Ich habe Schwierigkeiten, im geschilderten Sachverhalt ein besondres Problem zu erkennen!
Es ist doch so: Autoren fiktionaler Texte verschlüsseln Aussagen, die die Leser wieder entschlüsseln (müssen, sollen, dürfen, können). Dabei gilt: "Tot capita, tot sententiae" (frei übs.: Soviele Leser, soviele unterschiedliche Interpretationsansätze).
Warum wir als Leser uns dennoch verständigen können, liegt, worauf auch Iris m. A. nach hingewiesen hat, daran, dass es sich niemals um komplett verschiedene Interpretationsansätze handelt, sondern es eine gemeinsame Basis gibt, eine "Schnittmenge" gleichsam (Vorverständnis, Fachwissen, kulturekller Hintergrund u.ä.).
Wichtig ist stets die Offenlegung der Interpretationsgrundsätze. Eine zu
100% "richtige" Interpretation ist dabei niemals erreichbar, da sich die historisch-gesellschaftlich-literaturwissenschaftlichen Parameter unentwegt wandeln, ja selbst die Texte in ihrem Wortlaut sich ändern können (unterschiedliche Ausgaben, z. B. historisch-kritische; sprachgeschichtliche Aspekte: Man lese einmal in etymologischen Lexika die Einträge zu "Kerl", "Magd", "geil", "toll" usw. - Wem solches nicht bewusst ist, der versteht Aussagen u. U. schon auf der Wortebene "falsch").
Interpretationen können sich an Autoraussagen immer nur annähern (nennt man so etwas in der Mathematik nicht einen 'Limes'?).
Und ich denke, dass selbstverständlich auch in einem Text Aussagen entdeckt werden können, die dem Autor vielleicht gar nicht bewusst waren. Mit der Veröffentlichung gibt der Autor seinen Text gleichsam aus der Hand, so dass er, obwohl er sein schöpferisch-geistiges Eigentum bleibt, dennoch interpretatorisches Allgemeingut geworden ist.
Dieses würde ich einem Interpretator ins Stammbuch schreiben: Er soll sich verpflichten zu Redlichkeit im Ansatz, Nachvollziehbarkeit seiner Aussagen, Gründlichkeit im Vorgehen, Offenheit für neue Gesichtspunkte, Anerkenntnis der Vorläufigkeit seiner Aussagen.
Alexander