Ich empfinde die um dieses Thema kreisenden Diskussionen zunehmend als aberwitzig, nicht zuletzt auch wegen ihrer Häufung. Primär geht es dabei immer um die Frage, wer worüber was mit welcher Berechtigung schreiben darf. Aber diese Frage ist nicht einmal einer Antwort wert. Sie ist einfach nur lächerlich.
Anders verhält es sich mit der Frage danach, inwieweit wir überhaupt in der Lage sind, über ein bestimmtes Thema angemessen schreiben zu können. Zum Teil wurde darüber ja auch hier in diesem Thread diskutiert. Wobei wir dann natürlich wieder darüber streiten könnten, was als angemessen gelten kann.
Aber in dem von Tom verlinkten Kommentar ging es ja hauptsächlich um das Dürfen. Eine der für mich wichtigsten Schlussfolgerungen aus diesem Kommentar ist die, dass wir uns zu nützlichen Idioten der Wirtschaftseliten machen, solange wir uns auf das konzentrieren, was Menschen voneinander unterscheidet, anstatt den Fokus auf das Gemeinsame zu richten.
Wenn aus den der Autorin Jeanine Cummins gemachten Vorwürfen allgemein anerkannte Maßregeln abgeleitet werden, sieht es für die meisten Kulturschaffenden in der Tat schon bald zappenduster aus.
Um das anhand eines prominenten Beispiels zu verdeutlichen: Der englische Filmemacher Ken Loach thematisiert in seinen Filmen vorwiegend soziale Missstände. Immer geht es dabei um Menschen, denen elementare Menschenrechte vorenthalten werden und deren Würde mit Füssen getreten wird. Aber er macht diese Themen nie aus prinzipiellen Erwägungen heraus an der Hautfarbe, der Religion, am Geschlecht oder an der sexuellen Orientierung der Betroffenen fest. Häufig sind die Protagonisten seiner Filme Angehörige der weißen englischen, schottischen und irischen Unterschicht, aber in anderen Filmen geht es um polnische und ukrainische Leiharbeiter oder generell um „illegale“ Arbeitsmigranten oder um eine „illegale“ mexikanische Migrantin in Los Angeles oder um eine vor der Gewalt in ihrer Heimat Nicaragua nach Großbritannien geflohene Musikerin. Aber will deshalb jemand allen Ernstes behaupten, Ken Loach hätte als weißer Mann und Bürger einer einstigen Kolonialmacht Filme wie Riff-Raff, It’s a Free World, Just a Kiss, Carla’s Song oder Bread and Roses niemals drehen dürfen?
Ich bilde mir zumindest ein, Migranten in der Regel mit großer Empathie zu begegnen, wohingegen sich mein Empathievermögen für einen pädophilen Priester zunächst einmal in Grenzen hält. Aber gemäß der oben genannten Maßregeln stünde es mir zwar frei, über Letzteren einen Roman zu schreiben, Migrantenschicksale zu thematisieren hingegen nicht? Und das, obwohl ich mich, anders als im Falle der Pädophilengeschichte, bei den Migrantenschicksalen auf Informationen aus erster Hand stützen kann und die aktuellen Lebensumstände etlicher dieser sehr unterschiedlichen und aus sehr unterschiedlichen Herkunftsländern (Nordafrika, Westafrika, Naher Osten, Pakistan, Brasilien) stammenden Menschen aus eigener Anschauung kenne?
Kopfschüttelnde Grüße,
Jürgen