Autofiktion - Lesart oder Textmerkmal oder beides? Oder doch nur literaturwissenschaftlicher Populismus? Und warum tut man das eigentlich?

  • In letzter Zeit begegnet mir häufiger dieser Begriff, gerade gestern wieder: Autofiktion. Das unterscheidet sich (per Definition) vom autobiografischen Erzählen, das ja nicht wenige Autoren und -innen praktizieren, dadurch, dass die (erzählende) Hauptfigur eines Romans mit der Autorenfigur identisch zu sein scheint, durchaus z.B. auch erkennbar daran, dass sie genauso heißt, was aber kein Muss ist, während zugleich (große) Teile der Erzählung erkennbar oder mutmaßlich fiktional sind, also erfunden, hinzugedichtet, ausgedacht. Für die Leser und -innen ist oft nicht zu unterscheiden, was wahr ist/war oder nicht, und man befindet sich beim Lesen in einer Art Zwickmühle. Es ist in diesem Zusammenhang oft auch vom "Drehtüreffekt" die Rede - die beiden Aspekte behindern sich gegenseitig, man steckt beim Lesen in der Drehtür fest; es gibt keine Richtung, in die man sich bewegen könnte. Es gelingt u.U. nicht so recht, sich auf die Lektüre einzulassen, weil man die reale Autorenperson vor sich sieht, weil man alles auf diese Figur bezieht, auch das erkennbar Unechte. "The Shards" von Bret Easton Ellis (eigentlich aber sein gesamtes Oeuvre) ist ein aktuelles Beispiel für diesen Ansatz. Karl Ove Knausgård (von dem ich leider noch nichts gelesen habe, passiert aber bald) ist nach allem, was man hört, auch so einer. Oder, nicht zu vergessen, unser aller Liebling aus der Schweiz, der gute Christian Kracht. Ein bisschen irritiert hat mich, und deshalb dieser Thread, als ich gestern irgendwo las, Thomas Melles "Die Welt im Rücken" wäre ein autofiktionaler Text. Ist er nicht. Das ist ein autobiografischer Text, und er fiktionalisiert nur dort, wo die Erinnerung brach oder reale Personen geschützt werden mussten. Wer das Buch liest und darüber spricht, sollte sich darüber im Klaren sein, dass all das wirklich passiert ist, dass es sich um Melles Leben handelt, wovon hier - extrem kunstfertig - erzählt wird. Es gibt keine Drehtür, sondern nur Melle, diesen Text und die Lektüre. Ganz anders bei "The Shards". Ellis hat nur die Figur nach sich selbst benannt und sehr viele autobiografische Elemente eingebaut (im Kern den Umgang mit seiner eigenen Homosexualität während seiner privilegierten Jugend in den Achtzigern in LA - und den Beginn seiner eigenen Karriere), aber der ganze Serienmörderquatsch, um den es da hauptsächlich geht, bei dem besteht nicht der geringste Zweifel an der Fiktionalität. Für mich bedeutet das automatisch, dass ich den gesamten Text wie einen fiktionalen Text betrachten kann, und eigentlich interessiert mich sowieso nicht, was davon stimmt und was nicht. Das interessiert mich eigentlich nie, und ich gehe ohnehin davon aus, dass die meisten Romane mindestens einen autobiografischen Bodensatz besitzen, womit nicht die Fakten gemeint sein müssen.


    Aber ich höre diesen Begriff derzeit ständig. Autofiktion. Eigentlich meint er nur etwas sehr bestimmtes, nämlich ungefähr das, was Ellis da treibt, wahrscheinlich auch Kracht, aber er meint nicht jedes Werk, das irgendwie (erkennbar) autobiografische Elemente enthält. Dafür wird er aber zunehmend verwendet. Oder nicht? Empfindet Ihr das auch so? Habt Ihr das bemerkt? Oder leide ich unter literaturwissenschaftlichem Verfolgungswahn? Und ist das überhaupt wichtig? ?!?

  • Das erinnert mich daran, was der Titanic-Autor Stefan Gärtner (der Schriftgelehrte dort, der die politischen Texte dort schreibt) mal schrieb: "Bühne ist Bühne" o.s.ä. Meint: Sobald jemand auf der Bühne steht, spielt es keine Rolle, inwieweit die Bühnen-Figur mit der Person dahinter übereinstimmt; es zählt nur die Qualität des Werkes. Als Beispiel führte er Heinz Becker / Gerd Dudenhöffer an. Vielleicht ist das in Analogie mit Büchern zu sehen, das Werk auch dort vom Autor zu trennen und als allein als solches zu beurteilen. Das fällt zugegebenermaßen manchmal schwer, siehe zum Beispiel Benjamin vSB, wo unangenehm deutlich ist, wie aus dem Leben das Werk wurde.

  • Aber BvSB läuft überall rum und erklärt, das wäre ein fiktionaler Text, und Ähnlichkeiten mit realen Geschehnissen wären totaler Zufall. Bei Autofiktion geht es um das Gegenteil. Andererseits ... stimmt schon. <kopfkratz> BvSB hat nach meinem Eindruck die inflationäre Verwendung des Begriffs noch einmal verstärkt.

  • Mmh. Ich finde den Ansatz ja interessant, aber genau genommen eignet sich das, was da jetzt so inflationär "Autofiktion" genannt wird, nur für Leute, die auf eine gewisse Weise (besonders) prominent sind, oder? Ich meine, wen zur Hölle schert es, ob ich einen Roman um mich selbst stricke oder um eine (wie üblich an mich selbst angelehnte, nur scheinbar) fiktive Hauptfigur? 8) Anders gesagt: Es ist ein exklusives Vergnügen für die Stuckard-Barres und Ellises dieser Welt, oder?

  • Autofiktion - ist das eine Art aufgehübschte Autobiografie? Alles, was ich im Leben real nicht erreicht habe, hole ich in der Fiktion nach? In meinem ganz persönlichen Literaturkanon gibt es Bücher, bei denen ich weiß, und nicht bloß ahne, dass der Autor Bausteine aus seinem realen Leben verwendet hat. Das ist absolut nichts neues und für mich auch nichts besonders. Das jetzt unter dem Begriff Autofiktion (sich selbst im Erdachten beschreibend) zu vermarkten, scheint eher die Marketingidee von extrovertierten Selbstdarstellern zu sein.

  • Es ist natürlich auch ein interessantes Spiel mit der Lesererwartung, wenn ich in (m)einem Text selbst als Figur und mit meiner echten Vita auftrete, das aber mit fiktionalen Elementen mische, ohne dass für Leute, die jeweils nicht dabei waren, der Unterschied kenntlich ist. Und der "Drehtüreffekt" tritt tatsächlich ein. Bret Easton Ellis hat das ja schon immer gemacht, aber in "The Shards" hat er die Grenze weiter nach oben verschoben, und man fragt sich zwar nicht, ob der Serienmörderscheiß wirklich passiert ist (ist er nicht, das war eine Vorwegnahme), aber in Szenen wie derjenigen, in der die Hauptfigur von einem bekannten Filmproduzenten quasi vergewaltigt wird, sind vermutlich nur Details falsch. Also liest man etwas, das auf mehreren Ebenen schockiert, und von dem man sich zugleich löst, wenn es um Rezeption von Kunst geht. Andererseits ...


    Wozu das ganze, abseits davon, dass man Aufmerksamkeit generiert? Ist das eine Lösung, um (endlich!) autobiografisch schreiben und gleichzeitig das eigene Umfeld schützen zu können (was m.E. nicht gelingen kann)? Was hat man beim Erzählen davon? Ich muss das, glaube ich, mal ausprobieren.


    Aber Anlass für den Thread war hauptsächlich meine Irritation darüber, dass das nach meinem Eindruck derzeit allem und jedem hinterhergerufen wird. Autofiktional ist das neue ... keine Ahnung. Das Berghain der Literatur. Scheißvergleich. Aber es ist Sonntagvormittag, die Akkus laden noch. 8)

  • Für mich vielleicht so ein Beispiel, wie Debatten funktionieren, wenn sie den einen (Verlagen) dienen, um Aufmerksamkeit für die eigene Sache zu generieren und den anderen (Feuilleton) dazu, ihre Spalten voll zu kriegen; wo dann jede Meinungsgymnastik und jeder Rhetorikmove andere nach sich zieht. Siehe die ganzen selbstgebackenen Themen in der Politik: Pkw-Maut, darf Protest stören, ist Streik nicht vielleicht Erpressung?