Beiträge von Clemens

    Hallo Taatje,


    herzlich willkommen und auch gleich ein gutes Neus Jahr 2007!


    Zu den Besprechungsgruppen kann ich nur sagen, dass ich mich bis jetzt auch noch nicht getraut habe, teilzunehmen, aber ich werde es 2007 - Silvestervorsatz!!! - wohl mal versuchen ...


    Alexander

    Annette Wieners, Die Beerdigung ihrer Mutter (Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2006; ISBN 3-88769-359-0)


    Die achtzehnjährige Eva erzählt von der Beerdigung Marias, der Mutter ihrer Freundin Charlotte, und Besuchen am frischen Grab. In diesen Handlungsrahmen sind Rückblenden eingeschoben, in denen Eva von ihrer Beziehung zu Charlotte und zu Maria erzählt.
    Obwohl die Ich-Perspektive die konsequente Vermittlung der Subjektivität eines Protagonisten bedeutet, ist der Leser irritiert, denn Eva sieht sich selbst, was die Antriebe für ihre oft rätselhaftes, bizarres und provokantes Verhalten betrifft, gleichsam von außen. Ob sie sich nun kopfüber in das teilweise wieder für sie geöffnete Grab hineinrutschen lässt, ob sie Maria rohes Hackfleisch ins Gesicht schmiert oder mit Charlottes Bruder auf einer Damentoilette aneinandergerät, der Leser ist immer wieder genauso überrascht wie die Personen, die Eva brüskiert.
    Dabei hascht Wieners keineswegs nach Effekten, sondern schildert Evas Versuche, Kontakt zu Maria zu bekommen. Bald wird, aus den Rückblenden heraus, eine erotische Spannung spürbar, die sich in Blicken, Berührungen, Küssen verdichtete, aber kaum thematisiert oder gar vertieft wurde. Evas Hunger nach emotionaler Nähe scheint nicht gestillt zu sein: Einmal beobachtet sie ihre schlafende Mutter, und sie erweist sich in dieser Szene gleichermaßen als dreist wie als hilflos.
    Dass sie zu ihrer Mutter nur ein gebrochenes Verhältnis hat, wird deutlich, als sie ihr eigenes Geborensein symbolisch auslöscht: „Ich zog das schwarze Kleid hoch über meinen Bauch im Angesicht des Spiegels. Ich drückte Make // Up aus der Tube in meinen Nabel. Ich verteilte die Creme, füllte die Delle, ließ das Krause verschwinden und glich den Rand aus. Glatt trug ich meinen Bauch nun, nabellos schön.“ (S. 174 f.)
    Wieners schafft eine dichte Atmosphäre, wozu besonders beiträgt, dass Evas exaltiertes Verhalten von einer unmittelbaren, oft schockierenden Körperlichkeit, von sich immer weiter vortastender Aggression (lat. aggredi: heranschreiten, an-greifen!) geprägt ist. In ihren Provokationen überschreitet sie auch öfter die Ekelschwelle. Besonders Maria, in der sie offensichtlich eine Ersatzmutter sehen will, wird von ihr gequält und beleidigt. Maria erträgt dies aber lange, wohl weil sie ebenfalls in einer Familie lebt, in der die Seelen erstarrt und die Emotionen abgekühlt sind.
    Als Eva behauptet, von Marias Mann schwanger zu sein, kommt es im Bad zu einer Rangelei, Maria rutscht, ohne Evas unmittelbares Verschulden, aus, schlägt mit dem Kopf an die Wanne und ist tot. Erst Tage später erfährt Eva von Charlotte, dass diese alles mitbekommen hat, der Hintergrund dieses Todes, der von allen für einen Unfall gehalten wird, also zumindest der Tochter der Toten nicht entgangen ist.
    Charlotte wird aber niemandem etwas verraten. In einem Gespräch am Grab tritt der Grund dafür zutage.
    „Früher hatte ich immer Angst, unsere Familien könnten auffliegen, schon in der Grundschule. Jemand könnte bei uns zu Hause nachgucken und sagen, ich hätte gar keine echte Familie. Und ob mir das nicht auffalle, dass mich nie einer in den Arm nimmt und dass keiner richtig mit mir redet. Dir ist das nie aufgefallen, Eva!
    Weil es nicht so war.
    So war es sehr wohl, aber du hast es nicht bemerkt. // Denn noch viel weniger als ich wusstest du, was eine Familie ist und was nicht. Vor dir habe ich mich immer sicher gefühlt, Eva.“ (S. 187 f.)
    Nicht nur die psychologische Spannung fesselt, sondern auch der Sprachstil: Er ist schlicht und lakonisch, weist aber auch ungewöhnliche Fügungen auf und die Formen des Konjunktivs I, selbst wenn diese mit dem Indikativ identisch sind. Obwohl parataktischer Satzbau vorherrscht und oft mehrere aufeinander folgende Sätze mit demselben Wort beginnen (der klassische „Wiederholungsfehler“, wie ihn Deutschlehrer anstreichen), kommt keine Langeweile auf. Im Gegenteil. – Weniger zugesagt hat mir persönlich dagegen Annette Wieners Vorliebe für Adverbialien in Schlussstellung und für substantivierte Adjektive und Partizipien.
    Mein Fazit: Ein ungewöhnliche, psychologisch stimmige und stringent gebaute Familiengeschichte, deren Spannung aus den Einblicken in die seelischen Vorgänge und aus der Klärung der Umstände von Marias Tod resultiert, wodurch sich die Erzählerin gleichsam selbst entlarvt. Aber auch der Sprachstil lässt den Leser das Buch mit dem Gefühl, die Lektüre habe "sich gelohnt", aus der Hand legen - und das allein wäre schon viel.

    Hallo Blaustrumpf,


    danke für die Tipps, ich habe die Titel notiert und werde sie mir mal demnächst zulegen. Über Strubel habe ich vor geraumer Zeit eine Besprechung gelesen, ich glaube in Sigrid Löfflerins 'Literaturen' ...


    Zitat

    Original von blaustrumpf
    Vorausgesetzt, Du hast die Schriftstellerinnen "mit"gemeint


    Klar meine ich auch Schriftstellerinnen mit, alte Pauschalisierer wie ich meinen immer alles und jeden ... upps! ... jede(n) mit! ;)


    Schönen Gruß,


    Alexander

    Seit einer Woche keine Antwort auf diese Buchvorstellung? Liest denn niemand mehr Simenon?


    Sein Werk ist für mich, um einmal die leidigen, im deutschen Sprachraum so verbreiteten Kategorien anzuwenden, ein Beispiel für die Möglichkeit, E- und U-Literatur zu verbinden, den Ansprüchen beider gerecht zu werden. Er schreibt einfach ... unprätentiös. So wie bei den Angelsachsen z. B. Dickens.


    Welche deutschen Schriftsteller (20. Jh.) könnte man dieser Kategorie zuordnen? (Echte Frage - kein verkapptes "Es gibt sie ja eh nicht"!)


    Alexander

    Zitat

    Original von Fritz Sylvia
    Bitte dichten! Das Leben verrinnt ungenutzt.
    (der Lyriker als Klemptner)


    Da klemmpt doch was: Müsste es nicht Klempner heißen ...?


    Kann vorkommen.


    Alexander

    Hallo Blaustrumpf,


    hast du deshalb so bemerkenswert wenig Gender-Aktualität in deine Geschichte mit den Froschjungs gelegt, weil du möglicherweise eine Angehörige der gnostischen Fraktion bist (dazu gehören viele religiös oder philosophisch ausgerichtete Schwarzweißdenker)? Warum nämlich gehört kein Mädchen als Übeltäterin zu den Übeltätern? Man liest doch allenthalben, dass das weibliche Geschlecht in puncto Gewalttätigkeit gegenüber dem männlichen ein wenig aufgeholt habe ... solltest du als die Politisch-Korrekte, für die ich dich halte, daraus nicht gleich eine Warnung stricken? Eva lässt sich von Adam zum Frösche-Killen verführen - das wäre doch was. Was für ein Thema. Und Eva findet gar Gefallen daran ...


    Diskriminierte Grüße,


    Alexander

    Stimmt genau, was ihr sagt! Es dreht sich einem manchmal der Magen um, wenn man an das, was man da so zusammengeschrieben hat, wiederlesend herangeht. Begeisterung lösen leider oft nur die Skizzen und Materialsammlungen aus, die man für kommende Werke angelegt hat, ... :frust

    Hallo SabineS,


    herzlich willkommen auf den 42er-Seiten! :strauss


    Das liest sich je sehr interessant: Physik und Philosophie - bei den Vorsokratikern war das im Wesentlichen noch eins!


    Und jetzt die Literatur ... umfassender kann man Welt- (und Selbst-?)erfahrung wohl nicht betreiben.


    Der kürzlich verstorbene Schriftsteller Heinrich Schirmbeck (1915-2005) hat übrigens in seinem Werk diese Kategorien zu verbinden versucht, besonders an den Naturwissenschaften lag ihm viel. Tipp: Schau mal in Erzählungen und den Roman "Ärgert dich dein rechtes Auge ...", ersch. in den 50er Jahren, wo er über Atomphysiker schreibt!


    Was das Exposee betrifft: Schick es mir ruhig, am besten als Anhang an eine PN! Ich werde es gerne lesen und ein bisschen was dazu sagen (wenn es ein paar Tage Zeit hat ...)!


    Ich wünsche dir viel Spaß bei den 42ern!!! :)


    Alexander

    Zitat

    Original von Wolf P
    Welche SchriftstellerInnen können denn eine möglichst breite Palette an Stilen und Genres qualitativ hochwertig abdecken? Auf Anhieb fällt mir nur William Kotzwinkle ein.


    Wie wär's mit Seneca, Goethe, Strindberg, Enzensberger ...


    Ich kenne Kotzwinkle nur dem Namen nach, aber kann er wirklich in Epik, Lyrik, Drama und Sachbuch mit den Genannten mithalten?


    Alexander

    Was ist daran paradox? Beides steht eher in einem Kausalzusammenhang: Leser bewegen sich doch kaum, ergo werden sie dicker und dicker (oder nehmen zumindest nicht ab) ...


    Halt: Eine Ausnahme gibt es! Bestimmte Bücher liest man nur mit einer Hand ;), und da verbraucht man wenigstens ein paar Kalorien ...


    Fette Grüße, Alexander