Es ist dann sinnvoll, die Vorgeschichte einer Figur zu erzählen, wenn dies zum Verständnis (des Handelns der Figur) einer späteren Situation erforderlich ist. Wenn man die Vorgeschichte einer Figur "nur" erzählt, um die Figur zu konturieren, ist es keine Vorgeschichte, sondern eben die Geschichte der Figur, die dann vermutlich später (an zeitlich anderer Stelle) weitererzählt wird. Genaugenommen ist es natürlich das immer. Zur Charakterisierung eines Protagonisten ist aber seine Vorgeschichte nicht unbedingt nötig, und erst recht keine vollständige.
Weniger ist hier oft besser. Spielt die Haupthandlung zum Zeitpunkt X und irgendeiner Figur ist früher etwas passiert, das nunmehr Wirkung zeigt, das ihr Handeln und ihre Entscheidungen beeinflusst, dann reicht es oft, punktuell nur dieses Geschehen zu erzählen und nicht die gesamte Vita der Figur. Und es so zu erzählen, dass möglicherweise auch noch andere Aspekte einfließen, die an anderer Stelle wichtig werden. Ich habe meinem zweiten Roman "Idiotentest" einen Prolog mit dem Titel "Kinderschokolade" vorangestellt, der eine Episode aus der Kindheit des Protagonisten erzählt. In dieser Episode geht es darum, wie der Held vermeintlich einen Fünfzig-Mark-Schein verliert, als er von der strengen Mutter zum Einkaufen geschickt wird, aber eigentlich geht es um noch viel, viel mehr - es geht um Verantwortung, um die Konsequenzen des Handelns, es geht um Familie und Bindung, und es geht um Chuzpe. Ich würde das heute vielleicht nicht mehr genau so machen, aber diese zehn, zwölf Seiten verdichten alles, was man über diesen Henry Hinze wissen muss, um seine Aktionen zwanzig, dreißig Jahre später zu verstehen, um nachzuvollziehen, wie er zum späteren Henry wurde. Mehr wäre eindeutig zu viel gewesen, und natürlich hatte dieser Prolog noch weitere Aufgaben.
Es hört sich für mich überhaupt nicht gut an, wenn jemand erklärt, er hätte eine Menge Vorgeschichten aufgeschrieben, so dass das quasi einen Band ergäbe, und dann wäre da noch die eigentliche, weitaus spannendere Hauptgeschichte, um die es im Kern geht, während der Rest nur Fundament ist. Ich habe so etwas auch schon häufiger in den Händen gehabt. Da werden Historien gesponnen, vergangene Zeiten erklärt, Heldensagen und Mythen ausgebreitet, da wird von Kriegen und Epochen berichtet. Es gibt Erzählungen von schlimmen Kindheiten unter schwierigsten Bedingungen, von Verschleppung und Gewalt und all dem, von Jahren in Waisenhäusern, wo schwer gearbeitet werden musste und es viel Boshaftigkeit und Ungerechtigkeit gab und all das (und hier und da magisches Geplänkel, wenn es um Fantasy geht). Und irgendwann kommt man in der Gegenwart an und die eigentliche Geschichte geht los. Wenn das sehr gut gemacht ist - her damit. Ist es aber meistens leider nicht, und es ist auch nicht leicht, diese oft sehr ähnlichen Geschichten richtig gut zu erzählen. Zumal sie oft auch nicht nötig sind. Nicht selten hat man beim Lesen das Gefühl, dass die Autoren und -innen quasi die Pflicht hinter sich bringen wollen, also die Grundlagen schaffen, um dann frei und umso entspannter loserzählen zu können. Für die Leser ist das die reine Qual, zumal es bei Schreibfrischlingen oft auch noch mit diesem unsäglichen Vollständigkeitsdrang einhergeht: Jeder Klacks und jeder Pups wird erzählt, jede Nichtigkeit ausgebreitet, und das Ergebnis ist unspannend und zäh. Aber: Man weiß wirklich alles über die Figuren, davon viel Unwichtiges.
Es gibt zahlreiche Techniken, um so etwas sehr gut hinzukriegen und nichts auszulassen, das wesentlich wäre. Rückblenden an den richtigen Stellen, oder stark verdichtete Vorgeschichten, oder Dialoge am Lagerfeuer oder im Schlafsaal, was weiß ich. Was gut klappt, das hängt auch vom Gefühl für die Dramaturgie ab, und von der eigentlichen Geschichte. Aber, wie erwähnt: Eine Art vorab gereichter Sekundärliteratur mit allem, was man über die Figuren der eigentlichen Geschichte wissen sollte, das klingt problematisch.