Beiträge von Tom

    Da die USA eine Demokratie sind, wird sich letztlich die Mehrheit durchsetzen. Ist diese der Auffassung, jene Bücher gehörten weg, dann ist es gut; setzt sich die gegenteilige Ansicht durch, ist es ebenfalls gut.

    Nein. Ganz entschieden: Nein. Das ist in Diktaturen so, dass eine Administration entscheidet, welche Bücher "gut" sind und welche nicht, aber nicht in zivilisierten Kulturen, die sich "Demokratie" nennen, und deren Kultur und Erziehung keine Spielbälle von wechselnden Mehrheiten sind. Mit Verlaub, aber das ist, noch nett gesagt, alles andere als eine demokratische Sicht auf die Dinge, was Du da vorträgst.


    Denn wer aufbegehrt, gar auf die Straße geht und die Regierung kritisiert, ist hier ganz schnell ein Nazi...)

    Ein Nazi ist ein Nazi. Das ist kein Etikett, das man für irgendwas angehängt bekommt, das man selbst als harmlos sieht und als willkürlichen Auslöser für diese Etikettierung. Wer eine Rassendiktatur etablieren will, wer Menschen nach Herkunft, Weltsicht, Geschlecht oder sexueller Orientierung kategorisiert, wer tumbe, einfache Antworten auf komplexe Fragen propagiert, wer Gewalt gegen Minderheiten anzuwenden bereit ist, der muss sich zu recht so etikettieren lassen, aber nicht irgendwer, der einfach nur das Recht in Anspruch nimmt, für irgendeine oppositionelle Auffassung auf die Straße zu gehen. Du verdrehst die Realität. Diese Opferhaltung ist sehr typisch. Alle sind gegen die, die es doch eigentlich total gut meinen, und die immer nur von der linksgrünen Kaste diskreditiert werden, oder von denen, die vom lügenden Staatsfernsehen aufgehetzt und von all den SPD-Bürgermeister*_:_*innen für ihre Proteste bezahlt wurden, und sie meinen auch dann noch gut, wenn sie im Halbgeheimen längst die Massendeportationen planen.

    Anders, Katze.


    Ich weiß, dass es Leute gibt, die der Meinung sind, die Ehe wäre heilig und Sex vor der Ehe wäre ein Affront gegen einen Gott. Ich weiß, dass es Leute gibt, die Abweichungen von der Heterosexualität für gefährlich, krankhaft und ebenfalls für einen Affront gegen einen Gott halten. Ich weiß, dass es Leute gibt, die Menschen unterschiedlicher Herkünfte, Ansichten, Geschlechter usw. für unterschiedlich wertig halten, die ihre eigenen Überzeugungen für über allen anderen Überzeugungen stehend halten, für göttlich, mindestens gottgegeben. Es missfällt mir, dass es Leute gibt, die so denken, aber es darf diese Leute geben. In gewisser Weise muss es sie sogar geben. Sie dürfen ihre Meinung haben und aussprechen und dafür werben. Sie missfällt mir, diese Meinung, aber wenn ich in einer pluralistischen Welt leben möchte, dann gehört auch das dazu. Ich werde jederzeit energisch dagegenhalten, was diese Leute glauben, denken und ihren Kindern beizubringen versuchen, aber ich werde fast ebenso energisch dafür eintreten, dass auch solche Überzeugungen auszuhalten sind, wenn man sich denn "Demokrat" schimpft, sich als "tolerant" bezeichnen lassen will. Das gilt fast ausnahmslos für alle Überzeugungen, außer für Extremisten, insbesondere Nazis.


    Aber. Wenn diese Leute verlangen, dass ihre Kinder und andere Kinder und Menschen auch außerhalb ihrer direkten Einflusssphäre nur diese Meinung zu hören kriegen, wenn diese Leute verlangen, dass alle anderen Meinungen und Überzeugungen auch im öffentlichen Raum von ihren Kindern ferngehalten werden, wenn ein Gemeingut wie Kultur in all seinen Erscheinungsformen um Aspekte bereinigt werden soll, die diesen Meinungen zuwiderlaufen, dann ist das falsch. Dann ist das nämlich der Versuch, diese Überzeugung als allein seligmachende zu adeln, dann handelt es sich um ein Diktat, um Indoktrination, um Manipulation. Es ist das Gegenteil von Pluralismus.


    Ich bin gegen diese "Werte" und "Maßstäbe", aber ich bin nicht dafür, sie etwa zu verbieten. Ich bin aber strikt gegen das, was da u.a. in Florida passiert. Dort geht es nicht nur darum, diese "Werte" und "Maßstäbe" zu leben, sondern es geht darum, sie allen anderen aufzuzwingen, mindestens aber alle anderen von allen Alternativen fernzuhalten. Diese Leute meinen, es würde ihre Kinder schädigen, wenn sie vor der dritten Schulklasse davon erfahren, dass es von der Norm abweichende Lebensweisen, Auffassungen und sexuelle Orientierungen gibt. Das ist eine zwar sehr schwer begreifliche, aber zu duldende Meinung. Was nicht hinzunehmen ist, das ist der Versuch, diese Auffassung allen anderen auch aufzuzwingen. Denn man verweigert das, was man für sich selbst in Anspruch nimmt, sämtlichen Alternativen dazu: Das einzig richtige zu glauben. Wenn ich dagegen eintrete, spreche ich nicht gegen diese "Werte" und "Maßstäbe", die in der Region, um die es geht, auch keineswegs Konsens sind. Sondern dagegen, wie mit allen anderen Auffassungen und der Gesellschaft insgesamt umgegangen werden soll. Florida ist auf dem Weg in einen fundamentalistischen Gottesstaat. Und das ist scheiße.

    Vielleicht sollte man anderen Völkern zugestehen, ihr Leben nach eigenen Werten und Maßstäben zu ordnen.

    Ich weiß nicht. Wenn dieses "Zugestehen" damit einhergeht, dass große Gruppen diskriminiert oder indoktriniert werden, dass Vorurteile multipliziert werden und vorvorgestrige, widerlegte Ansichten über zivilisatorischem Allgemeingut stehen, dann kann es nicht richtig sein, finde ich. Das Argument schwächelt ohnehin regelmäßig, selbst, wenn es (wie hier nicht) um echte Kulturgeschichte, Tradition und ethnische Besonderheiten geht. DeSantis ist einfach ein reaktionärer Mistfink, der in einigen Ansichten sogar Trump in den Schatten stellt. Und die "Proud Boys", die ihn unterstützen, gelten auch in den U.S. of A. als rechtsextrem. In Kanada sogar als Terrororganisation.

    Davon abgesehen sind die Staaten in vielerlei Hinsichten aktive Partner unserer Republik. Partner müssen einander kritisieren dürfen.

    Aber Du argumentierst ja nicht wirklich so, weil Du Respekt vor "eigenen Werten und Maßstäben" hast, oder, Katze? ;)

    Oh, sie werden in der Hinsicht als jugendgefährdend aufgefasst, dass darin u.a. von Sex und zuweilen von nichtheterosexuellem Sex erzählt wird, wobei es keineswegs um expliziten, pornografischen und hierzulande als jugendgefährdend aufzufassende Schilderungen geht (hierzulande wird extrem selten ein Buch auf den Index gesetzt, und aus solchen Gründen praktisch nie), sondern schlicht darum, dass die evangelikal-reaktionär-proudboysbeklatschten Fundamentalchristen und ihr Oberheinzi DeSantis glauben, das könne die Kids dazu bringen, darüber nachzudenken, vielleicht schwul zu werden und/oder vor der Ehe zu poppen. Dabei geht es auch nicht um Urteilsanmaßung, sondern um schlichte Fakten, die von den Protagonisten des Geschehens auch so formuliert werden. Das geht einher mit den "Don't say gay"-Richtlinien, die von derselben Regierung stammen.

    Im Alter auch nicht besser


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    Im Jahr 2030 – so lautete auch der Originaltitel des Romans, also „2030“ – hat der Klimawandel voll zugeschlagen. Die Sommer sind trocken und unfassbar heiß, und wenn es regnet, dann monsunartig, weshalb die Böden kaum noch dazu in der Lage sind, die gewaltigen Wassermassen aufzunehmen. Autos mit Verbrennungsmotor und überhaupt Privatfahrzeuge sind zur absoluten Ausnahme geworden. Dafür gibt es autonom fahrende und fliegende öffentliche Verkehrsmittel, und für zu Hause VR mit so perfekter Immersion, dass man die Realität tatsächlich manchmal vergisst. Ansonsten aber läuft das Leben wie vorher, also im Jahr 2018, als dieser Roman erschien, und als, wie sie im Roman genannt wird, „das Mädchen mit den Zöpfen“ die Bewegung „Fridays for Future“ initiierte. Die Bewegung gibt es in Djians Zukunftsentwurf immer noch, aber das Mädchen ist natürlich älter geworden und hat soeben ein anklagendes Sachbuch veröffentlicht, und in der Buchhandlung von Véra findet eine stark besuchte Lesung statt. Véra verkauft weiterhin Papierbücher und gehört der Bewegung ebenfalls an. Eine andere Jüngerin ist die Nichte von Greg, und Greg ist die Hauptfigur dieses Romans. Der steht, wenn man so will, auf der gegenüberliegenden Seite. Er fährt einen fossilbetriebenen Porsche und betreibt mit seinem Schwager ein Labor, das Gutachten für die Industrie anfertigt. Einer der Klienten dieses Labors ist ein Pharmaunternehmen, das ein umstrittenes Pestizid herstellt, für das Gregs Labor immer wieder positive Bescheide ausstellt, die aber überwiegend falsch sind. Man ist dem Labor auf der Schliche, und während Gregs Schwager Anton mit der Situation skrupellos umgeht, drängt Gregs Gewissen immer stärker darauf, sich zu positionieren. Denn er ist eigentlich ein Guter, was immer deutlicher wird, vor allem, als er Véra kennenlernt und sich in sie verliebt.


    Ich bin mit Djian eigentlich längst durch. Seit „Rückgrat“ (1988) hat mich keiner seiner Romane mehr wirklich überzeugt, und spätestens nach dem extrem ärgerlichen „Reibereien“ (2007) wollte nie wieder einen anfassen, geschweige denn lesen, habe aber für „Oh ...“ (2012) eine Ausnahme gemacht, nur, um festzustellen, dass es nicht besser geworden ist, sondern eher grausiger. Das betrifft nicht nur die Figuren und Plots und die wiederkehrenden, sehr maskulin konnotierten Erotikfantasien, sondern mehr und mehr Djians Sprache und Erzählweise, die immer flacher und wirrer zu werden scheinen, was durch seine bevorzugte Un-Struktur – Dialoge werden nicht hervorgehoben, es gibt kaum Absätze und keine Kapitel, die Perspektive wechselt sprungartig von einer Figur zur anderen – auch noch verstärkt wird. Und trotzdem hat mich das Urteil einer befreundeten Person nach diesem Roman greifen lassen, in der Hoffnung, dass Djian vielleicht im Alter – er wird in diesem Jahr 75 – seine spezielle Form, seine Wildheit und seine Themen wieder auf das Niveau der Achtziger und frühen Neunziger bringt. Oder in die Gegenwart transformiert.

    Macht er aber leider nicht.


    Immerhin lässt sich „Ein heißes Jahr“ schnell lesen, denn es ist (wie die meisten seiner neueren Werke) kurz (220 Seiten) und großzügig gesetzt, weshalb auch das Erraten der Dialoganteile und der dazugehörigen Sprecher kaum nennenswert Zeit kosten. Es ist aber außerdem und in der Hauptsache lapidar, und es ist von einer erschütternden Naivität und Unkenntnis beherrscht; „Ein heißes Jahr“ ist ein Reissbrettroman ohne Fundament. Das Handeln der Hauptfiguren folgt bloßer Willkür, ist oft überhaupt nicht nachvollziehbar oder wenigstens schwach begründet, jedenfalls sind die Twists unsauber vorbereitet und wenig glaubhaft. Eigenartigerweise unterhält die Geschichte trotzdem während der ersten zwei Drittel einigermaßen, aber in Richtung Ende setzt das komplett aus.


    Was in „Ein heißes Jahr“ gelingt, das ist die Atmo. Djian bringt das Extremwetter und die Reaktion seiner Figuren auf dieses Wetter gut rüber, lässt einen die Hitze nachgerade spüren. Mehr Gutes fällt mir zum Buch allerdings nicht ein. Die Geschichte ist schlecht angelegt und schlecht erzählt, und das Personal muss sich grober erzählerischer Willkür unterwerfen. Das letzte Drittel des Romans ist reine Quälerei, und das saublöde Ende ist schlicht aus der Hölle.


    ASIN/ISBN: 325707249X

    Florada? 8)


    Man könnte erklären, das wäre ein absurder Alleingang von Ron DeSantis, aber tatsächlich heißen viele Amerikaner und -innen nicht nur im Südosten der U.S. of A. diese Politik willkommen. Sie stößt nicht nur bei Evangelikalen auf mehr als helle Begeisterung. Letztlich ist es auch eine MAGA-Variante.


    Origineller Infobrief des Vereins übrigens.

    Sind doch auch nur Notizbücher. Für niemanden gedacht als für einen selbst (und welcher Mensch ist bitte kein Arschloch, wenn niemand zuschaut?), und nun vor allem aus literatur- und kulturgeschichtlichen Gründen diesem Verfahren unterzogen. Und möglicherweise geht es auch ein wenig um Entzauberung, oder um "Erdung", ein Begriff, der letztlich mit religiöser Metaphorik spielt und deshalb hier umso unpassender ist. So oder so, da sind sie, die Notizbücher eines der drei österreichischen Literatur-Nobelpreis-Träger. Sehen und denken und notieren also auch viel Allgemeines, Banales, Uninspiriertes, meinetwegen Granteliges, diese Superstars, diese Götter der Zunft, was das Werk, das dann doch entstehen durfte, umso erhabener erscheinen lässt. Toll, dass derlei auch noch zu Lebzeiten des Urhebers geschieht.

    Und ob diese Leute, die sich die Digitalisierungsmühe gemacht haben, bei Wind und Regen zu gebrauchen wären, müsste noch geklärt werden.


    Ich finde die Lektüre jedenfalls spannend, oft erheiternd, manchmal, ja, auch etwas deprimierend, aber Literatur soll(te) es nicht sein. Noch nicht.

    Die technische Umsetzung der Digitalfassung ist nicht ganz zeitgemäß, aber man kommt damit zurecht. Danke für den Hinweis!

    Zitat

    Wenn die Kärntner hochdeutsch reden, sagen sie immer: "rückwärts" für hinten

    Da musste ich lachen. Ich war vor Jahrzehnten für ein paar Jahre mit einer Kärntnerin liiert.

    Wenn ich im Quelltext nach dem Link z.B. zu Deinem Buch in Deiner Signatur suche, HD, bekomme ich auch das hier:


    Code
    1. An HTTP error occurred while getting: <p><strong>http://images-eu.amazon.com/images/P/3948371962.03.MZZZZZZZ.jpg</strong>

    Da muss ein Admin im Code etwas ändern (mindestens auf "https", aber vermutlich isses nicht nur das).

    Am Rande - ich sehe schon seit einer Weile zu verlinkten Büchern keine Cover mehr, und zwar ganz unabhängig davon, ob ich angemeldet oder nicht angemeldet bin oder welchen Browser (Safari, Firefox, Edge) ich benutze. Es müsste also allen so gehen, oder? Bei den Büchereulen funktioniert das gleiche System (gleiches Plugin, gleiche Boardsoftware) aber.

    Das hier gibt es leider nur gebraucht bzw. antiquarisch, was ich sehr schade finde. Ralf Bönt habe ich über den PEN Berlin kennengelernt und bislang ein-, zweimal getroffen. Der promovierte Physiker und ambitionierte Hobbyphilosoph hat irgendwann die Wissenschaft für die Literatur aufgegeben, vor fünfzehn Jahren war er Preisträger in Klagenfurt. Da hatte er diesen Roman quasi schon im Gepäck, der 2009 erschien. Er erzählt die Lebensgeschichte von Michael Faraday, auf den u.a. der Faradaysche Käfig zurückgeht, der aber vor allem die Grundlagen für die Elektromechanik gelegt hat. Bönts feinsinnig, klug und wissensreich erzählte Romanbiografie zeichnet nicht nur Faradays Leben nach, sondern auch ein Bild der Wissenschaftlercliquen jener Zeit, zu denen von Humbolt, Ampere, Volta und viele, viele andere heute noch bekannte Namen zählten. Im Kern geht es aber vor allem um den Impuls, der viele Forscher antreibt, um die Lust am Rätselhaften und den Wegen zur Lösung. Und, natürlich, um eine Epoche, in der es noch jede Menge zu entdecken gab und entdeckt wurde, in der die Religionen viele Erstschläge abbekamen. Viel klüger und detallierter und nachvollziehbarer als Kehlmanns "Die Vermessung der Welt", aber leider nicht so spannend, weshalb Bönt nun auch nur noch antiquarisch zu kriegen ist. Ich meine, du bist mit Ralf auch per Facebook verbandelt, Michael.


    ASIN/ISBN: 3832195173

    Am Ende (wird’s ein bisschen langweilig)


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    Ich gehöre ja eher der Hustvedt-Fraktion an, wenn es um das Ehepaar Auster-Hustvedt geht (und man im Gespräch zu einer Entscheidung genötigt wird, was, zugegeben, nicht eben oft passiert), aber ich schätze Paul Auster als großen, originellen, klugen Erzähler, als Konstrukteur verschachtelter, zuweilen wie rekursiv erscheinender Satzbauten, die trotzdem schlüssig enden, ich schätze ihn als Chronisten und als Autobiografen. Mein Lieblingstext von ihm ist „Im Land der letzten Dinge“.


    „Baumgartner“ nun ist quasi der Gegenentwurf zu Austers letztem Roman, der als Opus Magnum gefeiert wurde (und bei mir eher durchfiel), also zu „4 3 2 1“ (2017), dieser mehrfach erzählten Geschichte um das Einwandererkind Archie Fergusson, dessen Leben ab einer bestimmten Stelle in vier unterschiedlichen Varianten fortgesponnen wird. In „Baumgartner“ gibt es längst nicht mehr so viele Optionen, denn der Roman erzählt vom Ende, zumindest vom beginnenden Ende. Seine Hauptfigur, Seymour Baumgartner, ist Anfang siebzig. Vor knapp zehn Jahren ist seine Frau Anna gestorben, womit nicht nur ein Mensch, sondern ein Teil von Baumgartner gegangen ist, also ein Verlust entstand, der eine große, bleibende Lücke und langen, langen Schmerz hinterlassen hat. Jetzt, fast zehn Jahre nach ihrem Tod, trennt sich Baumgartner vom letzten Stück aus der gemeinsamen Anfangszeit, von einem alten, verbeulten Aluminiumkochtopf, den er (vermeintlich versehentlich, aber – wer weiß?) auf dem Herd verbrennen lässt. Dieses Ereignis hat ein paar Folgen, und unter anderem löst es aus, dass sich Baumgartner wieder stärker seinem eigenen Leben zuwendet.


    In Rückblenden wird dann von dem Beginn dieses Lebens, vom Erwachsenwerden, von der Selbstfindung und von jenem singularen Zusammentreffen erzählt, das Sy Baumgartner und Anna Blume zum Paar machte, den Phänomenologen, der in Princeton doziert, und die Lektorin und Dichterin, der der Erfolg anderer immer wichtiger war als der eigene. Und die sich durchzusetzen wusste, zuletzt auch gegen Baumgartners Empfehlung, nicht noch einmal ins Meer zu gehen, weil die abendliche Brandung schon zu stark wäre. Wir lesen aber nicht nur über Anna, sondern auch von ihr, weil der wohltuend kurze Roman einige Textproben enthält, auch von Baumgartner selbst.


    Dieses Buch ist im besten Sinne ein Eintopf, der aus autobiografischen Elementen und einiger Fiktion gekocht wurde (wofür derzeit der Begriff „Autofiktion“ trendet), und es ist überwiegend durchaus einem Vergnügen ähnlich, es zu lesen. Andererseits gibt es nicht viel mehr als diese Erzählung vom älter werdenden Mann, der zunehmend mit Vergesslichkeit zu kämpfen hat, der zunehmend in der Vergangenheit zu leben scheint und in ihr nach den Wurzeln der eigenen Zukunft sucht, der aber auch noch eine Menge Energie und einiges zu sagen hat, der nicht nur rückwärtsgewandt agiert, und sich mit dem fraglos drohenden Ende konfrontiert sieht. Leider ist nicht immer schlüssig, warum Auster was erzählt, und der episodische Aufbau der Geschichte, die sich oft wie ein Nachruf liest, enthält viele Abschnitte, die „Seht her!“ zu rufen scheinen, die politische Statements, Verweise auf die eigene Kunstfertigkeit und Originalität, den erfolgreichen Weg aus der schwierigen Herkunft und die reiche kulturelle Bildung enthalten, und die dabei hin und wieder milde arrogant wirken. Am Ende verliert sich die Geschichte, holt immer häufiger ihre Motivation aus dem Nichts, und sie wird dabei leider langweiliger – auf gute Art zwar, wenn das geht, doch das ändert wenig daran, dass gegen Schluss eine gewisse Hohlheit und Beliebigkeit einsetzen.


    Hustvedts „Damals“ liegt noch im Regal und ist jetzt bald dran. Ich bin jetzt schon sicher, dass das ein guter Ausgleich sein wird.


    ASIN/ISBN: 3498003933

    Wie ein sehr langer Spaziergang bei herrlichem Wetter, aber durch eine trostlose Landschaft und in Begleitung von Nervensägen


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    Als ich vor über zwanzig Jahren das Manuskript meines Debütromans aus der ersten Lektoratsbearbeitung bekam, waren darin ziemlich viele Stellen gerötet. Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, stellte ich fest, dass der Lektor vor allem die vielen kursiv geschriebenen Wörter bemängelt hatte, teilweise gab es davon mehrere pro Satz. „Warum machst du das?“, hatte er an einer Stelle an den Rand geschrieben. Nunwohl, diese Marotte, das Kursive so intensiv einzusetzen, hatte ich mir von John Irving abgeschaut, von dem ich zu jener Zeit ein großer Fan war. Ich bewundere ihn nach wie vor, aber als begeisterten Leser hat er mich irgendwo zwischen „Zirkuskind“ und „Die vierte Hand“ verloren, und mit „Bis ich Dich finde“ hatte er mich sogar verärgert. Dann griff ich ein paar Jahre später und ein bisschen gelangweilt nach „Letzte Nacht in Twisted River“, das mich ziemlich begeistert hat. Okay, „In einer Person“ war wieder schwerer auszuhalten, aber immer noch okay, vor allem thematisch. „Straße der Wunder“ hatte allerdings Killerqualitäten, quälte und mäanderte, und eigentlich wollte ich deshalb einen Riesenbogen um „Der letzte Sessellift“ machen. Irving hat sich selbst kräftig auserzählt, er hat seine Motive und Figurenkonstellationen und Themen inzwischen so oft wiederholt, dass man statt eines Hirns eine Mülltüte im Schädel tragen müsste, um nicht zu verstehen, worauf er hinauswill, was ihm wichtig ist, wozu er mahnt, wovon er spricht. Aber all das (Neu-England, AIDS, das Ringen, Lehrerjobs, skurrile Großfamilien, ein breiter Strauß von sexuellen Orientierungen, Menschen mit eigener Sprache und/oder Sprachbarrieren, Mikrosomie, Schriftstellerei usw.) nun noch einmal auf über tausend Seiten breitzutreten, ohne dass ein marginal neuer Aspekt hinzukäme, gar eine nennenswerte Handlung, etwas wie ein Spannungsbogen – das war in gewisser Weise nicht nötig. Zumal die homöopathische Dramaturgie mit einer massiven Überdosis von irvingscher Maniriertheit kombiniert wird.


    Irving erzählt die Geschichte von Adam Brewster, der sehr klein ist, aber auch recht attraktiv, und er ist quasi der einzige Hetero weit und breit, jedenfalls aus Sicht des restlichen relevanten Romanpersonals. Seine Mutter, die Skilehrerin, ist homosexuell, heiratet aber dennoch einen ebenfalls kleinen und sehr hübschen Lehrer, der nicht Adams Vater und transsexuell ist, was die Mutter (deren Vorname „Rachel“ lautet, was aber höchstens zwei-, dreimal im Roman vorkommt) nicht davon abhält, mit einer burschikosen Bergretterin zusammenzuziehen. Dazu kommt die ebenfalls lesbische Cousine Nora, mit der Adam ein herzliches und vertrautes Verhältnis hat, die mit einer Frau namens Emily lebt, die sich Em nennt, eigentlich aber überhaupt nicht spricht. Sie wird später, genau wie Adam, Schriftsteller. Und irgendwie geht’s auch ein bisschen ums Skifahren, aber eigentlich nicht wirklich. Möglicherweise ist das Skifahren eine Metapher, aber in „Der letzte Sessellift“ gibt es ganze Lagerhallen voll davon, da kommt es auf die eine nicht an.


    Der Roman umspannt mehr als sechs Jahrzehnte, springt von Episode zu Episode, oft übergangslos, fährt eine große Menge von Figuren auf, von denen die meisten, wie immer bei Irving, über irgendwelche Eigenschaften benannt werden („der Schneeläufer“, „die Raupenfahrerin“), obwohl von diesen Eigenschaften nur selten direkt erzählt wird. Teilweise sprechen sich die Figuren gegenseitig so an. Und es geschieht einfach überhaupt nichts, dafür wird alles unaufhörlich wiederholt. Die Episoden mit echter, fortschreitender Handlung ergeben insgesamt vielleicht fünfzig Buchseiten, und auf den restlichen fast tausend wird die Exzentrik á la Irving ausgebreitet. Ja, es geht dabei um wichtige Themen, vor allem um Toleranz, um Diversität, um Respekt vor Menschen, die sich nicht in die patriarchalisch-heteronormative Welt einfügen wollen. Das ist ganz prima und wichtig und voll super, aber so, wie der Altmeister das hier in seinem angeblich letzten Langtext macht, nervt es nur. „Der letzte Sessellift“ ist zum Heulen langweilig, sprachlich völlig überdreht, und wenn ich das Buch abends gegriffen habe, um dort weiterzulesen, wo ich am vorigen Abend aufgehört hatte, hatte ich entweder das Gefühl, den vor mir liegenden Text schon zu kennen oder ein paar Dutzend Seiten ausgelassen zu haben – oder beides zugleich.


    Ich bewundere John Irving immer noch. Er ist ein engagierter und wichtiger Künstler, er gibt vielem eine Stimme, das sonst ungehört bliebe, er trägt das Unkonventionelle über eigentlich recht konventionelles Erzählen in die Furnierwandschrankwohnzimmer. Oder er hat das getan, mit seinen ganz, ganz großen Romanen wie „Owen Meany“ oder „Gottes Werk“ und nicht wenigen anderen. Er ist ein großartiger Erzähler, ein Chronist und ein Geschichtenmann, aber die Entscheidung, sich nun nicht mehr in Ziegelsteinromanlänge zu Wort melden zu wollen, ist die richtige, denn er hat einfach nichts mehr zu erzählen, und das, was er zu erzählen hatte, ist von ihm selbst oft genug wiederholt worden. Das galt allerdings schon vor „Der letzte Sessellift“, dessen Lektüre ich wirklich niemandem ernsthaft empfehlen kann.

    ASIN/ISBN: 3257072228

    Auch dank der Unterstützung durch viele 42er (Kristin, Claudia, magico, Ingrid, Joan (die aber längst Büchereule war) ) ist der diesjährige Büchereulen-Kurzgeschichten-Adventskalender wieder ganz großartig geworden. Die Geschichten der genannten sind hinter bereits geöffneten Türchen; ich folge traditionell am 23. Dezember und unser guter alter Ex-42er Didi ist am 21. dran. Der Kalender ist auch für Nicht-Mitglieder geöffnet:

    (Edit: Christian ist auch dabei; er heißt im Eulenforum "Velion".)


    https://www.buechereule.de/wbb…len-adventskalender-2023/

    Die Kipppunkte und ihre Zusammenhänge und ihr Zusammenhänge sind natürlich auch nur abgeleitete Prognosen. Zwar äußerst komplexe und ziemlich wahrscheinliche, aber trotzdem sind diese Kipppunkte nicht faktisch. Das werden sie erst nach ihrem Eintreten.

    Wie viele Genre´s kann/sollte/muss man abdecken wenn man zumindest einen kleinen erfolg ergattern möchte?

    (Es gibt keinen Pluralapostroph, weder im Deutschen, noch im Englischen.)


    Das hier antwortet ChatGPT auf die Frage, welche Genres bei den Käufern von Self-Publishing-Büchern die beliebtesten sind. Ich glaube, das stimmt sogar.