund, gerät sein Leben aus den Fugen, als Wilderer seinen Hund erschießen, woraufhin er beschließt, Rache zu nehmen. Auch „In die Arme der Flut“ spielt in Maine, auch hier steht ein Außenseiter der Gesellschaft im Mittelpunkt, dessen Leben sich unvermittelt auf den Kopf stellt. Im Gegensatz zu „Winter in Maine“ hat mich die Lektüre dieses neuen Romans aber vor einige Schwierigkeiten gestellt:


    Ich kenne womöglich nur eine auch nur annähernd so ausführliche Einführung eines Charakters, wie sie in diesem Roman vorliegt, nämlich aus Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“. Auch dort wird eine Gruppe Freunde sehr breit, sehr intensiv eingeführt. „Ein wenig Leben“ entfaltet dann, nach der Einführung, eine ungeheure erzählerische Wucht. Mir wäre ein eindrückliches Leseerlebnis entgangen, wäre ich nicht über diese lange Exposition hinausgekommen. Seite um Seite (70? 100? - schwer zu sagen, weil ich das Hörbuch gehört habe) legt Donovan Luke Roys Vergangenheit, vor allem aber sein Innenleben dar. Der Autor tut das in einer anspruchsvollen Weise, sehr gut geschrieben ist das, zweifellos. Man kann in diesem Stil versinken, sich daran freuen, sich Formulierungen merken und wünschen, man verfügte auch nur annähernd über dieses Können. Sehnt man sich irgendwann jedoch, wie ich, nach Handlung, weil das Interesse an dem Charakter Luke Roy nie so richtig entstanden ist, dann kann man das auch so empfinden: Es ermüdet. Es ist zu viel. Es verpufft. Es rauscht durch.


    Ein weiterer Punkt, der für mich „In die Arme der Flut“ schwer lesbar gemacht hat, ist der „Medien-Sprech“, dieser aufgesetzte, orchestrierte, von amerikanischen News-Formaten längst nach Deutschland übergeschwappte Stil, in dem sich Moderatoren gegenseitig Bälle zuwerfen, mitunter sogar die Sätze des anderen beenden. Donovan legt diesen Stil bloß, dafür muss er ihn selbstverständlich auch zeigen – für mich aber ein weiteres Hindernis, mich auf den Roman so einzulassen, wie er es eigentlich verdient hätte. (Gut möglich, dass diese Dialoge in gedruckter Form besser erträglich sind als in der gesprochenen.)


    Zuletzt gibt es dann noch einen nicht vorhersehbaren Twist. Das Leben spielt so, Romane meistens nicht. Das, was nach diesem Bruch kommt, halte ich für den besten Teil des Romans, und dennoch: Dieser Bruch ist einer von der Sorte, die einen Leser auch vor den Kopf stoßen kann.


    Donovan legt einen Finger in die Wunde. Es ist geradezu irrwitzig und tut mitunter weh, diesem Treiben, in das der Protagonist hineingestoßen wird, zu folgen. Dass und wie der Roman das bloßlegt – die Oberflächlichkeit, die Sensationsgier, die Verlogenheit, das leere Blabla gewählter Politiker, die Art und Weise, einen Menschen als Lieferanten einer Story durch die Mangel zu drehen oder für eigene Karrierezwecke zu missbrauchen – das gehört zweifellos zu den Stärken des Romans. Was man bereits vor Jahrzehnten bei Heinrich Böll und Günter Wallraff als Kritik an Boulevardmedien lesen konnte, erhält bei Gerard Donovan zusätzlichen Brennstoff, weil mittlerweile die sozialen Medien erfunden und zum Schauplatz schier unfassbar zynischer Zustände geworden sind.


    Trotzdem ich es nicht leicht hatte, mich mit diesem Roman anzufreunden: „In die Arme der Flut“ ist ein trauriger, ein erschütternder Roman eines klugen Verfassers, der als Medien- und Gesellschaftskritik absolut berechtigt ist und der darüber hinaus viele Sätze und Passagen aufweist, die man sich am liebsten anstreichen möchte.


    ASIN/ISBN: 363087651X

    Kessler sprach hier also zwei Bereiche an: 1. eine Beschneidung der Themen: Worüber wird überhaupt geschrieben? 2. wer kann es sich leisten, hauptberuflich Schriftsteller zu werden?


    (…)


    Sich selbst als freiberuflichen Schriftsteller zu bezeichnen, wenn man (oder der Ehepartner) eigentlich noch eine Reihe anderer Dinge tut, um Miete und Mittagessen zu bezahlen, empfinde ich als unredlich. Das mag dem Ego schmeicheln oder deutlich machen, wo man seine "Berufung" sieht, verzerrt aber die Realität.

    Ich stelle hier nochmal den Zusammenhang her, in dem die von Dir monierte Äußerung getan wurde. Daraus liest Du eine Anklage oder einen Vorwurf, forderst mich seit gefühlt 20 Beiträgen auf, diese Aussage zu revidieren und findest es penetrant, wenn ich das nicht tue. Horst-Dieter, wenn Du ein anderes (Selbst-) Verständnis hast, dann ist das so - das darfst Du, das darf jeder so sehen wie er will. Darum ging und geht es mir bloß nicht. Es geht um eine Sache. Es ist keine persönlich gemeinte oder vage in die Runde abgeschossene Diffamierung - als die Du diesen einen Satz offenbar auffasst.

    Ich habe keine Ahnung, was ein Borg-Würfel ist, aber ich fühle mich höchstwahrscheinlich auch gerade, als wäre ich einem begegnet.


    Horst-Dieter, in meinem Beitrag # 58 steht "empfinde ich als unredlich". Das steht aus gutem Grund so da, und nicht etwa "ist unredlich". Ich behaupte nicht, dass es so ist und möchte auch niemandem Scham einreden oder das Recht nehmen, anders darüber zu denken.

    Ausgerechnet am 24. Dezember bringt eine Jüdin in einem katholischen Krankenhaus in Frankfurt kurz nach Kriegsende einen Jungen zur Welt. Der diensthabende Arzt schlägt nach getaner Arbeit militärisch die Hacken zusammen, die Oberschwester tut sich schwer mit dem Wort „jüdisch“, und die Kinderschwester, eine Nonne, ist so verunsichert, dass sie den Säugling am liebsten gar nicht berühren möchte. Nur die Hebamme, Helga, geht pragmatisch mit der Situation um: Der einzige Junge auf der Neugeborenenstation mache bestimmt eine gute Figur bei der Weihnachtsfeier der Belegschaft: als lebendige Verkörperung des Jesuskindes in der Krippe.


    Trotzdem man ahnt, dass hier in der Folge kein unbeschwertes Thema behandelt werden könnte, ist es leicht, in diesen Roman einzusteigen: Der Ich-Erzähler des ersten Kapitels ist nämlich der Säugling selbst. Und zwar (und das kann es jetzt für einige retten oder aber noch schlimmer machen) ein altkluger und selbstherrlicher.

    So eine Figur im Umfeld des hochgradig verstörenden Themas Shoah ist natürlich nicht unheikel. Mit dieser Überhöhung, durch Bärel als unmissverständlich fantastische Kunstfigur in den Roman einzuführen, gelingt es der Autorin aber tatsächlich, Beklommenheit zu zerstreuen. Hinter allem steht die Frage: Darf man denn überhaupt in erzählender Weise über dieses Grauen schreiben? Minka Pradelski hat es in einer anfangs womöglich gewagten, wohl aber auch sehr gut lesbaren Art getan.


    Klara und Leon Bromberger sind polnische Juden, die sich in einem Displaced Persons Camp der Amerikaner nahe Frankfurt kennengelernt haben. Ihr Sohn, den sie Bärel nennen, verschleißt bereits als Säugling Kindermädchen um Kindermädchen. Die Hebamme Helga, die sich in die Dienste der Eltern hat abwerben lassen, liebt ihr „Bärchen“ zwar, kapituliert aber vor seiner rasanten Entwicklung. Mehr Kobold als Kind, malträtiert und vergrault er die, die sich nach ihr um ihn kümmern sollen. Nachdem seine Eltern es schließlich aufgeben, Kinderschwestern anzustellen, lässt Bärel es gut sein – um eine Bluttat zu vermeiden, die die beiden Alten sonst an ihm verüben könnten – und gibt sich altersgemäß kleinkindhaft in die Obhut der Mutter.

    Bei einem Spaziergang mit Bärel im Park begegnet Klara einer Frau, die sie aus ihrer Vergangenheit kennt. Im Konzentrationslager haben die Insassinnen die zierliche Frau mit der Kinderstimme heimlich Liliput genannt. Der Schmerz der Erinnerung und die Verbitterung, die Oberaufseherin frei – und hochschwanger – zu sehen, droht Klara zu zerbrechen. Leon stellt sie vor ein Ultimatum: Aufschreiben soll sie alles, was sie erlebt hat, oder er gebe den vernachlässigten Bärel fort.

    Klara will Bärel behalten, also beginnt sie zu schreiben. Sie erzählt von der Zeit mit ihren Eltern im Ghetto Zamość, ihrer Flucht, der Zeit im Lager und als Zwangsarbeiterin in einer Rüstungsfabrik.

    Sie übernimmt damit im Roman die zweite Erzählstimme von insgesamt dreien – Vater, Mutter, Kind.


    Als die Stimme der Erwachsenen Klara der der Heranwachsenden wich, verlor mich der Roman ein Stückweit. Hinter den Stationen des jungen Mädchens im besetzten Polen schien mir zudem zu sehr das Muster der Heldenreise durch – dem Roman das vorzuwerfen, wäre aber verfehlt. Die Figuren, denen Klara auf ihrer Flucht begegnet, schienen mir märchenhaft, überzeichnet. Aber auch das – eine zwielichtige Frau in ihrem Hexenhäuschen am Rande der Stadt, eine überaus schöne Frau, die mit einem SS-Offizier, als personifiziertem Vertreter des Bösen, ins Bett geht – hat System: Alles bewegt sich durchaus im Rahmen des Möglichen, fügt sich aber auch ein in das Muster der Überhöhung, die in Gestalt des Bärel begonnen hat.


    Eines der hervorstechenden Themen des Romans sind Eltern-Kind-Beziehungen.

    Bärels Vater denkt am Tag der Geburt schon an sein eigenes Ableben: Mein Kaddisch-Sager ist geboren, sagt er im Kreißsaal, denkt ausgerechnet da an seinen eigenen Tod. Aber warum auch nicht ausgerechnet da. Es ist der Lauf der Welt. Und er spricht vom Fortbestand seines Volkes, zu dem sein Sohn nun gehört.

    Klaras Eltern ermöglichen ihrem Kind die Flucht aus dem Ghetto. Als Klara selbst Mutter wird, reflektiert sie ihr bisheriges Leben. Wie viele Überlebende bezichtigt sie sich selbst der Schlechtigkeit: Wie kann es sonst sein, dass sie überlebt hat, wenn so viele andere, „bessere“ Menschen in den Tod gegangen sind? Ihre Mutter hatte ihr vorgehalten, immer nur zu nehmen. Milch hat sie im Überfluss, mit dem neugeborenen Bärel aber wird sie nicht recht warm.


    „Es wird wieder Tag“ ist ein Roman über den selten beleuchteten Aspekt, wie Verfolgte, Mitläufer und Täter nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland zusammenlebten, ein Buch auch über die Auseinandersetzung mit traumatisierenden Erlebnissen durch den Prozess des Aufschreibens, über Aushaltenlernen und über Beziehungen (Mann/Frau, Eltern/Kind).


    Die Autorin Minka Pradelski wurde 1947 als Tochter von Holocaust-Überlebenden in einem Frankfurter Lager für Displaced Persons geboren. „Es wird wieder Tag“ ist ihr 2020 veröffentlichter zweiter Roman (auch als Hörbuch erhältlich).


    ASIN/ISBN: 3627002776

    Aber es ist für die Genannten Augenwischerei und Selbstbetrug, wenn sie sich als Künstler bezeichnen (bzw. bezeichnet haben) - oder?

    Ich weiß gar nicht, wie man das in meine Aussage hineindeuten kann. Du bringst Namen von hochkarätigen Schriftstellern ins Spiel, deren Können unbestritten ist und die (so noch unter uns) durchaus von ihrem Schreiben leben könnten. - Also, nochmal: Nein.


    "Das Ergebnis ist ausschlaggebend"? Ja. - Und wenn ich sich schlecht verkaufende Romane - ob die nun mies oder brillant sind - produziere, dabei aber darauf beharre, freier Schriftsteller zu sein, dann stimmt da für mich etwas nicht. Ich kann mich zum Schreiben berufen fühlen, vielleicht bin ich es sogar, aber das ist dann nicht mein Beruf.

    Mag sein, dass wir ein unterschiedliches Verständnis des Begriffs "Beruf" haben.

    Beruf ist Beruf. Es ist egal, was der Lebenspartner macht, wenn der Beruf ausgeübt wird und vorzeigbare Ergebnisse bringt - also Buch- oder sonstige Veröffentlichungen (keinen Selbstverlag!) – dann ist das nicht unredlich sondern seriös. Egal, ob der Ehepartner mehr verdient oder nicht. Wenn beide Ehepartner einen anderen Berruf ausüben, sagt man ja auch nicht zu dem, der weniger verdient, es sei unredlich, wenn er sich Arbeitnehmer oder meinetwegen auch Freiberufler (zum Beispiel als Handwerker) nennt.

    Die einen sagen so, die anderen sagen so 🙂


    Hinter der Vokabel „unredlich“ steht für mich nicht etwa eine moralische Gewissensfrage. Wenn man finanzielle Absicherung ausklammert, kann natürlich jeder jederzeit für sich beanspruchen, Künstler, also auch Schriftsteller, zu sein bzw. dazu berufen zu sein oder sich berufen zu fühlen. Bloß dann nicht „hauptberuflich“. Dieser Zusatz macht es für mich zur Augenwischerei und ein Stückweit zum Selbstbetrug.

    Ein Mann reist mit dem Zug von Stadt zu Stadt. Er fährt von Berlin nach Hamburg, und danach nach Aachen, Mönchengladbach, Dortmund, Dresden … Irgendwann trägt der Kaufmann eine große Summe Geldes mit sich herum, dann wieder ist er fast mittellos. Hier steigt er in Hotels ab, mal in einem der besten Häuser am Platz, dann in schlichten Herbergen, einmal mietet er sich bei einem etwas wunderlichen alten Ehepaar ein, dann wieder muss er ganz ohne Bett auskommen. Der „Reisende“ kommt mit Fremden ins Gespräch, trifft auf alte Bekannte, auf eine Frau, die allen Umständen zum Trotz eine starke Anziehung auf ihn ausübt. Der Mann reist nicht zum Vergnügen, er ist auf der Flucht. Gut, dass sein Gesicht nicht weiter auffällt, dennoch kann einer in diesen Zeiten gar nicht wachsam genug sein: Wir befinden uns in Deutschland im November 1938. Die Wohnung des Mannes ist verwüstet worden, seine Frau zu ihrem Bruder geflüchtet. Für ihn ist dort kein Platz, denn der Kaufmann Otto Silbermann ist Jude, und sein Schwager in der Partei.


    Boschwitz nimmt den Leser in seinem Roman „Der Reisende“ mit auf die Odyssee eines Mannes, der trotz schlagkräftiger Beweise manchmal immer noch nicht fassen kann, wie er vom wohlhabenden Firmeninhaber in die Position eines Rechtlosen und Verfolgten geglitten ist. Das führt zu teils absurden Situationen, in denen Silbermann sich selbst erinnern muss, dass für ihn jetzt andere Regeln gelten. Herausgerissen aus der Gemeinschaft ist er, auf sich selbst gestellt, der Gnade von Profiteuren, die ihre Stunde gekommen sehen, ausgeliefert.


    Die Begegnungen Silbermanns sind sehr lebendig geschildert, verschiedene Charaktere der Zeit werden in treffenden Dialogen offenbar. Silbermann selbst wird als eine ambivalente Person geschildert. Für das deutsche Kaiserreich im Krieg gewesen, ein geachtetes und erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft, trägt er, wie anders kaum möglich, nicht nur schwer an seinem Schicksal, in schwachen Momenten sucht er auch nach Schuldigen unter gleichermaßen Verfolgten, was bei einigen Begegnungen mit anderen jüdischen Männern schmerzhaft deutlich wird. Die Irrfahrten Silbermanns sind beklemmend, es gelingt dem Autor, die Bemühungen seines Protagonisten sehr lebendig zu schildern, man geht mit, kann mit ihm hoffen und um ihn bangen. Silbermann fährt mit der Reichsbahn in Coupés der ersten, zweiten und dritten Klasse durch eine oft absurd erscheinende Welt, die doch keine Erfindung eines fantasiebegabten Autors, sondern historisch verbürgt ist.

    Ulrich Alexander Boschwitz war der Sohn eines jüdischen Kaufmanns und einer protestantischen Mutter. 1935 verließ Boschwitz mit seiner Mutter Deutschland.

    Der Roman wurde erstmals in England und den USA 1939 unter dem Titel „The Man Who Took Trains“ und unter Verwendung des Pseudonyms John Grane veröffentlicht. Bestrebungen, den Roman in den 1950er Jahren in Deutschland verlegen zu lassen, u. a. durch Heinrich Böll, scheiterten. Es dauerte schließlich bis 2019, bis der Roman in deutscher Übersetzung - in einer lektorierten Fassung, die die Ereignisse für heutige Leser umso eindrücklicher erscheinen lässt - in einem kleinen Verlag erschien. Als wahrscheinlich früheste literarische Auseinandersetzung mit den Novemberpogromen, erstellt von einem Verfasser, der seinem Thema sehr nah war, erhielt der Roman so letztendlich auch hierzulande einige Aufmerksamkeit. Mittlerweile ist auch eine Hörbuchfassung erschienen.

    Boschwitz starb 1942 im Alter von nur 27 Jahren, als das Flüchtlingsschiff, auf dem er sich befand, von einem deutschen U-Boot torpediert wurde. Im Berliner Stadtteil Charlottenburg-Wilmersdorf wurde auf dem Hohenzollerndamm vor dem Haus Nr. 81 ein Stolperstein für den Schriftsteller verlegt.


    ASIN/ISBN: 1794717382

    Ich würde die Aufmerksamkeit von der gegenseitigen Schienbeintreterei gerne zurück aufs Thema lenken:


    Frau Ammlinger (über die Gruppe47 in den 1970er Jahren): "eine geschlossene Gemeinschaft, die Ressourcen unter sich verteilt hat."

    (...)

    Die Autorinnen und Autoren, mit denen ich gesprochen habe, haben eigentlich schon ein sehr kluges Erwerbs- und Lebenssystem entwickelt, das die Autonomie des Schreibens ermöglicht.

    (...)

    Es ist zudem nicht außer Acht zu lassen, dass sie oft über ihren Partner oder Partnerin finanziell abgesichert sind."

    Die Welt bringt dann Florian Kessler ins Spiel, der mit einem Artikel namens "Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn" 2014 eine Diskussion auslöste. Zitat: "Kessler sah darin nicht nur inhaltlich ein Manko, weil bestimmte Themen gar nicht in den veröffentlichten Büchern vorkämen, er empfand es auch als ungerecht, dass das Elternhaus darüber entscheidet, ob man die Schriftstellerkarriere einschlagen kann oder nicht."

    Amlinger antwortet darauf, dass es "soziale Passungsverhältnisse" gebe. Zitat: "Das heißt zusammengefasst, es setzt sich nicht unbedingt Talent durch, sondern soziale Passung."

    Quelle: „Der Schriftsteller ist ein Außenseiter der Gesellschaft“

    (Hervorhebung durch Fettdruck stammt von mir.)


    Kessler sprach hier also zwei Bereiche an: 1. eine Beschneidung der Themen: Worüber wird überhaupt geschrieben? 2. wer kann es sich leisten, hauptberuflich Schriftsteller zu werden?

    Dass diese beiden Aspekte sich auch untereinander bedingen, versteht sich von selbst. Und deshalb glaube ich, dass manche Bereiche in der Literatur stärker beleuchtet werden und andere schwächer.


    Ich habe - wie üblich - keine Zahlen, meine aber, dass es durchaus bekannte Schriftsteller/Schriftstellerinnen gibt, die nennenswert Romane veröffentlichen und dennoch auch in einem anderen Beruf tätig sind. Aus welchem Grund, ist nicht wirklich wichtig. Vielleicht genügt es manchen, die es könnten, ganz einfach nicht, ausschließlich zu schreiben. Umgekehrt: Sich selbst als freiberuflichen Schriftsteller zu bezeichnen, wenn man (oder der Ehepartner) eigentlich noch eine Reihe anderer Dinge tut, um Miete und Mittagessen zu bezahlen, empfinde ich als unredlich. Das mag dem Ego schmeicheln oder deutlich machen, wo man seine "Berufung" sieht, verzerrt aber die Realität.


    Und deshalb meine ich: Ja, ein Studium, egal welches, ist eine gute Ausgangsbasis, auch für das Schreiben, weil Bildung einem grundsätzlich mehr Möglichkeiten eröffnet. Und das ist eigentlich so offensichtlich, dass man sich zumindest darüber gar nicht streiten muss.

    Ich könnte mir vorstellen 🙂, dass nach einem nicht ganz so gut verkauften Buch das nächste des Autors möglicherweise mit einer geringeren Vorauszahlung an den Start geht: ein Verlag lässt Vorsicht walten, da das Geld ja nicht zurückfließt, wenn das Buch unter den Erwartungen bleibt.

    Genauso, dass einer, der regelmäßig Bücher einkauft, die zu Bestsellern werden, einen besseren Stand hat als einer, der immer daneben liegt - außer, ein Verlag leistet sich „Herzensprojekte“/Prestigeprojekte, von denen man von vornherein weiß, dass die gut sind, gute Kritiken erhalten, sie sich aber nicht groß verkaufen werden - eine Art „Mischkalkulation“: Bestseller ziehen von vornherein nicht so gut kalkulierte Bücher mit durch.


    Darum ging es mir freilich nicht.

    Würde man strenger teilen, also nur die mit echtem Abschluss, nehmen, und den Rest zu den "Nichtstudierten" rechnen, käme sicher eine andere Gewichtung heraus. Sagen wir mal "gefühlt" halbe-halbe.

    Gefühlt: nein.

    Aber das ist eben das Problem: Wenn es keine Daten dazu gibt, „fühlt“ halt der eine dies und der andere das. Was in dem von Tom verlinkten Artikel steht, weist aber doch schon mal in eine andere Richtung als halbe-halbe, oder nicht?

    Hier wird Mythenbildung betrieben. Und das, mit Verlaub, in der Hauptsache von Leuten, die (noch) relativ wenig Branchenkenntnisse/-erfahrungen vorweisen können. Um mal diesen Aspekt zu beleuchten. ;)

    Also, ich habe eine Sache zur Diskussion gestellt, keine Behauptung aufgestellt. Und das, weil sich mir als Leserin diese Frage gestellt hat - mit Einschränkungen, die „Stichprobe“ betreffend, die ja gar nicht repräsentativ sein kann.


    Mir ging es auch gar nicht um die Idee, dass da Leute in den Verlagen säßen, die die Lebensläufe der Autoren nach deren Bildungsgrad abklopfen würden. Wenn ein Manuskript überzeugt, überzeugt es.