Beiträge von Petra

    Gorkow lautet der Nachname des Autors, und Gorkow heißt auch der Ich-Erzähler dieses Romans, der in den 1970-er Jahren am Niederrhein spielt. – Zack, da gehen bei manchen ja schon die Alarmglocken an! Nicht wegen „Niederrhein“ (oder auch?), aber wegen einer möglicherweise vermuteten und eher verpönten Selbstbespiegelung. Dabei speist sich doch einiges, worüber Schriftsteller in Romanen schreiben, aus eigener Erfahrung und Erinnerung …? „Parfüm am Kaufen“, „Lolly am Lutschen“, Roman am Schreiben. So halt.


    Wir befinden uns also in einer Kleinstadt im Rheinland in den Siebzigern. Im Fernsehen läuft die Hitparade, gerne mit Heino, Gerhard Klarner ist Nachrichtensprecher. Im Kino wird „Die Nacht der reitenden Leichen“ im Vormittagsprogramm gezeigt – bis der Jugendschutz einschreitet. Dann nimmt der Betreiber zum Beispiel die alten Schwarzweißfilme mit Godzilla und King Kong wieder ins Programm, vorübergehend, bis Gras darüber gewachsen ist. Die „reitenden Leichen“ müssen sich schließlich amortisieren.

    Der Krieg ist so lange noch nicht her, und so trifft man allenthalben noch auf Altnazis, auf jeden Fall aber auf sehr rigorose Einstellungen. Die Lehrerinnen werden Fräulein gerufen, dem Pfarrer rutscht schon einmal die Hand aus. Auf dem Schulhof gilt das Recht des Stärkeren, der Ich-Erzähler behauptet sich ganz passabel, was nicht unbedingt gesagt ist, da er an einer Sprachstörung leidet, er stottert. Nur sein Freund Huby darf im Unterricht nicht bestraft werden, denn Huby ist, so hieß das damals, mongoloid. Einem anderen Freund wirft die gelangweilte Mutter kleine Goldbarren in den familieneigenen Pool, nach denen die Jungen tauchen dürfen.

    Die Gorkow-Familie besteht neben den Eltern noch aus der älteren Schwester, die an einem angeborenen Herzfehler erkrankt ist und die dem Bruder gerne boshafte Märchen auftischt, in denen Musiker die Bösewichte sind, die es auf kleine Kinder abgesehen haben. Der Vater ist, wenn er nicht im Büro ist, sehr stolz auf seine Rosen, was vor allem einem inflationären Einsatz der Giftspritze zu verdanken ist. Ob seine Kinder ihm bei der Gartenarbeit helfen möchten? Wenn diese besseres zu tun haben, kann die Antwort der Mutter auf eine diesbezügliche Anfrage schon einmal stellvertretend abschlägig lauten: „Die Kinder hören Pink Floyd“. So wie: „Die Kinder machen Hausaufgaben“. Diese englische Band hat es den Geschwistern besonders angetan, die Schwester schreibt Briefe nach London, und selbst der Vater ist bereit, sich diese Musik mit seinen Kindern anzuhören, sogar auf dem guten Plattenspieler, dem Thorens, dessen Handhabung an nichts weniger als eine kultisch-religiöse Zeremonie erinnert. Leichtsinnigerweise, muss man sagen, fürchtet der Vater doch irgendwann, die Platte von Pink Floyd könne das Gerät geradeweg pulverisieren.


    Insgesamt: Es gab für mich ein paar Längen, der Tonfall, das Absurde, ist, so konstant durchbehalten, irgendwann auch keine Überraschung mehr, am Ende ist der Junge erwachsen und ich bin mir noch uneins, ob es das gebraucht hätte oder das im Gegenteil die Geschichte erst rund macht, aber im Ganzen: Daumen hoch.

    Man merkt: Hier am Niederrhein, Mitte der Siebzigerjahre, ist der ganz normale Wahnsinn zu Hause. Und das Ulkige daran ist: Obwohl Alexander Gorkow (der Autor) Figuren, Situationen, Dialoge völlig überzeichnet, ins Wahnwitzige steigert … kam mir das eine oder andere irgendwie seltsam vertraut vor.


    ASIN/ISBN: 3462052985

    Zitat Jürgen:

    So wie mir geht es zweifellos vielen anderen Menschen und weil das so ist, halte ich es für gerechtfertigt, eine Art von Verhältnismäßigkeit anzumahnen, was die Aufmerksamkeit sowie die mediale Präsenz und die Gelegenheit zur (Selbst)Darstellung einer jeden Gruppe betrifft, die unverhältnismäßig oft Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt ist, und dass diese Verhältnismäßigkeit auch die Anzahl der Individuen spiegelt, die sich einer solchen Gruppe zugehörig fühlen.

    Zitatende


    (Ich gehöre zur Gruppe derer, die am Smartphone ab und an zwei linke Hände haben, daher so zitiert.)


    Wie soll eine solche Verhältnismäßigkeit aussehen, frage ich mich da. Zudem noch, wo auch die Zahl der Betroffenen berücksichtigt werden soll? Wie viele Schubladen sollen da aufgemacht werden? Und berücksichtigen wir auch die Zeiten, in denen man nicht über die und die Gruppe gesprochen hat? Wird ihnen diese Null-Zeit dann etwa gutgeschrieben?


    Es geht, wenn Menschen, die aus einem bestimmten Grund ausgegrenzt werden, sichtbarer in Erscheinung treten, auch darum, die zu stärken, die sich nicht trauen, zu sich zu stehen. Da ist jemand wie Kim de l’Horizon ein Vorbild.

    Zudem kenne ich jetzt auch nicht so viele Romane, in denen dieses Thema nun besonders „breitgetreten“ wird. Anstatt daher zu sagen, fein, da hat jemand auf einem offenbar doch hohen künstlerischen, literarischen Niveau (setze ich jetzt einfach mal als gegeben voraus, obwohl sich daran natürlich auch wieder die Geister scheiden werden) etwas zu einem Thema vorgelegt, das es noch nicht allzu oft gibt, argumentierst Du, Jürgen: „Gibt es nicht Gruppen, über die man endlich auch mal reden sollte?“

    Ja, sollte man, zweifellos, bloß ist der Anlass im vorliegenden Fall ein anderer. Kann man das so wenig tolerieren, selbst nicht im Wissen darum, dass immerhin die vage Möglichkeit besteht, dass sich nächstes Jahr keiner mehr an Kim de l’Horizon erinnern wird werden können?

    Da hat eine Person einen Roman geschrieben. Über Dinge, die ihr offenbar wichtig sind. Das scheint ihr irgendwie ganz gut gelungen zu sein, jedenfalls hat das Werk schon zwei Preise eingefahren. Oder passiert das grundsätzlich, wenn etwas den Zeitgeist erfüllt? Sonst könnten wir uns ja an diesen Zug anhängen. Nein?


    Nun hätte „man“ den Preis auch in Jeans und T-Shirt abholen können statt im Glitzerrock. Und hätte so keinen Shitstorm eingefahren - Bilder machen‘s, nicht Text! Das Buch liest eh keiner von denen, die in Social Media am lautesten schreien.

    Hätte, hätte, muss aber nicht.

    Wow, da ist aber mal eine bitter drauf.


    Ich finde das etwas entlarvend, wie das Publikum da bei der Preisverleihung im Saal saß. Gesang. Wie jetzt? Stille. Ok … Soll man das jetzt beklatschen …? Ja, machen wir mal … mit. Dann steht auch noch eine auf! Sollen wir das jetzt einer Standing Ovation wert befinden …?! Doch, wird schon. - Wenn das mal keine kollektive Überforderung war!

    Ich habe die Idee der Syrer-Flüchtlingsbuches dieser "Kultur-Prüfungs-Kommission", besser bekannt als "sensitive reader", vorgelegt. Von da kam postwendend die Aussage: "Auf gar keinen Fall! Wenn, dann muss der Syrer das Buch selbst schreiben! Kein weißer deutscher Mann hat in diesem Buch etwas zu suchen."

    Das ist ein Punkt, der mir in der Diskussion Unbehagen bereitet (Passenderweise 🙂): Dieser Anspruch, dass niemand über etwas zu schreiben habe, das er nicht aus eigener Erfahrung kenne, bedeutet doch auch, dass manche Themen bzw. Einstellungen überhaupt nicht oder nur am Rande vorkommen. Das kann es nicht sein, wenn nicht jedem die gleichen Fähigkeiten gegeben sind, sich zu äußern.

    Geht hier nicht einiges durcheinander? Die neuen in Rede stehenden Romane, der Film, Karl May … und manchmal auch die Argumente. Auf der einen Seite kann man ja durchaus das Recht eines Autors hochhalten, das zu schreiben, was er möchte, auch über Lebenswirklichkeiten, die ihm persönlich ferner nicht sein könnten, und auch die Befähigung dazu darf man ihm durchaus zutrauen - auf der anderen Seite geht es hier aber ausgerechnet um ein Buch (oder mehrere), die nun gerade nicht von besonderer Lebensnähe geprägt sind. Das Recht eines Autors, Märchen zu erzählen, wird demnach höher geschätzt als die Interessen Angehöriger einer Minderheit, die - verallgemeinernd gesprochen - sich womöglich ja aus gutem Grund nicht immerzu als Klischeefigur dargestellt sehen möchte. Wobei hier erschwerend hinzukommt, dass ihre Familien womöglich schon schlimmer behandelt worden sind als die Schriftsteller, deren Werk nun verpönt ist, was aber sooo bekannt nicht ist, vielleicht ja auch deshalb, weil es dieses Bild vom „edlen Wilden“ gibt, das sich vielen von uns eingeprägt hat.


    Ja, die Autoren dieser vom Verlag nun zurückgezogener Bücher haben die A-Karte gezogen. Der Verlag hätte zu seinem offenbar im Buch vorhandenen Disclaimer, wonach es sich um eine romantisierende Darstellung handelt, fester stehen können - oder es von vornherein lassen können.


    Ja, es ist ein Unterhaltungsstoff. Weil diese Art Fiktion natürlich weit angenehmer zu lesen ist als die Wirklichkeit. Diskreditiert diese Erzählung? Wahrscheinlich nicht. Außer vielleicht, man zementiert so ein geschöntes Bild, das die Realität konstant unterdrückt. Wie (einst) ganze Volksgruppen an sich. Dann wird nämlich auch Romantisierung und Heroisierung problematisch. Solange es keine Unterdrückten gibt, gibt’s auch keine Unterdrücker.


    Ich bin mir uneins: Da sind auf der anderen Seite die unsäglichen Shitstorms, denen sich ein Verlag besser erwehren können sollte (wünschen darf man sich das ja), und auf der anderen Seite: siehe oben. Wenn man das eine Recht hochhält, spricht man dem anderen - sich in Film, Literatur etc. nicht als ausgedachte Fantasiefigur, die jeder Realität entbehrt wiederzufinden - die Berechtigung ab.

    PS: C. H. Beck hat gerade auch ein ähnlich gelagertes (?) Problem - deren „Glück“ ist vielleicht, dass Winnetou deutlich populärer ist als irgendein trockener Rechtskommentar.

    Mag sein, aber mein Gedanke war: Was wird erwartet? Konzipiere ich zu umfassend? Oder zu knapp?


    Aber ich scheine das eh nicht zu durchschauen … Egal, wie gruselig man die vorgegebenen Texte finden mag: Diese Pitches erläutern doch nur das Setting, dachte ich, umreißen die Idee. Nein?


    Ansonsten: Alles richtig - allerdings sollte man davon ausgehen, dass die im Wettbewerb eingereichten Texte auch wahrgenommen werden. Das ist nicht unbedingt gesagt, wenn die eigene Einsendung nur eine unter vielen, vielen anderen unverlangten ist.

    Zitat: (…) Den Teilnehmenden ist es nicht gestattet, das Werk/Exposé unter Einschluss der in den Kriminalfällen 1 bis 3 näher beschriebenen Handlungselemente in einem anderen Verlag (einschließlich eines Selbstverlags) zu veröffentlichen und/oder zu verwerten.

    Wer deshalb von einer Teilnahme Abstand genommen hat, sollte sich die Teilnahmebedingungen nochmals ansehen. Sie enthalten jetzt einen einschränkenden Zusatz: bis zur Bekanntgabe der Gewinner.

    Nr. 1 hat was, finde ich; ich mag Hotels 🙂

    Was mich irritiert:

    Da steht nichts darüber, welchen Umfang der Roman haben soll? Je nach dem, wie viele Seiten es werden sollen, hängt davon doch ab, wie breit man die ersten 50 anlegt?

    Das ist ein für mich erstaunlicher Sinneswandel, der sich, als ich über das Buch schrieb, allerdings schon abgezeichnet, eher schon vollzogen hatte. Interessant fände ich zu erfahren, WIE sich dieser Wandel vollzogen hat. Diese Frage wird in diesem Artikel https://www.tagesschau.de/ausl…likaner-jd-vance-101.html

    gestellt, aber nicht tatsächlich beantwortet. Nicht von anderen und von ihm selbst erst recht nicht. Er habe sich geirrt, damals. Eine Wandlung der politischen Einstellung, sogar um 180 Grad von einem Extrem ins andere, kennt man. Das Buch muss sich mit diesem Wissen heute anders lesen - womöglich kommt ja irgendwann ein neues …

    Warum hat der Mann einen Hut an? Sieht aus, als wäre er schon halb aus der Tür. Hoffentlich kriegt sie wenigstens noch was zu trinken (von wem auch immer) 🙂

    Im Ernst: Schönes Cover, doch! Und die Story macht definitiv neugierig.

    Wieder (nach Jahren) war ich versucht, den Titel anders betont zu lesen, nämlich: Wo warst DU? Dabei heißt es: Wo WARST du?, denn die beiden Personen, um die es geht, sind nicht beliebig, es geht um ihr Erleben der Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001, getrennt, auf sehr unterschiedliche Weise jeder für sich, aber nicht getrennt zu sehen, denn sie sind ein Paar.


    Vor Jahren habe ich bereits das Buch gelesen - „Wo warst du? Ein Septembertag in New York“ - jetzt habe ich mir den Podcast angehört, den Anja Reich und Alexander Osang 20 Jahre darauf eingelesen haben.


    Zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen sind das, denn während der Mann, (damals) als Reporter für den Spiegel in New York, von Brooklyn nach Manhattan fährt, bleibt die Frau, ihrerseits Journalistin, aber aus Sicht des Arbeitgebers ihres Mannes vor allem die „mitreisende Ehefrau“, in Brooklyn und kümmert sich um die gemeinsamen Kinder. Dabei war der Impuls auch bei ihr vorhanden gewesen, mit nach Manhattan zu fahren, als die Medien davon berichteten, dass ein Flugzeug in das World Trade Center geflogen war - ein großes Flugzeug offenbar. Ferdinand, der ältere Sohn, war in der Schule, eine Nachbarin würde gewiss auf die kleine Mascha aufpassen. Es ist nur ein kurzer Moment, aber ein entscheidender: Sie will ihn dann doch nicht aufhalten, also zieht er alleine los, gegen den Strom der panisch flüchtenden Menschen, überwindet eine Sperre auf der Brooklyn Bridge, während sie zu Hause im Brownstone-Haus bleibt, mit der kleinen Tochter bastelt, um den Anschein von Normalität aufrecht zu erhalten, den Sohn aber schließlich doch früher von der Schule abholt, mit Nachbarn spricht, die Bilder im Fernsehen verfolgt, auf ein Lebenszeichen ihres Mannes wartet. Der, so nah am zweiten, verbliebenen, Turm, dass er vor der Staubwolke des in sich zusammenstürzenden Gebäudes in einen Keller flüchten muss, entscheidet sich danach, da er nur noch eine einzige Münze für ein öffentliches Telefon hat, nicht bei seiner Frau, sondern im Büro des Spiegels anzurufen. So ist es die Stimme einer Kollegin ihres Mannes, die Reich schließlich die erlösende Nachricht auf einen Anrufbeantworter spricht: Er ist noch am Leben.


    Der Mann macht sich auf ins Zentrum der Gefahr, die Frau hütet Kind und Heim. Sie hält zusammen, er rennt einer heißen Story hinterher. Das ist zweifellos Teil, wenn nicht Kern dieser Geschichte. Man kann das so lesen, und ihn dabei einen rücksichtslosen … (nach Gusto ergänzen) finden. Fängt ja schließlich gut an, mit der Schilderung des Vorabends: Sie kocht, er geht joggen. Irgendwo scheint das so seine Art zu sein, sein Ding durchzuziehen … Das Überraschende dabei ist aber doch, dass zum einen genug Selbstreflexion auch bei ihm vorhanden ist, das zuzugeben, und zum anderen, dass ihre Geschichte in dem Buch genauso fesselnd erzählt ist wie seine. Es ist gerade nicht so, dass sein Part zwangsläufig der interessantere wäre, weil er die Dramatik auf seiner Seite hatte. Osang hatte diese Dramatik zweifellos auf seiner Seite, aber im Zusammenklang mit der Geschichte von Reich wird aus zwei ganz unterschiedlichen Geschichten eine ganz besondere.


    „Es ist, wie es immer ist: Wir sind zusammen, und wir sind allein.“ Das resümiert Reich an einer Stelle des Buches, und es ist ein trauriges Statement. Das Buch habe ich damals gerne gelesen, den Podcast (gratis bei Spotify u. a.) heute gerne gehört.

    Der 70-jährige Byongsu Kim lebt zusammen mit seiner Adoptivtochter in der südkoreanischen Provinz. Seinen Beruf als Tierarzt kann er nicht mehr ausüben, seit er die Diagnose Alzheimer erhalten hat. Eines Tages begegnet er einem jungen Mann, der in seinem Kofferraum einen toten Körper transportiert. Ein Stück Wild, behauptet er. Eine Frauenleiche, unterstellt Byongsu Kim. Ausgerechnet diesen jungen Mann stellt ihm die Tochter als ihren Freund und wenig später als ihren zukünftigen Mann vor. Byongsu Kim mobilisiert alle ihm noch verbliebenen, immer mehr schwindenden Kräfte. Er vergisst zunehmend Dinge, erkennt mitunter Personen nicht mehr. Auch die Erinnerung an das Gesicht des Mörders/zukünftigen Schwiegersohns entgleitet ihm immer aufs Neue, genauso wie das Bewusstsein über die Besuche eines Kommissars, der ungelösten alten Mordfällen auf der Spur ist. Mit Hilfe akribischer Aufzeichnungen stemmt er sich gegen die Bedrohung von außen und die in seinem Kopf. Er ist ein alter, kranker Mann, der seinen Verstand verliert, aber er wähnt sich ausgestattet mit einem besonderen Vorteil: Mit Serienmördern kennt er sich aus, denn er war selbst mal einer. Seine Opfer liegen verscharrt in einem nahen Bambuswäldchen. Nur ein schwerer Autounfall und eine daraus resultierende Kopfverletzung machten dem Morden ein Ende. Nun rüstet er sich für einen letzten Mord.


    Was ist echt und was eine Wahnvorstellung? Da der Roman von Kim Young-ha in der Ich-Perspektive erzählt wird, sind Zweifel ständig präsent: Was ist das für eine Geschichte? Bildet sich da einer vor dem Hintergrund einer neurodegenerativen Erkrankung alles nur ein? Und wenn ja, was? Dass der junge Mann ein Mörder ist? Dass er selbst einer ist? Beides? Nur eines davon? Nichts?


    Nachdem ich den auf dem Roman basierenden Film gesehen hatte, wollte ich auch den Roman lesen. Und der ist tatsächlich etwas Besonderes. Jeder Satz sitzt. Überflüssiges Blabla gibt es nicht. Das absurde Setting wird glaubhaft, schlüssig erzählt, obwohl Byongsu Kim ein unzuverlässiger Erzähler ist. Auch die Hörbuchfassung des Romans ist ein Gewinn. Am Ende hat man also die Wahl zwischen drei verschiedenen Umsetzungen eines Stoffes: gedruckt, verfilmt, vertont. Am Rande: Die Filmfassung unterscheidet sich entscheidend von der Romanvorlage.


    Der Roman läuft bei Amazon unter Krimis und hat Krimi-Preise gewonnen; ich sehe ihn da nur, weil das Spektrum des Krimi- und Thriller-Genres sehr weit geworden ist und Stoffe, in denen es um Mord geht, offenbar mit zwingender Logik bei den Krimis verortet werden. Für mich ist der Roman vor allem anderen ein Verwirrspiel, und eines, das zudem auch noch sehr gut geschrieben ist. Kritiker übertreffen sich gegenseitig mit Lob. Grandios, sei der Roman, brillant, ein Meisterwerk. Und sein Verfasser einer der talentiertesten Autoren seines Landes.


    Die deutsche Fassung ist erschienen im Cass Verlag, der sich ansonsten auf Übersetzungen japanischer Literatur spezialisiert hat: 152 Seiten, illustriert, mit Bedacht gestaltet – so soll es passend zu Byongsu Kims verblassenden Erinnerungen entsprechend gestaltete Seiten geben; ich selbst habe das Buch nicht in Händen gehalten, möchte diese Information aber nicht verschweigen, da es, zuzüglich zur wohl exzellenten Übersetzung, zeigt, mit wie viel Hingabe man beim Verlag an die Gestaltung dieses Buches gegangen ist. Auf der Startseite der Internetpräsenz des Verlags ist zudem ein Film über die Preisverleihung der Hotlist 2020 der unabhängigen Verlage eingebunden – Gewinner: Kim Young-ha: Aufzeichnungen eines Serienmörders.


    ASIN/ISBN: 3944751221

    Flohbeutel.

    Wenigstens in Österreich, vermutlich auch Bayern, ist das ein bekannter, wenn auch abwertender Begriff für ziellose, unzuverlässige Menschen.

    Könnte passen, ist aber wohl nur regional bekannt/zumindest in NRW völlig unverständlich.

    „Rauchen, Alkoholkonsum, Nacktheit, Schimpfwörter, sexuelle Inhalte, Gewalt“ – darauf also soll der Zuschauer/die Zuschauerin sich gefasst machen, wenn er/sie sich die erste Folge der zweiten Staffel der britischen Serie „Fleabag“ ansieht, jedenfalls laut der Einblendung von Amazon Prime, wo die Serie derzeit zu sehen ist. Bewertung: ab 12. (Fünf dieser Kriterien habe ich mitbekommen, das sechste ist mir durchgegangen – mag sein, dass ich den Schnitt eines Jumpsuits anders bewerte als Amazon.)


    Fleabag = als Titel unübersetzbar eine „unangenehme Person“ (die deutschen Begriffe „Miststück“ (für eine Frau) und „Mistkerl“ (einleuchtenderweise für einen Mann) wecken unterschiedliche Assoziationen, wobei diese Frau eher eine weibliche Ausgabe eines Mistkerls darstellen soll), Fleabag also betreibt ein Café in London, das mit allerhand Meerschweinchen-Schnickschnack ausstaffiert ist, inkl. eines lebendigen Exemplars, das dann und wann ausbüxt und die wenigen Gäste in die Flucht schlägt, weil die es für eine Ratte halten. Den Meerschweinchen-Faktor hat nicht sie selbst, sondern ihre Freundin und ehemalige Geschäftspartnerin Boo eingebracht. Boo ist bei Beginn der Serie bereits tot und taucht nur noch in Rückblenden auf. An Boos Tod, das wird in der ersten Staffel bereits früh deutlich, ist Fleabag zumindest indirekt nicht ganz unschuldig. Schuldgefühle, Trauer, Dates, sexuelle Eskapaden und verkorkste Beziehungen/familiäre Bande bestimmen Fleabags Leben. Ihr Vater ist mit ihrer Taufpatin (einer Freundin der verstorbenen Mutter/Künstlerin, die ihr Sex-Leben als Gegenstand ihrer Kunst auserkoren hat) liiert, ihre Schwester ist mit einem (man kann’s nicht anders sagen) Arschloch verheiratet, sie selbst wurde vor Beginn der ersten Staffel von ihrem Freund verlassen, der bisher noch bei jedem Auszug einen Plastikdino zurückgelassen hat, Zeichen dafür, dass er irgendwann wieder vor ihrer Tür stehen würde. Fleabag und ihre Schwester sind moderne junge Frauen, die eine beruflich erfolgreich, die andere willens, sich durchzuboxen, die (im Fall der ledigen Fleabag) sexuelle Freiheit für sich einfordern, die allerdings nicht als feministische Rollenmodelle taugen, weil sie an manchen feministischen Forderungen, z. B. um jeden Preis zum eigenen Körper zu stehen, sich nicht per se unterzuordnen etc., scheitern. Bezeichnend die Folge, in der Fleabag und ihre Schwester zu einem Schicki-Micki-Schweige-Yoga-Workshop (ein Geschenk ihres Vaters (!)) fahren, dort Unkraut mit der Nagelschere jäten und Fußböden wienern, während nebenan eine Männer-Gruppe lernt, „ein besserer Mann“ zu sein und ein Arsenal frauenverachtender Schimpfwörter übers Gelände hallt.


    Die Länge der Episoden wechselt ungefähr zwischen 25 und 30 Minuten. Das lässt keinen Raum für Smalltalk. (So gut wie) jede Szene beinhaltet einen Schlag „auf die Fresse“, wie die Süddeutsche das genannt hat. Fleabag als zentrale Figur der Serie durchbricht konstant die Vierte Wand, indem sie mit dem Publikum entweder durch Ansprache oder auch nur durch Mimik Kontakt aufnimmt. Tatsächlich basiert die Serie auf einem Theaterstück, dieser Kunstgriff ist aber erst in der Filmfassung dazugekommen. Verfasserin dieses Stücks wie auch der Fernseh-Adaption ist Phoebe Waller-Bridge, die, damit nicht genug, auch noch die Rolle der Fleabag verkörpert.


    Wer ein Faible für schwarzen Humor hat, dem empfehle ich diese – mit mehreren Emmys ausgezeichnete – Comedy. Älter als 12 sollte man aber sein, finde ich. Nicht, weil die Szenen (heutzutage) „verstörend“ wären, sondern weil das Verständnis dieser Art (unterschwelliger) Bösartigkeit in allen passiv-aggressiven Facetten wahrscheinlich erst mit fortschreitendem Lebensalter komplett vorhanden sein dürfte.