Beiträge von Juergen P.

    Petra: Bevor ich versuche, dir zu antworten, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich erst durch diese Diskussion hier begonnen habe, über (vermeintliche?) Besonderheiten des autobiografischen Schreibens nachzudenken. Dementsprechend tastend und von einer unbestrittenen Unsicherheit geprägt sind meine Versuche, Antworten zu finden.


    @ Petra & @all: Ich bin selbst erstaunt über meine tiefsitzende Aversion sowohl gegenüber dem autobiografischen Schreiben wie der Lektüre autobiografischer Romane, eine Aversion, derer ich mir bisher kaum bewusst war, ganz sicher nicht, was deren Ausmaß anbelangt, und die spürbar über die Verstandesebene hinausgeht.

    Niemals käme ich auch nur im Traum auf die Idee, meine Biografie oder Teile von ihr zu einem autobiografischen Roman zu „verwursten“, einmal ganz abgesehen von der Frage, wie interessant oder banal meine eigene Geschichte auf andere Menschen wirken könnte. Alles, was ich bisher geschrieben habe, Abgeschlossenes, Begonnenes und Abgebrochenes, enthält autobiografische Elemente. Aber diese Elemente betreffen eher Nebenaspekte, ein auch für mich typisches Interagieren des Protagonisten mit dieser oder jener Art Mensch zum Beispiel, das Vorkommen mir vertrauter Orte, von mir geschätztes Essen oder dessen Gegenteil, real existierende Menschen, die sich mehr oder weniger stark verfremdet als Nebenfiguren in meinen Geschichten wiederfinden ... solche Sachen. Aber deshalb würde ich diese Geschichten niemals autobiografisch nennen wollen.


    Ich glaube, zu verstehen, was einen Menschen dazu treibt, unbedingt die Geschichte des eigenen Lebens erzählen zu wollen. Dennoch hält sich mein Verständnis dafür in Grenzen. Welchen Vorteil, auch für den Leser, bietet die literarisch aufbereitete Präsentation der eigenen Existenz im Vergleich zu einer ganz oder teilweise erdachten Existenz? Dass sich Autorin oder Autor in der eigenen Existenz besser auskennen und daraufhin glauben wollen, sagen zu können: Ich weiß, wie es ist? Zu wissen, wie es sich anfühlt, ja. Aber zu wissen, wie es ist? Ich sehe da einen bedeutenden Unterschied. Wäre die Sache so eindeutig, wären Psychologenpraxen wohl deutlich geringer frequentiert. Kaum etwas ist so bruchstückhaft, so verlogen manchmal, so „fiktional“ wie unsere Selbstwahrnehmung und das daraus abgeleitete Selbstbild. Für etwas anderes sind wir uns selbst einfach zu nah. Das bedeutet dann aber auch, dass die Nacherzählung unserer Existenz tatsächlich eine Interpretation des Erlebten ist, nicht mehr und nicht weniger.


    Einen Vorteil sehe ich eher auf Seiten einer von vornherein als fiktional angelegten Geschichte. Die verlangt einem Autor eine ungleich größere Disziplin ab, die Geschichte, die Figuren, die verwendeten Stilmittel zu reflektieren und auf ihre Plausibilität und Angemessenheit hin zu überprüfen. Gemeint sind hier natürlich nicht solche Romane oder komplette Genres, die primär darauf abzielen, das Verlangen einer breiten Leserschaft nach Eskapismus zu bedienen. Gemeint sind Geschichten, die vergessen lassen wollen, dass sie fiktional sind. Das zu erreichen, stellt eine Herausforderung dar, der ein autobiografisch schreibender Autor nicht in jedem Fall und auch nicht in gleichem Maße gerecht werden muss. Ob er es könnte? Vielleicht. In anderen Fällen vermutlich eher nicht. Keine Ahnung. Tom erwähnt „Die Asche meiner Mutter“ von Frank McCourt. An diesem Beispiel wird die Problematik sehr schön deutlich. Ein Autor erzählt auf beeindruckende Weise eine autobiografische Geschichte, die zum Bestseller wird, und schafft es danach nicht mehr, etwas von vergleichbarer Güte nachzulegen. Aber vielleicht hatte McCourt ja auch nie die Absicht, über diese eine Geschichte hinaus, die er in Angela’s Ashes und 'Tis erzählt, etwas anderes erzählen zu wollen, hatte er in dieser einen Geschichte alles gesagt, was er hatte sagen wollen. Das ändert dennoch nichts an dem Problem, das auch Tom benennt, dem Problem, mit dem ein vornehmlich autobiografisch schreibender Autor grundsätzlich konfrontiert ist, nämlich nur aus einem rasch schwindenden Fundus schöpfen zu können, während, wie ich anfügen möchte, die Erzählerin oder der Erzähler fiktionaler oder überwiegend fiktionaler Geschichten theoretisch eine unbegrenzte Zahl an Stoffen zum Gegenstand seines Schreibens machen kann.

    Hat ein Leser denn nicht immer eine Statistenrolle (ich würde sogar sagen eine Zuschauerrolle) inne, egal, ob ein Roman dem Erleben seines Verfassers entspringt oder seiner Fantasie?

    Nein. Für mich ganz sicher nicht. Würde ich mich beim Lesen eines Romans ausschließlich als Zuschauer fühlen, würde ich im Gegensatz zu früher die Lektüre jetzt sehr schnell und endgültig abbrechen. Bei Filmen ist das tatsächlich anders. Da weiß ich in der Regel von vornherein, dass ich mich anderthalb Stunden lang auf den Konsum einer Abfolge von bis ins letzte Detail hinein vorgestanzten und von Emotionen lenkender Musik unterstützten Bildern einlasse. Filme und Fernsehserien schaue ich primär zum Zweck der Zerstreuung, der Ablenkung, befriedige ich mit ihnen mein Bedürfnis nach Eskapismus. Weshalb die Bandbreite dessen, was ich an Filmen und Serien konsumiere, enorm ist.

    An Bücher stelle ich ungleich höhere Anforderungen und entsprechend selektiv verfahre ich bei der Auswahl meines Lesestoffs. Eine wesentliche Anforderung besteht in einem ausreichenden Maß an Freiheit, die mir eine Autorin oder ein Autor beim Wiedererleben des Erzählten lässt. Und hier sehe ich den entscheidenden Unterschied zwischen einer als autobiografisch gelabelten Geschichte und einer Geschichte, die ohne eine solche Plakatierung auskommt. Im ersten Fall sagt mir der Autor: So und nicht anders ist es gewesen. Basta. Ende der Diskussion. Im zweiten Fall hingegen gibt mir der Autor, indem er nicht auf die Authentizität des Erzählten verweisen und auf dieser bestehen kann, mit auf den Weg: So habe ich mir vorgestellt, dass es hätte sein können. Was denkst du? Wo im ersten Fall die lindgrünen Vorhänge im Schlafzimmer lindgrün bleiben und das Lächeln der großen Liebe des Protagonisten in allen beschriebenen Einzelheiten das der großen Liebe des Protagonisten bleibt, mögen im zweiten Fall die lindgrünen Vorhänge zu Bambusrollos mutieren und wird das Lächeln der großen Liebe des Protagonisten zum Lächeln meiner großen Liebe.

    Natürlich wird der kreative Prozess auf Seiten des Autors immer ungleich umfassender sein als auf Seiten der Leserinnen und Leser. Aber auch dort findet er statt oder vielmehr findet er seine Fortsetzung und seine Vollendung.

    Mir kommt in diesem Zusammenhang immer das Wort Magie in den Sinn, die Magie, die im Aufeinandertreffen der vom Autor erschaffenen Welt einer fiktionalen Geschichte mit der Welt meines eigenen Erlebten etwas Drittes, etwas Einzigartiges entstehen lässt.


    Amen.:)


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    Petra: Ich glaube, in einem Punkt habe ich mich vielleicht missverständlich ausgedrückt.

    Selbstverständlich sind Geschichten, die sich ausschließlich oder vornehmlich aus der Fantasie des Autors speisen, nicht schon per se auch die besseren Geschichten. Ob eine Geschichte interessant, packend erzählt, unterhaltsam und/oder gut geschrieben ist, hat nicht grundsätzlich etwas mit der Frage zu tun, ob sie in einem strengen Sinn autobiografisch ist oder nicht.

    Persönlich habe ich dennoch zwei Probleme mit autobiografischen Romanen:


    - Das Wissen darum, dass das, was eine Autorin oder ein Autor erzählt, sich so oder oder so ähnlich tatsächlich auch zugetragen hat, lässt meiner eigenen Vorstellungskraft nur noch eine Statistenrolle. Diese Vorstellungskraft ist aber die unabdingbare Voraussetzung für ein möglichst intensives Nacherleben oder, besser gesagt, Wiedererleben des Erzählten, und das wiederum macht für mich den wesentlichen Reiz des Lesens einer Geschichte aus.

    - Autobiografisches Schreiben empfinde ich, sobald das Geschriebene die Öffentlichkeit sucht, immer auch als, nun ja, ein wenig exhibitionistisch. Was veranlasst einen Menschen dazu, die eigene Biografie als so wichtig, als so außergewöhnlich wahrzunehmen, dass das Verlangen übermächtig wird, von dieser eine möglichst breite Öffentlichkeit in Kenntnis zu setzen? Warum redet ein solcher Mensch nicht mit guten Freunden über das, was ihn so bewegt, auch und gerade über manchmal intimste Details seiner Existenz, mit Menschen also, die über die eigentliche Geschichte hinaus in der Regel auch eine umfassende Kenntnis der Hintergründe und Begleitumstände haben dürften, bei denen also von vornherein eine angemessene Verständnisfähigkeit vorausgesetzt werden kann, eher jedenfalls als dies bei Erika und Max Mustermann anzunehmen ist? Und warum erzählt ein solcher Mensch nicht eine Geschichte, die von seiner Biografie mehr oder weniger deutlich inspiriert ist, ohne sie indes mit dem Label „autobiografisch“ zu etikettieren? Warum stattdessen dieses Beharren auf der Feststellung: Das bin ich. Das habe ich erlebt. Das ist mir widerfahren. Mir.

    Ich fühle mich von einer solchen Selbstentblößung eines mir ansonsten völlig fremden Menschen peinlich berührt. Das Problem mag ausnahmslos auf meiner Seite liegen, denn ich gehe davon aus, dass andere Menschen das ganz anders empfinden. Aber das hilft mir nicht weiter. Ich empfinde nun mal so und nicht anders.


    Die Frage, die mich im Rahmen dieser Diskussion aber mehr als alles andere beschäftigt, ist die: Wenn die in autobiografischen Romanen erzählten Geschichten mehrheitlich ebenso interessant, berührend, unterhaltsam und gut geschrieben sind wie die meisten fiktionalen Geschichten, was macht dann für eine wachsende Zahl an Leserinnen und Leser den besonderen Reiz gerade autobiografischer Romane aus? Worauf gründet sich dieser aktuelle Boom? Und warum gibt es ihn jetzt? Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Kategorien autobiografisch und fiktional, abgesehen davon also, dass manche Romane halt autobiografisch sind und andere eben nicht?

    Die Schlussfolgerung, die sich daraus für mich zwingend ergibt, ist die, dass im ersten Fall vornehmlich nicht die Geschichte als solche interessiert sowie die Lebendigkeit der Romanfiguren und die Angemessenheit und Schönheit der gefundenen Sprache, sondern dass es den Leserinnen und Lesern, die sich überdurchschnittlich oft für die Lektüre eines autobiografischen Romans entscheiden, in erster Linie um die Person der Autorin oder des Autors geht, dass sie den dokumentarischen Charakter eines solchen Romans schätzen und mehr als alles andere das Wissen darum, dass in diesem nicht eine „konstruierte“ Realität mit „erfundenen“ Menschen in ihr gezeigt wird, sondern die Realität, mit real existierenden Menschen, die in dieser Realität leiden, vielleicht auch sterben, die sich ängstigen, die hoffen, die sich manchmal auch freuen.

    Um es ganz klar zu sagen: Ich spreche hier ausschließlich von denjenigen, die einen Roman in erster Linie aus dem Grund lesen, weil er autobiografisch ist. Und so unweihnachtlich das jetzt klingen mag: Das hat für mich dann doch ein Geschmäckle im Sinne der klassischen Paarung Exhibitionismus + Voyeurismus.


    Weihnachtliche Grüße:)


    Jürgen

    🕯Allen 42ern, den Mitgliedern des Forums und allen Besuchern wünsche ich ein paar ruhige und erholsame Tage, einen entspannteren Umgang mit anderen Menschen wie mit uns selbst und einen wiederkehrenden Blick auf das, was gut ist in unserem Leben. 🌠


    Ich wünsche euch allen ein frohes Weihnachtsfest! 🎄


    Jürgen

    Vorausgesetzt, jemand sucht sich seine Themen nicht - was aber natürlich völlig legitim wäre - ausschließlich nach dem Markt aus, dann ist jeder Roman ein Stück autobiografisch - genau: das wäre eine Definitionssache.

    Natürlich. Unter der Voraussetzung, die du nennst, Petra, ist Schreiben letztendlich immer autobiografisch. Wie könnte es auch anders sein? Das beginnt bereits mit der Affinität zu einem bestimmten Stoff. Jede Geschichte speist sich aus selbst Erlebtem, den Berichten und Erzählungen anderer Menschen, dem anderswo Gelesenen, dem Beobachteten und zuletzt aus dem von uns daraus Abgeleiteten und Herausdestillierten.


    Aber, wenn ich dich richtig verstanden habe, geht es dir in deinem Eingangsposting ja in erster Linie um die Tatsache, dass im Vergleich zu früher immer mehr autobiografische Romane erscheinen, was auch meiner eigenen Beobachtung entspricht, und erst vor wenigen Tagen bin ich im Internet zufällig auf einen Artikel gestoßen, in dem es um den Boom des autobiografischen Schreibens geht. Der Artikel ist keine tiefschürfende Analyse des Phänomens, sondern benennt lediglich die Tatsache als solche und führt als Beleg eine Reihe entsprechender Autorennamen auf.


    Wirklich überraschen, so als käme dieser Boom aus dem Nichts, kann die Feststellung aber auch nicht.


    Bereits seit mehreren Jahrzehnten wird die Individualität immer stärker betont, das eigene Anderssein, das Besonderssein, bieten inzwischen die Plattformen der asozialen Medien jedem, wirklich jedem die Möglichkeit, die eigene Existenz bis ins kleinste banale Detail hinein vor den Augen eines Millionenpublikums auszubreiten oder ungefragt die eigene Meinung zu jedem beliebigen Thema in die Welt zu tröten, kommt jede noch so peinliche Selbstinszenierung, kommt jede auch noch so abstruse Meinung als vielfach verstärktes Echo zu seinem Urheber zurück und mag ihn also glauben lassen: Ich bin wichtig, bin schöner, genialer, einzigartiger, bin im Besitz der allein seligmachenden Wahrheit. Bei zigtausenden, hunderttausenden oder gar Millionen Followern kann das gar nicht anders sein. Das geht los mit der täglich aktualisierten Berichterstattung zu einem 12-Monats-80-Kilogramm-Abnehm-Challenge, geht weiter über die von Eltern ins Netz gestellte Dokumentation des letzten Kindergeburtstags ihres Sprösslings, so als wäre das ein Ereignis von der Bedeutung des ersten bemannten Mondflugs und reicht bis zu Coronaleugnern und Querdenkern, die hinter dem Feigenblatt eines zur Schau gestellten Wir gemeinsamen Demonstrierens und Forderns ihre eigene individuelle Freiheit als das Maß aller Dinge postulieren. Die Freiheit des anderen? Irrelevant.


    Aber wie könnte es auch anders sein? Seit Jahrzehnten beginnt gefühlt jeder zweite Produktname mit i - iPhone, iVeggieköttbullar, iDieses und iJenes - und ist eine ganze Generation im Geiste dieser Ich-Inflation groß geworden. Ich, ich, ich. Am Ende steht dann ein obsessionelles Bedürfnis nach iDentity.

    Diese Ich-Hypertrophie mag dann viele Menschen zu der Überzeugung verleiten, dass ihre eigene Biografie so einzigartig ist, dass sie der Menschheit unter gar keinen Umständen vorenthalten werden darf. Vielleicht liegt es daran, dass ich immer häufiger das Gefühl habe, als gäbe es mittlerweile mehr Menschen, die schreiben als solche, die lesen.


    Und jetzt ist dieser Trend eben in der Literatur angekommen. Dass es diesen Trend gibt, bedeutet in erster Linie aber auch, dass für diese Art Romane ein Millionenpublikum vorhanden ist. Und an dem Punkt frage ich mich, was für diese Menschen das entscheidende Kriterium ist, das sie zum verstärkten Lesen autobiografischer Romane treibt. Dass in autobiografischen Romanen die interessanteren Geschichten erzählt werden, wird ja niemand ernsthaft behaupten wollen und ebenso wenig, dass diese Geschichten besser erzählt, besser geschrieben sind. Aber was dann? Kann es sein, dass es diesen Menschen weniger um die Geschichte als um die Person der Autorin oder des Autors geht, dass sie einen zusätzlichen Kick aus der Tatsache beziehen, dass das alles ja tatsächlich passiert ist, dass sie teilhaben wollen am Leben einer real existierenden Person so wie am Leben der Royal Families oder dem der Stars und Sternchen der Kategorien A bis C?

    Aber wenn das zutrifft, sind viele Leserinnen und Leser autobiografischer Romane eher als Follower zu sehen. Überspitzt formuliert könnte man dann sagen, dass in nicht wenigen Fällen autobiografische Romane so etwas wie das Reality-TV für Menschen mit höherer Schulbildung sind.

    Und ich finde es schöner, mir Figuren und Geschichten auszudenken, als von etwas zu erzählen, das mir wirklich selbst passiert ist. Zuweilen wünsche ich mir, ich hätte das erlebt, was meinen Figuren passiert, oder umgekehrt, aber diese großartige Freiheit, die wir haben, in das Korsett dieser langweiligen Biografie zu zwingen, das wäre verschenkte Energie, finde ich. Deshalb lese ich Romane, die vermeintlich auf wahren Geschichten basieren, auch nur ausnahmsweise.

    Yep. Schon seit jeher mache ich einen großen Bogen um Romane, die plakativ als autobiografisch beworben werden. Aber erst durch diese Diskussion hier habe ich begonnen, über die Gründe nachzudenken. Korsett, ja, dieses Wort trifft es genau. Wenn ich der Autorin oder dem Autor eines autobiografischen Romans abnehme, dass die Geschichte tatsächlich auch autobiografisch ist, werde ich, anders als bei einem Roman, der nichts anderes will, als eine fiktionale Geschichte zu erzählen, als Leser schlagartig der eigenen Vorstellungskraft beraubt, die mir erst eine aktive Teilhabe an der Geschichte ermöglicht. Und damit verschwindet ebenso schlagartig mein eventuell vorhandener Wunsch, eine solche Geschichte zu lesen. Stattdessen schaue ich dann lieber eine Dokumentation auf ARTE.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    Liebe Monika,


    ja, ich erinnere mich noch sehr gut an die damalige BT-Runde und unseren Austausch zu deinem Romanprojekt. Du weißt um meine eigenen Erfahrungen mit Alzheimer und erinnerst dich vielleicht noch daran, dass ich mich einige Zeit mit dem Gedanken getragen habe, einen Roman mit Alzheimer als zentralem Thema zu schreiben.

    Ich habe es nicht geschafft. Zu viele kaum erträgliche Bilder und Erinnerungen, die nicht mehr aus meinem Kopf gehen, so als wäre das alles erst gestern geschehen, zu wenig Distanzgewinn vor allen Dingen, um mit dem Thema auf dieser Ebene umgehen zu können.


    Umso mehr bewundere ich dich dafür, dass du das ausgehalten und bis zum Schluss durchgehalten hast. Und jetzt ist der Vertrag unterwegs. Glückwunsch, Monika!


    Schön, dass du wieder da bist. :blume

    Um die Herausforderung, einen Roman zu schreiben, zu bestehen, hilft es, und das mache ich als entscheidenden Faktor, aus, während die nachfolgenden Punkte dann eher Zuckerl on-top sind:

    - geübt darin zu sein, umfassende Denkprozesse a) anzustellen und b) niederzuschreiben/in Worte zu fassen/umzusetzen

    - Recherchemöglichkeiten/-ansätze zu kennen, die in einem Studium vermittelt werden

    - sich in einem Kreis anderer Akademiker zu bewegen, deren Sachkenntnis man bei Bedarf auf kleinem Wege abfragen kann

    Was du da auflistest, ist zweifellos zutreffend. Aber du schreibst selbst, dass diese Dinge helfen, was aber gleichzeitig auch bedeutet, dass ihr Zutreffen nicht in jedem Fall eine unabdingbare Voraussetzung sein muss. Am ehesten gilt das noch für den ersten Punkt. Aber wenn Akademiker das während ihres Studiums „einüben“ konnten, dann sollte es grundsätzlich möglich sein, das auch außerhalb eines regelrechten Studiums zu schaffen. Natürlich hat man es als Autodidakt immer etwas schwerer, ist der Weg mühseliger, schon allein deshalb, weil man nicht daran vorbeikommt, sich zum Verständnis des gesuchten Spezialwissens nachholend auch noch ein umfangreiches Grundwissen anzueignen.


    Aber "... geübt darin zu sein, umfassende Denkprozesse a) anzustellen und b) niederzuschreiben/in Worte zu fassen/umzusetzen" ist ja nur eine Bedingung unter vielen. Wesentlich sind für mich die nachfolgend aufgeführten Punkte und wird auch nur eine einzige dieser Voraussetzungen nicht oder nur unzureichend erfüllt, dürfte es schwierig werden, einen lesbaren und darüber hinaus auch lesenswerten Langtext zu schreiben:

    - Eine umfassende Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten des Schreibens.

    Die erwirbt man am ehesten durch möglichst viel Lesen, Schreiben, Lesen, Schreiben, Lesen ...

    - Ohne allzu viele blinde Flecken auszusparen, das Handwerk des Schreibens zu erlernen sowie die Fähigkeit, das Erlernte auch umsetzen zu können.

    - Ein ausgeprägtes Sprachgefühl.

    Das ist, wenn überhaupt, nur bedingt erlernbar. Allenfalls ist es möglich, das, was als Sprachgefühl bereits vorhanden ist, weiterzuentwickeln.

    - Neugier. Offenheit. Unvoreingenommenheit. Alles nicht erlernbar. Ein mit großer Aufmerksamkeit gelebtes Leben. Braucht seine Zeit.

    - Empathie.

    Auch die ist nicht erlernbar.

    - Ausdauer. Die Ausdauer, die es braucht, um ein oder zwei Jahre lang oder noch länger zu recherchieren, zu schreiben, zu überarbeiten, bis ein präsentationsreifes Manuskript vorliegt und das alles auch noch in weitgehender Selbstisolation zu tun und ohne darüber depressiv oder „sonderbar“ zu werden.


    Der einzige Punkt, bei dem ich Akademiker im Vorteil sehe, ist dieser letzte Punkt. Mein Eindruck ist allerdings, dass nur die Wenigsten diese Fähigkeit erst während des Studiums erwerben, sondern diese bereits „von Haus aus“ mitbringen.

    Und auch die Tatsache, dass die Mehrzahl der Akademiker selbst bereits aus einem Akademikerhaushalt stammt, halte ich in diesem Kontext für beachtenswert. Das Interesse für Kunst im Allgemeinen und für Literatur und nachfolgend auch für das Schreiben im Besonderen ist in diesem Milieu erfahrungsgemäß deutlich stärker ausgeprägt als meinetwegen in einer Arbeiter- oder Handwerkerfamilie. Gleiches gilt für die Ermutigung und die Unterstützung, die in einem Akademikerhaushalt häufig diejenigen erfahren, die den Wunsch äußern, einen künstlerischen Beruf zu erlernen und auszuüben – im Gegensatz zu bildungsferneren Milieus, in denen entsprechende Diskussionen sehr schnell mit dem Satz abgewürgt werden: „Lern erst mal wat Richtiges!“


    Ja, und ich denke, das macht dann in vielen Fällen und bereits vor dem Beginn irgendeines Studiums den entscheidenden Unterschied.

    Ein Resultat wäre dann aber womöglich, dass manche Themen/Lebensläufe/Figuren in der Literatur weniger vertreten sind, weil sie in der Lebensrealität des Großteils der Schreibenden nicht vorkommen.

    Daran kann kein Zweifel bestehen. Die Tatsache, dass unter Autoren und Autorinnen Akademiker überrepräsentiert sind, führt dann auch hinsichtlich der gewählten Themen und Stoffe unvermeidbar zu einer Verarmung und erzeugt zumindest in mir manchmal den Eindruck, die Welt wäre mehrheitlich von Akademikern bevölkert.

    Dieser Vergleich, diese Phrase wird so oft gebracht, aber davon wird sie auch nicht wahrer.

    Was du Phrase nennst, begreife ich als Metapher, aber offensichtlich ist es eine schlecht gewählte Metapher, wie mir mittlerweile scheint. Denn natürlich geht es um deutlich mehr, als einen „Film“ in meinem Kopf so zu „schildern“, dass er verlustfrei im Kopf des anderen ankommt. Das ist zum einen unmöglich, weshalb ich ja auch vorsorglich „möglichst verlustfrei“ geschrieben habe. Und zum anderen wird es ebenso wenig möglich sein, auch nur annähernd zu evaluieren, was genau in welchem Ausmaß und auf welche Weise im Kopf des anderen angekommen ist. Insofern, ja, hätte ich meine Gedanken sorgfältiger formulieren müssen.

    Aber Kino oder Filme sind audiovisuelle Ereignisse, doch das Schreiben und das Lesen sind viel, viel mehr als nur das, denn sie ersetzen genau diese sinnlichen Eindrücke durch das, was unsere Fantasie aus den Worten der Erzählung macht.

    Genau deshalb habe ich ja auch vom Nadelöhr des Schreibens gesprochen, durch das ich dieses Universum sinnlicher Wahrnehmung, diese Abfolge von Bildern, Klängen, Gerüchen, das Fühlen und Denken der Romanfiguren, deren Ängste und Hoffnungen zu bewegen versuche, um die Voraussetzungen dafür zu erhalten, dass im Kopf des anderen dieses Universum wieder lebendig werden kann, nicht als eine schlechte Kopie oder gar als Wiedergänger meines Universums, sondern genau so lebendig, „sinnlich“ und detailreich, mit diesem deshalb aber auch niemals identisch sein kann, sondern diesem nur mehr oder weniger ähnlich, denn die Rolle von Leserin oder Leser bleibt nie auf die eines ausschließlich passiven Konsumenten beschränkt. Was wiederum bedeutet, dass ausgehend von einer Definition des Erzählens als dem Spielen mit dem „Vorwissen“ des Lesers diese Definition zuletzt doch ein wenig weiter zu fassen ist, denn meine Kenntnis dieses „Vorwissens“ ist selbst im besten Falle dann doch allzu lückenhaft, ist dieses „Vorwissen“ überdies sehr stark beeinflusst von der Biografie des Lesers, die ich nicht kennen kann. Aber gerade das macht die Sache wieder spannend. Und schwierig.

    Jeder Film-sehende und Buch-lesende betrachtet die Erzählung aus seiner eigenen Perspektive und von seinem eigenen Standpunkt aus und nimmt die Manipulationen der Autoren/Filmmacher unterschiedlich auf.

    Und doch erfordert das eine aktive Beteiligung, ein „Mitspielen“ von Leserin und Leser, kann erst dadurch eine aktive und letztendlich auch kreative Beteiligung die Lebendigkeit und Sinnlichkeit einer Geschichte bewahrt werden und ist erst in der spezifischen Rezeption eine Geschichte zu Ende erzählt.


    Für den Musikjournalisten Joachim Ernst Berendt ist Lesen verinnerlichtes Hören. Soll heißen: ... ist Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen und tausend und eine weitere Wahrnehmung.

    Und das, was das Lesen mit sich bringt, ist weit mehr als das, was Bilder und Töne auslösen können. Oder anders oder beides.

    Kein Einspruch.

    Ich habe dezente Zweifel daran, ob das mit den Filmen in den Köpfen überhaupt stimmt. Wenn das so wäre, wäre es sehr einfach. Ist es aber nicht.

    Wohl niemand, der je den ernsthaften Versuch unternommen hat, schreibend eine gut lesbare und zugleich lesenswerte Geschichte zu erzählen, wird Letzteres bezweifeln. Aber inwiefern sollte das einfach sein, solange es „nur“ darum ginge, einem anderen Menschen den Film im Kopf auf überzeugende Weise zu vermitteln? Und was wären dann die „echten“ Schwierigkeiten?

    Meine Antwort auf die Frage, was Erzählen (in allgemeinster Definition) ist, würde in einer ersten und spontanen Annäherung so lauten:

    „Erzählen ist die Kunst, den Film in meinem Kopf (möglichst verlustfrei durch das Nadelöhr des Schreibens) in den Kopf eines anderen Menschen zu bringen.“


    Wobei der Film erst während des Lesens im Kopf des Lesers seine endgültige Fassung erhält, was jedes gelesene Buchexemplar zu einem Unikat macht.

    Wesentlich für eine gut erzählte Geschichte ist es, die Geschichte mit so vielen Anreizen auszustatten, dass sie die Lesenden zum „Spielen“ animiert und ihnen auch die dazu nötigen Freiräume zu lassen.


    An dem Punkt trennt sich dann auch die Spreu vom Weizen, beginne ich als Leser zu unterscheiden zwischen guten Erzählern und Erzählerinnen sowie Autor(innen), die mich zwar möglicherweise mit ihrer Sprachkunst beeindrucken, die ansonsten aber nicht viel zu sagen haben, weil sie mit ihren „Geschichten“ vornehmlich um ihre eigene Befindlichkeit und den eigenen Lebensraum kreisen oder sie es erkennbar darauf anlegen zu belehren, zu missionieren, zu moralisieren.

    Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich so sehr zu angelsächsischen Autor(innen) hingezogen fühle, sie für mich oft auch eine Vorbildfunktion haben. Denen scheint die Gabe der Erzählkunst deutlich häufiger in die Wiege gelegt worden zu sein, zu der für mich auch eine gewisse Leichtigkeit und Lakonie gehören, auch und gerade im Umgang mit „schwierigen“ Stoffen.

    Ja, das stimmt. Um hier rausgeschmissen zu werden, musst du wirklich verflucht hart dran arbeiten. Aber in einem Vorstellungsthread sind das eh sonderbare Gedanken.

    Deshalb erst einmal: Herzlich willkommen im Forum, Zwergteutone!:)

    Misery gehört sicherlich auch noch auf diese Liste.

    Aber mein absoluter Lieblingsfilm in dieser Kategorie sind die bereits genannten Wonder Boys. Dieser Film ist in jeder Beziehung eine richtige Perle - mit einem wundervollen Skript, grandiosen Darstellern und vor allen Dingen bietet er fast zwei Stunden lang erstklassige Unterhaltung.

    Hallo Tom,


    danke dafür, dass du dir die Zeit genommen hast, meinen Unsinn zu lesen und zu kommentieren.

    Dieser unterwürfige, das Seelenheil irgendwelcher Leute über alles andere stellende Ansatz - letztlich handelt es sich um das Diktat der jederzeit Beleidigten - ist vollständig realitätsfremd, kontraproduktiv und außerdem nicht praktikabel.

    Ich weiß nicht, aus welchem Teil meiner Meinungsäußerung du das herausgelesen haben willst. Ganz sicher vertrete ich nicht den Ansatz, in der Bewertung der Arbeit eines anderen Menschen diesem mit Unterwürfigkeit begegnen zu müssen. Ich gehöre auch nicht zu denen, die fordern, Kunstkritik habe grundsätzlich sanfter und freundlicher auszufallen und sich durch einen „Wuschelpuschelpieppieppiepwirhabenunsalleliebtenor“ auszuzeichnen. Aber ich stelle mir die Frage, ob es abgesehen vom Kritiker selbst zuletzt irgendjemandem etwas bringt, die Bandbreite dessen, was in unserer Gesellschaft an freier Meinungsäußerung möglich ist, auch tatsächlich bis zum Letzten auszureizen. Dass er es darf ... geschenkt. Aber muss er es auch? Und wenn er es tut, wenn er glaubt, immer noch eins draufsetzen zu müssen und mit seinen Formulierungen „Hau-den-Lukas“ zu spielen, dann kippt das Ganze irgendwann, kommt unausweichlich der Punkt, an dem zumindest in meiner Wahrnehmung die Kritik zum reinen Spektakel verkommt. Und diese Art von „Kritik“, lieber Tom, geht dann mir als Orientierung suchendem Literaturkonsumenten „völlig am Arsch vorbei“. Dass Kritik immer auch die Meinung des Kritisierenden transportiert, ist mir durchaus bewusst. Wie sollte es auch anders gehen? Aber wenn die Kritik darüber hinaus wenig bis gar nichts enthält, das mir erlaubt, die Kritik halbwegs zutreffend einzuordnen, dann stellt sich für mich zwangsläufig die Frage, wozu die ganze Übung gut sein soll.


    Dafür, dass es auch anders geht, bist du selbst das beste Beispiel. Deine Rezensionen hier im Forum lese ich immer mit großem Vergnügen. Sie sind stets sachlich und informativ und ich habe es auch bei Verrissen noch nie erlebt, dass du dich mehr mit dem Autor beschäftigst als mit diesem einen Buch, um das es geht. Am Ende deiner Rezensionen weiß ich jedes Mal, ob dieses Buch etwas für mich sein könnte oder nicht. Tatsächlich habe ich erst dreimal bewusst ein Buch aufgrund einer Rezension gekauft, die in allen drei Fällen von dir stammte (Elisabeth Strout: Die langen Abende, Stewart O’Nan: Abschied von Chautauqua, Johan Harstad: Max, Mischa und die Tet-Offensive).


    Aber mir geht es auch gar nicht so sehr um die Autoren, über die wir hier immer wieder reden. Die Fitzeks und Coelhos werden mit Kritiken in der Art des Anti-Kanons von Denis Scheck leben können. Vermutlich sind diese „Kritiken“ sogar wohlwollend akzeptierte Bestandteile ihres Geschäftsmodells. Aber es gibt auch die vielen anderen. Und es gibt die Literaturkonsumenten, die von dieser Art der Kritik ja auch nicht unbeeinflusst bleiben.

    Meinen Vater, der als Orchestermusiker und Solist regelmäßig mit der Kritik von Berufskritikern konfrontiert war und der wie viele seiner Kollegen unter einer schlechten Kritik regelrecht gelitten hat, habe ich in meinem Posting #27 schon erwähnt. Ein weiteres Beispiel ist ein früherer Freund, der eine Kabarettgruppe mitgegründet hatte, deren allererster(!) Auftritt in der regionalen Zeitung mit einer vernichtenden Kritik bedacht wurde, obwohl der Auftritt vom Publikum mit Applaus und ohne die geringste Missfallensbekundung goutiert worden war. Aber aufgrund der Kritik hat es keinen weiteren Auftritt mehr gegeben und die Gruppe hat sich kurz darauf auch aufgelöst.

    Mit anderen Worten: Eine einzige Meinung, die des Berufskritikers, unter dreißig bis vierzig anderen und mehrheitlich offensichtlich abweichenden Meinungen hat ausgereicht, die Gruppe auszulöschen, und hat im Falle unseres Freundes dazu geführt, dass er den Gedanken ans Kabarett frühzeitig und endgültig begraben hat.

    Mit der Tatsache, dass sich Kritiker zumindest in der Wahrnehmung ihres Publikums häufig als oberste Instanz gerieren - der Begriff "Kritikerpapst" kommt ja nicht von ungefähr - habe ich deshalb meine Probleme, und auch damit, dass immer auch Scheiße sein soll, was der Kritiker als Scheiße empfindet.

    Ja, in unserer Welt sollte nichts in Stein gemeißelt sein, und der Umgang, den wir miteinander pflegen, gehört sicherlich zu den Aspekten, die recht viel Luft nach oben haben. Aber einfach alle Aspekte des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Geschehens - und ihre Ergebnisse (!) - als Teil des Umgangs zu bewerten und eine Grundsatzfreundlichkeit einzufordern, die sämtliche Meta- und Produktivebenen einschließt, das hat eine Welt zum Ergebnis, in der auch das wahrlich Schlechte schließlich als gut durchgeht. Letztlich dehnt diese Forderung die Paradigmen der Identitätspolitik auf alle und alles und jeden und jede aus, und sie stellt das Wie über das Was.

    Zum Teil stimme ich dir zu, dem ersten Satz ganz sicher und auch dem letzten Satz, was uns aber dennoch von Neuem mit der Frage konfrontiert, wem es zusteht, darüber zu befinden, was wahrlich schlecht ist und welche Konsequenzen das für andere hat.


    Die Meinung eines Berufskritikers mit der Meinung eines x-beliebigen Kunstkonsumenten gleichzusetzen, hieße, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Je größer die Reichweite, desto größer ist auch die Verantwortung. Oder sehe ich das falsch?


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    das ist ein nicht unlustiger Widerspruch.

    Der worin besteht? Oder hast du vielleicht in dem von dir benutzten Zitat die letzten drei Wörter überlesen: „Im privaten Umfeld.“ Und weiter habe ich geschrieben: „In dem Moment, in dem ich diese Meinung öffentlich vertrete, gelten andere Maßstäbe, die unabhängig sind von meinem persönlichen Wertekanon.“

    Dein Rangdenken teile ich ganz und gar nicht.

    Was meinst du mit „Rangdenken“?

    Nein, nein und nochmals nein. Sie müssen hoffentlich gar nichts (ist das ein Gesetzesvorschlag für die Viktor Orban Regierung? Und alles andere wird gelöscht und verboten?)

    Ich bin ein absoluter Gegner der derzeit grassierenden Verbotskultur.

    Kann es sein, dass wir nicht im selben Land leben?


    Ja, es gibt Gesetze, es gibt Regeln, es gibt Konventionen. Ohne all diese Übereinkünfte kann kein menschliches Gemeinwesen existieren. Über Sinn oder Unsinn dieser Übereinkünfte kann, soll und muss gesprochen und auch gestritten werden. In einem permanenten Prozess. Und immer wieder neu. Was ja auch geschieht. Weshalb sich Gesetze, Regeln und Konventionen im Laufe der Zeit auch verändern.

    Was wäre denn die Alternative? Dass jede und jeder immer und überall tut und lässt, wie es ihr oder ihm beliebt? Oder ist es ein unveräußerliches Menschenrecht, zweimal im Jahr nach Mallorca oder Bali zu fliegen, jeden Tag Fleisch zu essen, jede kleine Besorgung mit dem eigenen Auto zu erledigen und mit alldem die Lebensgrundlage zukünftiger Generationen zu zerstören? Ist es ein unveräußerliches Menschenrecht, meine Nachbarn, meine Kollegen, die Mitglieder meiner Familie mit Corona zu infizieren, obwohl es eine einfache und für mich in der Regel ungefährliche Möglichkeit gibt, dieses Risiko drastisch zu verringern? Und ist es ein unveräußerliches Menschenrecht, die Arbeit eines Menschen in einer Art und Weise zu verunglimpfen, die diesen Menschen der Lächerlichkeit preisgibt, ihn damit wahrscheinlich zu verletzen und die Tatsache, dass mir das offensichtlich auch noch schnurzpiepegal ist, vor aller Welt zu zelebrieren?

    Wo urteilt Scheck über die Person? Er urteilt über Fitzek und Coelho in ihrer Eigenschaft als Schriftsteller, und damit über ihr Können. Ist das schon zu persönlich …?!

    Du hältst es also für möglich, dass der Autor Fitzek oder der Autor Coelho völlig losgelöst von der Person Fitzek oder der Person Coelho existiert? Es mag ja tatsächlich ein paar supertaffe Autoren geben, die sich angesichts eines Verrisses eins grinsen und denken: „Hauptsache die Kohle stimmt. Warum also soll ich mir einen Kopf nur deswegen machen, weil auch noch ein paar andere meinen Scheiß scheiße finden.“ Aber viele Menschen definieren sich über ihre Arbeit, und für die Mehrzahl der Künstler trifft das sicherlich in besonders starkem Maße zu. Deshalb, ja, ist über die Herabwürdigung der Arbeit eines Künstlers in der Regel auch die Person mitgemeint. Das sollte nicht zuletzt auch dem Kritisierenden bewusst sein und er das bei der Wahl seiner Mittel berücksichtigen.

    Es bringt mich aber auch zu folgendem Gedanken: Wären die Meinungen auch so dermaßen auseinandergegangen, wenn es um ein anderes Produkt gegangen wäre als Bücher? Meinetwegen ein Shampoo, das einem die Haare ausfallen lässt: Hätte man sich darüber „direkter“ äußern dürfen?

    Ich würde mich dazu gar nicht äußern, sondern mir ein anderes Shampoo kaufen. Oder, wenn mir die Himbeermarmelade der Marke Wie bei Muttern nicht schmeckt, zur Marke Großmutters Paradiesgarten wechseln. Natürlich ist auch ein Buch ein Produkt. Auch. Und für mich nur in einem einzigen Moment: an der Ladenkasse. Danach wird es zu einer emotionalen Reise, auf die mich eine Autorin oder ein Autor mitnimmt. Ohne diese starke emotionale Komponente würde ich kein Buch lesen. Bei Shampoo oder Marmelade ist die emotionale Bindung deutlich schwächer ausgeprägt.

    Ich glaube, aus dieser Nummer kommen wir nicht raus. Das bleibt ein unauflösbarer Widerspruch. Literatur und auch Literaturkritik braucht unbedingt die Möglichkeit der Grenzüberschreitung und der Regelverletzung.

    Soweit es die Literatur betrifft, stimme ich dir vorbehaltlos zu. Ein literarisches Werk ist etwas Originäres. Literaturkritik hingegen schafft nichts Neues oder sie tut dies allenfalls in ihrer Form. Ob es dazu aber unbedingt der Möglichkeit der Grenzüberschreitung und der Regelverletzung bedarf, bezweifle ich.

    Ich weiß nicht, wie wir da rauskommen (oder die Gesellschaft, oder die Literatur oder Literaturkritik im Allgemeinen). Ich glaube, wir werden einfach lernen müssen, damit umzugehen und mal in der einen Richtung und mal in der anderen Richtung Fehler zu machen.

    Das klingt sehr nach Resignation. Und falls sie die Realität spiegelt, hieße das, dass wir die Asozialität der Social Media als Maßstab für die gesamte Gesellschaft bereits verinnerlicht haben.


    Herzliche Grüße,:)


    Jürgen

    PS: Es gibt ja dieses schöne Lied „Der Musikkritiker“ von Georg Kreisler.

    Der Text des Kreisler-Songs ist wirklich köstlich. Nicht länger überraschend ist jetzt für mich, dass mein Vater ein großer Kreislerfan war. Sicher kannte er den Musikkritiker. Im Gegensatz zu mir. Mir ist nur das Tauben vergiften im Park in Erinnerung geblieben, das ja vermutlich jeder kennt. Denn trotz der Begeisterung meines Vaters habe ich in meiner Jugend wenig bis nichts mit Kreisler anfangen können. Und danach habe ich ihn einfach vergessen. Shame on me!

    Um zu wissen, wie es ginge, muss ich es nicht können.

    Aber um zu wissen, wie es geht, muss ich es zumindest versucht haben. Und wenn ich mit meinen Versuchen krachend gescheitert bin, umso besser. Erst dann kann ich wirklich wissen, wovon ich rede, wenn ich die Arbeit eines Autors kritisiere. Und wenn ein Kritiker diese Erfahrungen gemacht hat, dann soll er das bitte auch kommunizieren, bevor er sich daranmacht, Autorinnen und Autoren öffentlich vorzuführen. Mir würde das Wissen um die eigenen Erfahrungen des Kritikers dabei helfen, seine Kritiken besser einzuordnen.

    Jeder weiß, dass ein ehemaliger Torschützenkönig nicht auch der beste Moderator oder Trainer sein muss, warum sollte das denn in der Literatur oder Musikszene anders sein?

    Das klingt plausibel. Dennoch hinkt der Vergleich.

    Jürgen Klopp ist ein begnadeter Fußballtrainer, der von sich selbst sagt, als Spieler allenfalls biederes Mittelmaß gewesen zu sein – in der 2. Liga. Aber immerhin war er Spieler. Und als Trainer schafft er es regelmäßig, aus Talenten Stars zu machen, und eher mittelmäßige Spieler bringt er dazu, aus ihren begrenzten Möglichkeiten alles herauszuholen und zu guten Spielern zu werden. Das gelänge ihm sicherlich nicht dadurch, dass er in der Pressekonferenz nach einem Spiel vor einer feixenden Journalistenschar über einen seiner Spieler sagen würde: „Ob ich es wohl noch erleben werde, dass diese Null auch mal den Ball trifft?“


    Nun ist ein Literaturkritiker kein Coach, was er ja auch nicht sein soll. Und Denis Scheck ist sicherlich der Letzte, der das in Erwägung ziehen wollte. Aber Kritik, und die ist ja nach des Kritikers Selbstverständnis sein Metier, sollte schon ein bisschen substanzieller und auch informativer sein, als nach zehn Minuten Kabarett zu dem schlichten Resümee zu gelangen: „Wat für’n Schiet.“ Natürlich formuliert der Kritiker das nicht so platt, wie es ist, sondern kleidet sein Urteil, garniert mit mal mehr, mal weniger zielgenauen Provokationen, in kunstvoll gedrechselte Sätze, die gemessen an seinem intellektuellen Anspruch und vermutlich auch dem seines Publikums dennoch eher wie Schenkelklopfer wirken und von Teilen dieses Publikums wohl auch als solche goutiert werden.

    Und will er sich durch die Inszenierung als gottgleiches Wesen von der Schar der „Literaturpäpste“ absetzen, um sich quasi als letzte Instanz über diese zu erheben? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Ist es ernstgemeint, ist es peinlich. Ist es nicht ernstgemeint, verscheißert er sein Publikum. Denn dafür, dass dieses Format als Selbstpersiflage gemeint ist, habe ich nicht den geringsten Anhaltspunkt finden können.


    Dass er sich ein Buch einer Autorin oder eines Autors herausgreift, genüsslich dieses eine Buch seziert, um zuletzt zu konstatieren

    Zitat

    „Sebastian Fitzek markiert den geistigen Ground Zero dessen, was in Deutschland derzeit geschrieben und veröffentlicht wird.“

    „Paulo Coelho, dieser aus dem protoliterarischen Urschleim gekrochene Einzeller der Erbauungsliteratur, steht für alles, was ich in der Literatur hasse.“

    zeigt die Fragwürdigkeit dieses Formats. Denn als Zuschauer kann ich daraus nur den Schluss ziehen, dass in erster Linie der Autor gemeint ist und nicht nur dieses eine Buch. Mit einer solchen Vorgehensweise wäre es ein leichtes, selbst die begnadetste Autorin und den genialsten Autor zu diffamieren. Um das an einem Beispiel deutlich zu machen: Philip Roth ist sicherlich unverdächtig, eines Tages mit den Fitzeks und Coelhos in eine Reihe gestellt zu werden. Aber sein vorletzter Roman Die Demütigung war schlicht und ergreifend Mist. Wäre ich jetzt ein Starkritiker mit der entsprechenden Reichweite, könnte ich mir dieses eine Buch herausgreifen und vermittels eines Verrisses in der Art des Anti-Kanons zumindest bei dem eher uninformierten Teil meines Publikums dafür sorgen, dass sich diese Menschen nie im Leben ein Buch von Philip Roth kaufen werden, unabhängig davon, ob das jetzt meine Absicht gewesen wäre oder nicht.

    Kritik ist eine eigene Disziplin, ist eigene Kunst.

    Nochmal: Literaturkritik ist ein eigenes Genre.

    Genre von was? Literaturgenre?


    Jedem Menschen steht es frei, zu allem und jedem eine Meinung zu haben und diese Meinung auf jede nur erdenkliche Weise auch zu äußern. Im privaten Umfeld.

    In dem Moment, in dem ich diese Meinung öffentlich vertrete, gelten andere Maßstäbe, die unabhängig sind von meinem persönlichen Wertekanon.

    Dass ich, auch aufgrund persönlicher Erfahrungen, ein grundsätzliches Problem damit habe, das öffentliche Kritisieren der Arbeit anderer Menschen als eigenständiges Berufsbild zu akzeptieren, habe ich bereits in meinem Posting #27 dargelegt. Und das gilt umso mehr, wenn die „Kritik“ überwiegend in einer Herabwürdigung der Arbeit eines anderen Menschen und erst recht der seiner Person besteht. Und wenn ich mir vorstelle, dass der Kritiker mit seiner Kritik in manchen Fällen ein höheres Einkommen erzielt als der Kritisierte, dann verstärkt das für mich die Fragwürdigkeit noch weiter. Anyway ...

    Das Mindeste, das ich von einem, sagen wir, Literaturkritiker erwarte, ist, dass er mir über seine persönliche Meinung hinaus nachvollziehbare Argumente und Gründe liefert, die mich neugierig auf die Lektüre eines Buches machen - oder eben nicht. Alles andere ist überflüssig, ist mir zu wenig, ist heiße Luft - oder es ist eben nur eine Show und von Anfang an auch als solche gemeint. Nun denn ...


    Nicht wenig deutet darauf hin, dass im Zuge einer maßlosen Kommerzialisierung von allem und jedem auch das Berufsbild des Kunstkritikers ein grundlegend anderes geworden ist verglichen mit dem, das es meinetwegen noch vor zwanzig Jahren war, mögen Kunstkritiker jetzt also tatsächlich Unterhaltungskünstler sein. Und dass die sich dann auch kritisieren lassen müssen, versteht sich von selbst. Das begründet dann einen neuen Berufsstand, den der Kritikerkritiker, die dann wiederum von den Kritikerkritikerkritikern in die Mangel genommen werden. Das Konzept ist schon recht lustig und erinnert mich an die russischen Babuschkapuppen, die immer kleiner werden.


    Hm. Vielleicht sollte ich mir doch einen Fernseher anschaffen und gleich Dschungelcamp oder DSDS gucken.


    Oder das nicht mehr Erwartete geschieht doch noch und ein Kind ruft: „Der Kaiser ist ja nackt!“


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    Mittlerweile habe ich den Artikel im Literaturcafé inklusive der Kommentare gelesen und mir auch zwei der Anti-Kanon-Clips von Denis Scheck zu Gemüte geführt (Fitzek und Coelho). Zu Fitzek kann ich nichts sagen, da ich noch nichts von ihm gelesen habe, und mit dem, was Scheck zu Coelhos Alchimist sagt, spricht er mir aus der Seele. Trotzdem bin ich in meinem Urteil gespalten.

    Was den Artikel angeht sowie einige der Reaktionen sowohl auf den Artikel wie auf Denis Scheck selbst, wirkt das auf mich eher wie ein Sturm im Wasserglas. Viel Lärm ... nun ja, nicht um nichts, aber um wenig. Überdies sind die Hauptakteure Profis und werden wohl wissen, worauf sie sich eingelassen haben. Hier ein paar gewollte Provokationen in Erwartung der vorhersehbaren Reaktionen, kalkulierter Shitstorm inklusive, dort eine bisweilen künstlich wirkende Aufregung.

    Was mich viel mehr interessiert, sind ein paar grundsätzliche Fragen im Zusammenhang mit Kunstkritik im Allgemeinen und mit Literaturkritik im Besonderen.

    Weil oft genug - und manche sagen sogar: meistens - Spott und Hohn verdient, was im Kultur- und Unterhaltungsbetrieb auf den Markt geworfen wird.

    Selbst wenn es so wäre: Lässt sich daraus eine Zwangsläufigkeit ableiten, Spott und Hohn dann auch tatsächlich über denjenigen ausgießen zu müssen, die meiner Meinung nach beides verdienen? Würde es nicht reichen, den ganzen unbestrittenen Mist geräuschlos zu ignorieren? Aber, klar, Krach bringt die bessere Quote und mehr Klicks.

    Dennoch tue ich mich schwer damit, Spott und Hohn als Kernkompetenzen von Literaturkritikern zu akzeptieren.

    Für mich gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Ehrfurcht und Sachlichkeit. Ich finde Ehrfurcht genauso unangebracht wie Häme.

    Und wie "sachliche" Kunstkritik aussehen soll, das würde ich gerne mal sehen. Habe ich nämlich noch nie. Das geht auch gar nicht. Und, nicht falsch verstehen: Kunstkritik ist nicht dafür da, den Künstlern zu helfen, um besser zu werden oder bessere Lebensentscheidungen zu treffen, sondern sie ist als extrem subjektive Orientierung für die Konsumenten gedacht. Und zur Unterhaltung.

    Ja, vermutlich ist es so, dass eine sachliche Kunstkritik eine Mission impossible ist. Aber vielleicht liegt das ja an der Art und Weise, wie wir das Wort „Kritik“ definieren. Kritik, wenn diese denn als solche ernstgenommen werden will, ernstgenommen im Sinne von beachtenswert, impliziert für mich immer auch das Bemühen um Sachlichkeit, hat zumindest den erkennbaren Versuch einzuschließen, die eigene Meinung mit Argumenten zu unterfüttern. Dass Kritik gleichzeitig auch die eigene Meinung transportiert, ist so unbestritten wie unvermeidbar und etwas anderes wäre vielleicht nicht einmal wünschenswert.

    Pointierte Formulierungen sehr gerne und auch gegen Provokation ist nichts einzuwenden, solange sie nicht um ihrer selbst willen geschieht. Aber für meinen Geschmack haben sowohl Denis Scheck als auch einige seiner Kritiker hier und da Grenzen überschritten.


    „Sebastian Fitzek markiert den geistigen Ground Zero dessen, was in Deutschland derzeit geschrieben und veröffentlicht wird.“

    „Paulo Coelho, dieser aus dem protoliterarischen Urschleim gekrochene Einzeller der Erbauungsliteratur, steht für alles, was ich in der Literatur hasse.“


    Mann oh Mann! Das ist für mich keine Kritik mehr, sondern da berauscht sich einer an seiner eigenen Sprachschöpfung. Sowas kann er meinetwegen nach dem achten Bier am Kritikerstammtisch von sich geben, aber wenn er die ihm zur Verfügung stehenden Plattformen nutzt, um die Erwartungshaltung zumindest von Teilen eines breiten Publikums zu bedienen, das Spott und Hohn offensichtlich als selbstverständlichen Bestandteil von Kritik begreift, dann ist das genauso danebengegriffen wie die Anmerkungen einiger seiner Kritiker, die sich nicht auf Inhaltliches beziehen, sondern zum Beispiel auf das Äußere von Denis Scheck. Oder sind Literaturkritik und die Kritik an den Kritikern jetzt Programmpunkt im Circus Maximus?


    Und falls Kunstkritik als „extrem subjektive Orientierung für Konsumenten“ gedacht ist, stellt sich für mich sofort die Frage, welchen Wert sie dann hat. Wie hoch kann der Informationsgehalt einer Meinung sein? Warum sollte ich der Meinung von Erika Mustermann oder meinetwegen auch der eines Denis Scheck mehr trauen als meinem eigenen Urteilsvermögen?

    Und warum ich fünf bis zehn Minuten meiner Lebenszeit dafür hergeben soll, um mich davon überzeugen zu lassen, ein bestimmtes Buch nicht zu kaufen, will sich mir auch nicht so recht erschließen, ein Buch, das ich mir, wenn ich Denis Schecks Anti-Kanon-Auswahl anschaue, wohl eh nicht gekauft hätte. Wie dem auch sei.


    Wenn also Kunstkritik ausschließlich oder überwiegend in der Äußerung einer Meinung besteht, hat sie für mich keinen erkennbaren Nutzen mehr und das Wort „Kunstkritiker“ ist ein ausgemachter Etikettenschwindel. „Meinungsventilator“ würde besser passen. Und wenn sich so ein Meinungsventilator in erster Linie tatsächlich als Unterhaltungskünstler versteht, was unterscheidet ihn dann noch von einem Zirkusclown? Um Spektakel also geht es?

    So verstandene Kunstkritik hat für die Kunst dieselbe Bedeutung wie der Taubenschiss fürs Kirchdach.


    Ich bin mir nicht sicher, aber möglicherweise bin ich gegenüber Kunstkritikern ein wenig voreingenommen. Und das hat dann vermutlich mit meinem Vater zu tun. Der war Orchestermusiker, und diese sich regelmäßig wiederholende Szene hat sich in meine Erinnerungen eingebrannt, wenn er jedes Mal nach einer Opernpremiere oder einem Konzert, besonders nach solchen, in deren Verlauf er längere Solopassagen zu meistern hatte, zwei Tage später noch vor dem Morgenkaffee mit zitternden Händen die Zeitung aufschlug, um die Konzertkritik zu lesen, geschrieben von einem Menschen, der nicht annähernd über das Talent und die Fertigkeiten eines Profimusikers verfügte und der ebenso wenig zu ermessen vermochte, was es bedeutete, manchmal eine halbe Stunde oder noch länger vor tausend Konzertbesuchern zu stehen und eine Höchstleistung abzuliefern, ungeachtet dessen, was diesen Menschen sonst noch bewegte, gesundheitliche Probleme, ein Todesfall in der Familie oder was auch immer.

    Es mag also mit diesen Erinnerungen zusammenhängen, mit dem, was es mit meinem Vater und seinen Musikerkollegen machte, dass ich es schon seit jeher als fragwürdig empfunden habe, wenn Menschen ihren Lebensunterhalt damit verdienen, die Arbeit anderer Menschen vor aller Welt mit einer oftmals unerträglichen Arroganz herabzuwürdigen und sich dabei nicht selten auch an der Person des Künstlers oder dem Urheber eines Kunstwerks abarbeiten. Denn ein Punkt kommt mir in Diskussionen wie dieser hier häufig zu kurz, falls er überhaupt Erwähnung findet: Es geht bei alldem auch um berufliche Existenzen.


    Fitzek und Coelho wird es nicht jucken. Wie Petra unter #15 in diesem Thread geschrieben hat, wird sich vermutlich auch ein Verriss positiv auf die Verkaufszahlen ihrer Bücher auswirken. Eine schlechte PR ist auch PR.

    Aber gilt das auch für all diejenigen, die sich abmühen, im Geschäft zu bleiben oder für einen Debütanten, der gerade versucht, überhaupt erst einen Fuß in die Tür zu bekommen? Wohl kaum. Denn Verrisse sind ja nun mal keine Spezialität von Starkritikern, die sich zur eigenen Ergötzung und zur Gaudi des Publikums Starautoren vorknöpfen. Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften oder in Buchblogs sind da oft nicht besser und die treffen dann auch die Autorinnen und Autoren, die auflagenmäßig in der zweiten oder dritten Liga spielen.

    Ich weiß, ich wiederhole mich, aber es ist mir nun mal sehr wichtig: Eine Meinung, die eben nur das ist, eine Meinung, ist das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist, oder den Sendeplatz, den auch ich mit meinen Rundfunkgebühren mitfinanziere, obwohl ich noch nie einen Fernseher besessen habe und in diesem Leben auch nicht mehr besitzen werde.


    Vielleicht habe ich auch nur etwas missverstanden, wollte es möglicherweise missverstehen. Vielleicht geht es ja tatsächlich nur noch um Spektakel, sind wir – Leserinnen und Leser, Autorinnen und Autoren, Agenten, Verleger, Lektoren, Literaturkritiker und die Kritiker der Kritiker – vielleicht also sind wir ja alle nichts weiter als Akteure und Zuschauer im Circus Maximus der Kunstindustrie und nur so unverbesserliche Romantiker oder Naivlinge, wie ich wohl einer bin, wollten das bislang nicht wahrhaben.


    Aber dann will ich mir auch das nicht verkneifen: Warum halten diejenigen, die vorgeben, alles darüber zu wissen, was einen genialen Roman auszeichnet, nicht einfach mal die Klappe, bleiben stattdessen acht oder neun Monate auf ihrem Hintern sitzen und schreiben ihn endlich, diesen genialen Roman, auf den Millionen Leserinnen und Leser sehnsüchtig warten?


    Herzliche Grüße,:)


    Jürgen