Beiträge von tortitch

    Noch einmal zu meiner Frage, was ihr unter analysierendem Lesen versteht. (Ich lebe grundsätzlich nach der Devise, dass keine Frage zu peinlich ist.)

    Ich hab den Begriff nicht aufgebracht, aber manchmal frage ich mich: Warum findest du diesen Satz/diese Passage/ diesen Roman gut? Und dann guck ich halt, woran es liegen könnte.

    Übersetzung oder nicht, finde ich in dem Zusammenhang egal. Wenn dir T.Mann nicht behagt, bist du aber auch schwierig.

    Treichel z.B. wäre mir sicher nicht eingefallen.

    Nabokov, Foer. Oder auch Max Goldt, Stanisic. Einen sehr eigenen Sound hat auch Meyerhoff.

    Kehlmann und Glavinic schreiben ja nu auch nicht so übel, heißt es.

    Möglich auch, dass die Grimms - der Volksseele gleichsam den Puls fühlend - meinten, die Märchen bloß zu reinigen, ihnen also ihre wesensmäßige Form wiederzugeben, die im Laufe der Jahrejahrejahre ein bisserl verschütt gegangen war. Insofern war da gar nicht so sehr der Gedanke von Urheberschaft, sonder nur von Heberschaft.

    Kann sein, dass ich sowas in Safranskis Romantik-Buch gelesen hab.

    Beim Schreiben ist es ähnlich. Ich empfehle gerne (und praktiziere auch) zu Beginn eines Schreibprozesses absichtsloses Schreiben. Das ist sozusagen der Freejazz beim Schreiben. Da kommt selten etwas vernünftiges bei raus, aber es macht warm und fördert das spätere absichtsvolle Schreiben.

    Ne, ich meine schon das absichtsvolle Schreiben. Mir geht es um die Magie der Inspiration. Wenn man sich bei der Improvisation in die Musik fallen lässt (auch in das, was man selbst gerade spielt). Das Absichtsvolle muss, damit der magische Augenblick funktioniert, vorher erledigt sein. Die Planung, das Plotten, Konzeptionelles. Und dann kommt eben dieser Moment der höchsten Konzentration, der Inspiration eben, das Fallenlassen in das Netz der Figuren, Orte, Atmosphären, in die Sprache.

    Genau. Üben kann nicht schaden (auch wenn es bei Musikern gern heißt, wer übt, kann nichts). Aber dann beim Schreiben selbst geht es darum, in diesen Schwebezustand zu gelangen. In den "Flow", wie man vielleicht auch sagt. Ins heilig-nüchterne Spiel, wo dann eben nicht mehr viel gegrübelt und gewollt, sondern improvisiert wird. Mit dem Vokabular und den Tools, die man sich vorher draufgeschafft hat. Um bei der Musik-Analogie zu bleiben: Wäre schon lästig, wenn man mitten in der Impro noch mal nachdenken muss, wie denn das mit Dur und Moll war.

    Um den Begriff der Geschichte hatte ich nun ängstlich einen Bogen gemacht, weil mir da schon wieder zu viele Fragen dranhängen. (Was ist eine Geschichte? Muss sie einen Höhepunkt haben? Muss es einen (und nur einen?) Protagonisten geben? Muss es eine "Entwicklung" geben?...) Da lauert schon so viel Schreibratgeberwissen.

    Beim Schreiben darf es kein Schreibraterwissen geben. Der Intuition muss man folgen. Die Metaebene fliehen. Schreiben ist Jazz. Pure Improvisation. Geübt wird vorher (Konzeptionelles zurechtlegen, Techniken einschleifen). Im Rausch des Schaffens die schopenhauersche Qual der Individuation überwinden... na ja: vergessen.

    Neulich hatte ich eine ähnliche Ratlosigkeit und stellte mir vor, wie irgendwo in unserem kleinen, hübschen Universum eine Buchhandlung ist mit einem Büchertisch, auf dem hundert Exemplare meines Romans liegen. Liegt dann da hundertmal derselbe Roman oder der gleiche?

    Abzweiger aus dem anderen Thread:

    Ob man immer die Handlung voranbringen muss und wie das geht und so weiter, sei mal dahingestellt.

    Der Kern der erzählenden Literatur ist in meinen Augen - immer noch - dass man etwas zu erzählen hat. Also etwa wie am Abendbrottisch, wenn man irgendwas von seinem Tag erzählt. Man berichtet, dann ja auch nicht, dass man morgens gefrühstückt und geduscht hat. Sondern irgendwas, was man für erwähnenswert hält. Ohne das wird es schwierig. Deswegen fällt mir der Zugang zu Sachen wie "Naked Lunch" oder "Ulysses" auch so schwer.

    Wie gesagt, dass ist der Kern der ganzen Angelegenheit, oder das sine qua non. Oder so. Insofern kann man auch von einem außergewöhnlichen Briefkasten erzählen. Das ist dann wahrscheinlich noch keine Literatur. ABer der Briefkasten darf gern im Rahmen von etwas Literarischem vorkommen. Bei einer 15-seitigen Erzählung wären 10 Seiten Briefkastenbeschreibung wohl etwas viel. Auf die Balance kommt es auch an. Was Längeres verkraftet dann auch ein paar Arabesken und Exkurse (wie z.B. in "Moby Dick" oder "Tristram Shandy").

    Und wahrscheinlich darf man auch Alltägliches erzählen, man muss es dem Leser nur als erwähnenswert verkaufen.