Petra: Bevor ich versuche, dir zu antworten, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich erst durch diese Diskussion hier begonnen habe, über (vermeintliche?) Besonderheiten des autobiografischen Schreibens nachzudenken. Dementsprechend tastend und von einer unbestrittenen Unsicherheit geprägt sind meine Versuche, Antworten zu finden.
@ Petra & @all: Ich bin selbst erstaunt über meine tiefsitzende Aversion sowohl gegenüber dem autobiografischen Schreiben wie der Lektüre autobiografischer Romane, eine Aversion, derer ich mir bisher kaum bewusst war, ganz sicher nicht, was deren Ausmaß anbelangt, und die spürbar über die Verstandesebene hinausgeht.
Niemals käme ich auch nur im Traum auf die Idee, meine Biografie oder Teile von ihr zu einem autobiografischen Roman zu „verwursten“, einmal ganz abgesehen von der Frage, wie interessant oder banal meine eigene Geschichte auf andere Menschen wirken könnte. Alles, was ich bisher geschrieben habe, Abgeschlossenes, Begonnenes und Abgebrochenes, enthält autobiografische Elemente. Aber diese Elemente betreffen eher Nebenaspekte, ein auch für mich typisches Interagieren des Protagonisten mit dieser oder jener Art Mensch zum Beispiel, das Vorkommen mir vertrauter Orte, von mir geschätztes Essen oder dessen Gegenteil, real existierende Menschen, die sich mehr oder weniger stark verfremdet als Nebenfiguren in meinen Geschichten wiederfinden ... solche Sachen. Aber deshalb würde ich diese Geschichten niemals autobiografisch nennen wollen.
Ich glaube, zu verstehen, was einen Menschen dazu treibt, unbedingt die Geschichte des eigenen Lebens erzählen zu wollen. Dennoch hält sich mein Verständnis dafür in Grenzen. Welchen Vorteil, auch für den Leser, bietet die literarisch aufbereitete Präsentation der eigenen Existenz im Vergleich zu einer ganz oder teilweise erdachten Existenz? Dass sich Autorin oder Autor in der eigenen Existenz besser auskennen und daraufhin glauben wollen, sagen zu können: Ich weiß, wie es ist? Zu wissen, wie es sich anfühlt, ja. Aber zu wissen, wie es ist? Ich sehe da einen bedeutenden Unterschied. Wäre die Sache so eindeutig, wären Psychologenpraxen wohl deutlich geringer frequentiert. Kaum etwas ist so bruchstückhaft, so verlogen manchmal, so „fiktional“ wie unsere Selbstwahrnehmung und das daraus abgeleitete Selbstbild. Für etwas anderes sind wir uns selbst einfach zu nah. Das bedeutet dann aber auch, dass die Nacherzählung unserer Existenz tatsächlich eine Interpretation des Erlebten ist, nicht mehr und nicht weniger.
Einen Vorteil sehe ich eher auf Seiten einer von vornherein als fiktional angelegten Geschichte. Die verlangt einem Autor eine ungleich größere Disziplin ab, die Geschichte, die Figuren, die verwendeten Stilmittel zu reflektieren und auf ihre Plausibilität und Angemessenheit hin zu überprüfen. Gemeint sind hier natürlich nicht solche Romane oder komplette Genres, die primär darauf abzielen, das Verlangen einer breiten Leserschaft nach Eskapismus zu bedienen. Gemeint sind Geschichten, die vergessen lassen wollen, dass sie fiktional sind. Das zu erreichen, stellt eine Herausforderung dar, der ein autobiografisch schreibender Autor nicht in jedem Fall und auch nicht in gleichem Maße gerecht werden muss. Ob er es könnte? Vielleicht. In anderen Fällen vermutlich eher nicht. Keine Ahnung. Tom erwähnt „Die Asche meiner Mutter“ von Frank McCourt. An diesem Beispiel wird die Problematik sehr schön deutlich. Ein Autor erzählt auf beeindruckende Weise eine autobiografische Geschichte, die zum Bestseller wird, und schafft es danach nicht mehr, etwas von vergleichbarer Güte nachzulegen. Aber vielleicht hatte McCourt ja auch nie die Absicht, über diese eine Geschichte hinaus, die er in Angela’s Ashes und 'Tis erzählt, etwas anderes erzählen zu wollen, hatte er in dieser einen Geschichte alles gesagt, was er hatte sagen wollen. Das ändert dennoch nichts an dem Problem, das auch Tom benennt, dem Problem, mit dem ein vornehmlich autobiografisch schreibender Autor grundsätzlich konfrontiert ist, nämlich nur aus einem rasch schwindenden Fundus schöpfen zu können, während, wie ich anfügen möchte, die Erzählerin oder der Erzähler fiktionaler oder überwiegend fiktionaler Geschichten theoretisch eine unbegrenzte Zahl an Stoffen zum Gegenstand seines Schreibens machen kann.
Hat ein Leser denn nicht immer eine Statistenrolle (ich würde sogar sagen eine Zuschauerrolle) inne, egal, ob ein Roman dem Erleben seines Verfassers entspringt oder seiner Fantasie?
Nein. Für mich ganz sicher nicht. Würde ich mich beim Lesen eines Romans ausschließlich als Zuschauer fühlen, würde ich im Gegensatz zu früher die Lektüre jetzt sehr schnell und endgültig abbrechen. Bei Filmen ist das tatsächlich anders. Da weiß ich in der Regel von vornherein, dass ich mich anderthalb Stunden lang auf den Konsum einer Abfolge von bis ins letzte Detail hinein vorgestanzten und von Emotionen lenkender Musik unterstützten Bildern einlasse. Filme und Fernsehserien schaue ich primär zum Zweck der Zerstreuung, der Ablenkung, befriedige ich mit ihnen mein Bedürfnis nach Eskapismus. Weshalb die Bandbreite dessen, was ich an Filmen und Serien konsumiere, enorm ist.
An Bücher stelle ich ungleich höhere Anforderungen und entsprechend selektiv verfahre ich bei der Auswahl meines Lesestoffs. Eine wesentliche Anforderung besteht in einem ausreichenden Maß an Freiheit, die mir eine Autorin oder ein Autor beim Wiedererleben des Erzählten lässt. Und hier sehe ich den entscheidenden Unterschied zwischen einer als autobiografisch gelabelten Geschichte und einer Geschichte, die ohne eine solche Plakatierung auskommt. Im ersten Fall sagt mir der Autor: So und nicht anders ist es gewesen. Basta. Ende der Diskussion. Im zweiten Fall hingegen gibt mir der Autor, indem er nicht auf die Authentizität des Erzählten verweisen und auf dieser bestehen kann, mit auf den Weg: So habe ich mir vorgestellt, dass es hätte sein können. Was denkst du? Wo im ersten Fall die lindgrünen Vorhänge im Schlafzimmer lindgrün bleiben und das Lächeln der großen Liebe des Protagonisten in allen beschriebenen Einzelheiten das der großen Liebe des Protagonisten bleibt, mögen im zweiten Fall die lindgrünen Vorhänge zu Bambusrollos mutieren und wird das Lächeln der großen Liebe des Protagonisten zum Lächeln meiner großen Liebe.
Natürlich wird der kreative Prozess auf Seiten des Autors immer ungleich umfassender sein als auf Seiten der Leserinnen und Leser. Aber auch dort findet er statt oder vielmehr findet er seine Fortsetzung und seine Vollendung.
Mir kommt in diesem Zusammenhang immer das Wort Magie in den Sinn, die Magie, die im Aufeinandertreffen der vom Autor erschaffenen Welt einer fiktionalen Geschichte mit der Welt meines eigenen Erlebten etwas Drittes, etwas Einzigartiges entstehen lässt.
Amen.
Herzliche Grüße,
Jürgen