Vielleicht sind wir überfordert mit dieser Art der Kommunikation, mit diesem ungefilterten permanenten Stimmengewirr von überallher.
Ich bemerke das an mir selbst, dass ich bereits beim Schreiben einer eMail dazu tendiere, „härtere“ Formulierungen zu wählen, als wenn ich mit ein und der derselben Person ein Telefongespräch führe, und in noch viel stärkerem Maße gilt das, wenn mir diese Person direkt gegenübersitzt. In der Kommunikation über das Internet fehlt der Klang der Stimme und es entfällt die mit den Worten parallel laufende Kommunikation über Mimik und Gestik, die wir in ihrer Gesamtheit nicht einmal näherungsweise bewusst wahrnehmen und die unseren Worten im Extremfall eine völlig andere, auch komplexere Bedeutung geben können - komplexer im Sinne von Vervollständigung. Wenn ich zum Beispiel hier im Forum jemanden ohne weitere Erklärung als „Idiot“ anreden würde, dann käme das beim Empfänger zweifellos anders an, als wenn ich ihm das in einen bestimmten Kontext eingebettet mit einem Grinsen bis zu den Ohren direkt ins Gesicht sage und ihm gleichzeitig Kaffee nachschenke.
Der Wertungsprozess entzieht sich unserer Kenntnisnahme, und zuweilen kennen wir einen Großteil der Leute, vor denen wir unsere Gedankenkostüme da ausziehen, nicht einmal persönlich. Die Verletzlichkeit ist sehr viel höher, aber weil wir umgekehrt auch diejenigen nicht sehen können, denen wir einschenken, gilt das außerdem für den Grad der Bereitschaft zur aktiven Verletzung. Umso näher liegen dann radikale Maßnahmen, wenn es ans Eingemachte geht.
Daran kann kein Zweifel bestehen. Es reicht mir aber nicht als Grund, um das Internet zum alleinigen Sündenbock all dessen zu machen, was in unserer Kommunikation seit geraumer Zeit entgleist. Das Internet ist für mich zunächst einmal nichts weiter als ein riesiger Werkzeugkasten, aus dem ich mir nehme, was mir brauchbar erscheint, um es auf eine meinen Absichten förderliche Weise zu benutzen.
Die Diskussionskultur war 2000, um mal ein Jahr zu nennen, eine vollkommen andere als jetzt.
Ich weiß nicht, wann das gekippt ist, dieses Verhalten. Gefühlt würde ich sagen, irgendwann ein paar Jahre nach der Jahrtausendwende, mindestens aber vor einem Jahrzehnt.
So etwas kippt nicht in zwei oder drei Jahren. Wenn es sich überhaupt um eine Art Kippen handelt, dann dauert das eher ein Jahrzehnt, und zu Ende ist das noch nicht. Nicht ganz zufällig scheint es sich um den Zeitraum zu handeln, in dem auch der Aufstieg der Sozialen Medien stattfindet.
Ja, wann ist das gekippt? Ganz sicher nicht erst, seit uns das Internet so „wundervolle“ Möglichkeiten bietet, einander zu verletzen, dazu bräuchte es ja nach wie vor noch eine entsprechende Intention. Und ebenso wenig ist es wegen eines einzelnen Großereignisses wie 9/11, der Lehmann-Pleite sowie der darauf folgenden Wirtschaftskrise gekippt.
Ich glaube, es hat auch schon viel früher angefangen, bereits in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, schleichend zuerst und dann nach der Jahrtausendwende immer schneller. Nicht, dass an der Globalisierung alles schlecht wäre, aber die neoliberale Wende mit ihren beiden Galionsfiguren Ronald Reagan und Margaret Thatcher hat eine Entwicklung in Gang gesetzt, die unter dem Getöse von Schlachtrufen wie „Der Markt hat immer recht“, „Der Markt regelt alles“, „Wettbewerb über alles“ und „Gier ist geil“ komplette Industriebranchen verschwinden ließ, ohne dass den dort zuvor Beschäftigten ein ihrer Qualifikation entsprechendes alternatives Arbeitsangebot gemacht worden wäre, stattdessen Hartz IV, prekäre Arbeitsverhältnisse und Minijobs allerorten, für diejenigen, die noch gebraucht werden, eine unmenschliche Arbeitsverdichtung, deren Ende nicht abzusehen ist einschließlich eines allgegenwärtigen Zwangs zur Selbstoptimierung und der Forderung nach mehr Flexibilität und Mobilität, Familien werden auseinandergerissen, bestehende Freundeskreise lösen sich auf, kaum jemand hat noch die Zeit und Energie unter solchen Umständen neue Freundschaften aufzubauen, Vereinzelung und eine ungewollte Selbstisolation folgen, jeder wird zu seinem eigenen winzigen Universum, aus dem heraus andere Menschen nur noch als Konkurrenten und Rivalen wahrgenommen werden, eine zwangsläufige Entsolidarisierung schließlich von denen, die akuter Hilfe bedürfen, und all das findet statt unter dem Dauerbombardement der Medien, die uns mit ihren Livestreams rund um die Uhr an den aktuellen Topmassakern, Tophurrikans, Topseuchen an jedem Ort der Welt teilhaben lassen und uns tagesaktuell die neuesten Vorboten der nahenden Apokalypse präsentieren.
Wie soll ein Mensch unter diesen Bedingungen noch Mensch bleiben können? Wie kann er sich selbst noch spüren, wie die Kraft aufbringen, sich auf andere Menschen mit all ihren Facetten und ihrer Widersprüchlichkeit einzulassen? An diesem Punkt eines insgesamt bereits weit fortgeschrittenen Prozesses der Entmenschlichung kommt das Internet gerade recht. Nur ein Mausklick und sofort vermeint man wieder, so etwas wie Macht auszuüben, glaubt, ein wenig die Kontrolle zurückzugewinnen, zumindest aber eine Art Zeichen zu setzen, wie Tom es ausdrückt. Und ja, es ist eine Kapitulation vor sich selbst, auch und gerade vor der Mühsal, weiterhin Widerstand zu leisten. Denn, und ohne jetzt gleich in Apfelbäumchenrhetorik zu verfallen: Immerhin besteht die Möglichkeit, dass dies noch nicht das Ende des Weges sein muss.
Miteinander reden bedeutet für mich, gegenüber sitzen, miteinander spazieren gehen, wichtig ist, das miteinander sehen können. Sich gemeinsam an den Küchentisch zu setzen, - die besten Feiern sind immer in der Küche- so heißt es ja nicht umsonst, Tässchen Kaffee dazu, das ist etwas anderes , als eine e-mail zu schicken oder einen Artikel zu veröffentlichen.
Ja, Amos, genau das.
Während des gerade vergangenen Wochenendes hat hier in unserer Straße das jährliche Straßenfest stattgefunden. Es war eine bunt zusammengewürfelte Nachbarschaft anwesend, Junge und Alte, einige der Letzteren in Rollstühlen, junge Eltern mit mehr kleinen Kindern als jemals zuvor, Kinderlose, Singles, Alteingesessene und frisch Zugezogene, und während der gesamten Dauer des Festes waren nur angeregtes Reden und Lachen zu hören, und das, obwohl bei weitem nicht nur Kochrezepte ausgetauscht oder Banalitäten abgehandelt wurden.
Seitdem komme ich aus dem Grübeln nicht mehr heraus. Denn ich will mir nichts vormachen. Es sind dieselben Menschen, die zumindest zum Teil vermutlich ein paar Ressentiments haben und die an anderer Stelle auch äußern. Was also war bei unserem Straßenfest anders?
Im Französischen gibt es dieses wunderbare Wort convivialité. Ins Deutsche wird es immer nur mit Geselligkeit und Gemütlichkeit übersetzt und klingt überdies so schrecklich nach Friede, Freude, Eierkuchen. Die Bedeutung im Französischen geht weit darüber hinaus und meint sinngemäß das als freudvoll empfundene Teilen von etwas - die gemeinsam verbrachte Zeit, das gemeinsam genossene Essen - und ich denke, es ist die dadurch entstandene Basis einer Mitmenschlichkeit im ursprünglichen Sinn des Wortes, die es unmöglich macht, wieder hinter diese Linie zurückzufallen, so sehr man über ein bestimmtes Thema auch streiten mag.
Die Kommunikation im Internet bietet diese Möglichkeit nicht. Aber vielleicht hilft ja bereits die Vorstellung, dass wir mit dem Menschen hinter dem Avatarbildchen gestern gemeinsam gefrühstückt haben oder, wahlweise, gestern Abend beim Griechen ein Gyros essen waren.
Amos:
Danke für das Teilen des Gedichts. Es sind solche Dinge, die wieder etwas Hoffnung geben, dass eine Fünfzehnjährige ein solches Problembewusstsein hat und dies in einem beeindruckenden Gedicht in Worte zu fassen vermag.
Das waren wieder viele Worte. Aber das Thema ist mir halt sehr wichtig.
Ich wünsch euch einen schönen Abend,
Jürgen