Zusammen oder getrennt veröffentlichen?

  • Liebe Freunde des geschriebenen Wortes,


    mich beschäftigt aktuell die folgende Frage: mein derzeitiges Manuskript habe ich aufgrund seiner Länge in mindestens zwei Teile gesplittet. Eventuell folgt auch noch ein dritter. Teil I umfasst 288 mehrfach überarbeitete Normseiten und schildert die Vorgeschichten der einzelnen Figuren. Das sind acht Kapitel, die zwar zur selben Zeit in derselben Umgebung spielen, jedoch nicht aufeinander aufbauen und nur lose zusammenhängen.


    An Teil II, dem Hauptteil, schreibe ich gerade. Dort fließen die einzelnen Handlungsstränge aus Teil I zusammen.


    Mein Plan war zunächst, die Teile jeweils einzeln zu veröffentlichen. Ein Lektor hat mir jedoch geraten, das Manuskript lieber als Ganzes auf den Markt zu bringen, da Teil I nur aus Vorgeschichten besteht und kein "richtiges" Ende hat. Die Chancen auf einen Verlag und gute Verkaufszahlen wären bei einer getrennten Veröffentlichung viel geringer.


    Meine Frage ist nun: seht Ihr das auch so? Habt Ihr Euch diese Frage auch mal gestellt?


    Es gibt einerseits Reihen wie Harry Potter, bei denen jedes Buch, jedes Abenteuer ein eigenes Ende hat. Doch ich kenne auch andere Fälle. George R.R. Martins Ein Lied von Eis und Feuer zum Beispiel besteht aus fünf dicken Bänden, doch ein eindeutiges Ende haben die einzelnen nicht. Hier habe ich den Eindruck, dass die Reihe nur aus mehreren Büchern besteht, weil ein Buch mit 5.000 Seiten einfach zu dick ist (und man mit mehr Bänden mehr Geld macht). Ein weiteres Beispiel ist Der Dunkle Turm von Stephen King mit etwa acht Bänden. Einige Bände schließen mit einem "richtigen" Ende, andere wiederum enden einfach mitten in einer Szene, die im nächsten Band nahtlos wieder aufgegriffen wird.


    Gut verkauft haben sich letztendlich beide Reihen. Vielleicht aber auch nur, weil sich namhafte Autoren da mehr erlauben können?


    Ich freue mich auf eure Meinungen!


    Liebe Grüße


    John

  • Hallo John,


    ich glaube, die Frage ist nicht, ob du eine Reihe schreiben solltest. Soweit ich das sehe, lieben Verlage Bücher, die so konzipiert sind, dass man sie bei Bedarf als Reihe weiterführen kann. Denn dann sind die Leser bereits gebunden und wollen im Idealfall wissen, wie es weitergeht. Gleichzeitig sollte der erste Band abgeschlossen sein für den Fall, dass eben nicht der Idealfall eintritt. Außerdem ist es so für den Leser befriedigender, denn wer wartet schon gern auf die Auflösung eines übergroßen Konflikts, der mehrere Bände umfasst, die noch gar nicht geschrieben sind? Zumindest eine Teilbefriedigung sollte nach Abschluss des ersten Buches stattfinden.


    Wie ich das verstehe, besteht dir allerdings viel eher das Problem, dass du kein abgeschlossenes Buch als Reihenauftakt produziert hast, sondern eine Art Vorgeschichte. Und das wäre äußerst langweilig. Da können die eingeführten Figuren noch so spannend und interessant sein, ohne Konflikt, ohne Auflösung eines Problems am Ende wirst du einen Leser nur schwer bei der Stange halten können.


    Gehe vom schlimmsten Fall aus: Die Aufmerksamkeitsspanne deines unbekannten Lesers ist ähnlich der eines Goldfischs, sein Geduldsfaden angesichts des Bombardements durch Konkurrenz in Form von Netflix, PlayStation, Theater und Co um so kürzer. Wie kannst du ihn gleich fesseln? Ich sage jetzt nicht "auf der ersten Seite", aber doch ziemlich schnell, sagen wir auf den ersten 15 Seiten.


    Charaktereinführungen und Vorgeschichten mögen für dich als Autor sehr befriedigend sein, doch der Leser wünscht, auf eine Reise mitgenommen werden. Es ist die Aufgabe des Autors, diese Reise so schnell wie möglich beginnen zu lassen. Alles andere kann nach und nach einfließen.


    Du erwähnst George RR Martin - es ist schon ein wenig her, dass ich das gelesen habe, aber hier passiert genau das: Es werden viele, viele Charaktere eingeführt, aber sie stehen sogleich vor großen Problemen. Ned Stark soll die Hand des Königs werden, obwohl er nicht will. Jamie Lannister wird bei einer Affäre mit seiner Zwillingsschwester erwischt und muss nun um seinen Ruf und seinen Stand fürchten. Dany wird als Spielball ihres Bruders an einen rohen Steppenbewohner verschachert. Jon ist ein von Catherine Stark nur schwer geduldeter Halbwaise, der von sich glaubt, dass er einer Affäre Neds entstammt ... Und über allem schwebt die dräuende Gefahr aus dem eisigen Norden. Diese kleinen Konflikte werden immer mal wieder aufgelöst, doch gleichzeitig werden neue eingeführt ... das füllt diese 5000 Seiten.


    Lieben Gruß

    Silke

  • Hallo John,


    ich habe Dich drüben im anderen Thread nicht begrüßt, ist mir irgendwie untergegangen - dies sei hiermit nachgeholt, willkommen bei uns.


    Bei:

    Teil I umfasst 288 mehrfach überarbeitete Normseiten und schildert die Vorgeschichten der einzelnen Figuren.

    kann ich aber nicht stillhalten, weil ich das für sehr problematisch halte.


    Völlig unabhängig davon, ob zusammen oder getrennt veröffentlicht. Weil: Warum soll der Leser sich durch 200 Seiten lesen, wenn er keine Ahnung davon bekommt, wozu diese Vorgeschichten sein sollen? Der Leser will gleich mitgenommen werden, will eine Geschichte - im besten Fall - miterleben. Vorgeschichten interessieren ihn nur, wenn sie unmittelbar mit der aktuellen Handlung zu tun haben, glaube ich.


    Insofern ist meine Antwort auf Deine Frage auf alle Fälle: Zusammen, das ergibt ein bisschen Sinn.

    Als Einzel-Auftakt-Band eine Sammlung von eher 8 Kurzgeschichten, die nichts miteinander zu tun haben, kann ich mir nur ganz schwer vorstellen, warum Leser dann zu Band 2 greifen sollen. Und irgendwie denke ich, vielleicht kriegst Du die Vorgeschichten ja auch noch viel geschickter in die Handlung eingewoben.


    Aber das ist nur meine Meinung aus der Ferne. Ohne das Projekt zu kennen, lässt sich dazu schwer etwas qualifiziertes sagen.

  • Hallo John,


    auch ich denke, dass ein erster Band nur mit Vorgeschichten die Geduld deines Lesers möglicherweise ganz schön auf die Probe stellen würde. Ich möchte als Leser eben auch immer das Gefühl haben, dass sich das, was ich lese, wie ein Netz immer enger um die Handlung und den Hauptkonflikt zusammenzieht. Und wenn ich nicht erkennen oder erahnen kann, wohin der Autor mit mir will, fühle ich mich irgendwann hingehalten. (Es gibt Ausnahmen.)


    Ein paar Anregungen von mir:

    Vielleicht habe ich jetzt auch ein falsches Bild von deiner Idee vor Augen, aber ich würde von Anfang in die eigentliche Handlung einsteigen und die Charaktervorgeschichten dort integrieren; also z. B. durch (knappe) Rückblenden an den Stellen, an denen das Wissen um die Hintergründe der Figuren für den Leser relevant wird.

    Was ich auch schon gesehen habe: Einfügen von "Zwischenkapiteln" in die Haupthandlung mit jeweils einer Vorgeschichte - aber auch hier an relevanten Stellen in der Haupthandlung.

    Oder ganz anders: Von den Vorgeschichten nur das Nötigste in die Haupthandlung integrieren und jeweils die Vorgeschichte einer Figur den Lesern separat anbieten und im Buch selbst darauf verweisen, z. B. bezahlt oder als Bonus über eine eigene Homepage wie ein "Prequel". Das kann Leser im Sinne des Marketing dann z. B. für deine Autorenhomepage interessieren. Dieses Modell könnte in Absprache mit einem Verlag über dessen Internetpräsenz laufen, was vielleicht sogar das Verlagsinteresse erhöhen könnte, da weniger kostenintensiv und damit bei neuen Autoren weniger risikobehaftet als ein gedrucktes Buch.


    Viele Grüße

    Eiko

  • Schließe mich an, sehe auch eher ein Problem der Qualität im erzählerischen Sinne, denn der Aufteilung.

    Das ist natürlich einerseits anmaßend, kenn ich doch kein Wort deines Textes. Andererseits sagst du recht deutlich: eine Geschichte gibt es auf den ersten knapp 300 Seiten nicht.

    Hier begegnet mir immer wieder dasselbe Phänomen: Autoren wissen sehr viel über ihre Geschichte & Figuren, ihr Kopf droht daran zu zerplatzen. Und dann schreiben sie das auch alles auf. Meinen es gut. Aber erzählen keine Geschichte.


    Zu Der Herr der Ringe gibt es drei Zeitalter Vorgeschichte. Tolkien hat die auch ausgearbeitet. Aber in Der Herr der Ringe kommt die nicht vor, nur am Rande, als geschichtlicher Hintergrund.


    Vielleicht wäre das ein Weg.


    Alternativ: nicht stur chronologisch erzählen, sondern Zeitebenen abwechseln. Aber das klappt nur, wenn die Vorvergangenheit auch irgendwie eine Geschichte für sich ist.

  • Ich danke euch vielmals für eure Einschätzungen!


    Ich denke, der Begriff "Vorgeschichte" ist hier durchaus missverständlich. Mein Fehler. Teil I mit seinen acht Kapiteln gehört unmittelbar zur Geschichte dazu und es mangelt hier durchaus nicht an Konflikten. Nur werden diese Konflikte am Ende von Teil I eben noch nicht aufgelöst, sondern entwickeln sich in Teil II weiter, wenn die Handlungsstränge zusammenlaufen. Deshalb kann ich sie schlecht weglassen - ohne Teil I machen die Geschehnisse in Teil II keinen Sinn, weil dann wesentliche Infos fehlen. Teil II baut also unmittelbar auf Teil I auf.


    Vielleicht wird meine Sorge/mein Problem deutlicher, wenn ich es so beschreibe: Die acht Kapitel von Teil I bauen nicht aufeinander auf, sondern laufen parallel nebeneinander her (gleicher Tag, gleicher Ort, aber pro Kapitel eine andere Figur bzw. Perspektive und ein anderer, persönlicher Konflikt).


    Kann ich also das Interesse des Lesers mit dieser Struktur aufrechterhalten, wenn die einzelnen Kapitel genug Qualität und Spannung haben? Mit der Gewissheit für den Leser, dass die Konflikte aus dem ersten Teil sich in Teil II weiterentwickeln?


    Oder haltet ihr die Parallelstruktur aus Teil I für ein grundsätzliches Problem, das das Interesse des Lesers schwinden lässt?

  • Ok, das macht es ein wenig verständlicher.


    Dennoch bleibe ich dabei: Das kann noch so gut geschrieben sein, wenn man nach 50 Seiten Charaktereinführung (egal ob Konflikt oder nicht), zeitlich und inhaltlich wieder zurückfällt auf Punkt 0, und das noch dazu ganze acht Mal (!), dann würde das zumindest meine Geduld als Leserin gefährlich überstrapazieren.


    Braucht es denn acht Figuren, denen du so viel Aufmerksamkeit widmest, als seien sie alle deine Protagonisten? Ich sehe da auch das Problem der mangelnden Identifikation mit einer Figur bzw. der Orientierung/Nähe zu einer Figur. Meinst du, deine Leser können sich nach Charakter 4 noch an Details aus dem Leben von Charakter 1 erinnern? Irgendwie scheint mir das alles ein wenig über Bord gegangen zu sein ... ist das möglich?


    Natürlich ist das alles Theorie. Was du brauchst, sind Testleser, die sich mit dem gesamten Text befassen und ihn durchleben - von vorne bis hinten.

  • Silke: Ja, ich denke, die Struktur ist die größte Schwachstelle des Manuskripts. Zumindest die im ersten Teil. Da fallen mir im Moment nur zwei Möglichkeiten ein:

    1. Entweder ich erzähle das Ganze in Zeitsprüngen, so dass ich zwischen dem Hauptteil und den vorherigen Erlebnissen der Figuren hin- und her wechsle und damit die Inhalte von Teil I und II vermische.


    2. Oder ich opfere schweren Herzens einige Kapitel und streiche damit auch ganze Figuren. :heul


    Letztendlich sehe ich es genauso: um wirklich zu beurteilen, ob der Text in seiner jetzigen Struktur funktioniert, muss man ihn lesen. Leider gibt es in meinem privaten Umfeld kaum jemanden, der bereit ist, sich dafür die Zeit zu nehmen. Das ist auch ein Grund, warum ich mich in diesem Forum angemeldet habe: eventuell gibt es ja Mitglieder, die sich für das Genre Dystopie/Thriller interessieren und bereit sind, sich mit dem ersten Teil meines Manuskripts auseinanderzusetzen. Gerne auch im Tandem, so nach dem Prinzip "Ich lese dein Zeug - du liest mein Zeug - und dann hauen wir uns unsere Kritik um die Ohren."


    Dann muss auch keiner ein schlechtes Gewissen haben, dass er seinem Testleser ohne Gegenleistung so viel Zeit abverlangt. ;)

  • Streichen ist immer eine gute Option.


    Eine Möglichkeit, Texte zu diskutieren (in überschaubarem Rahmen - max. 30 Seiten) ist die BT-Runde. Dafür muss man aber extra freigeschaltet werden, um Personen- und Textschutz gewährleisten zu können. Mail mit Personalausweiskopie an den Administrator genügt.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Danke für deinen Hinweis, Horst-Dieter.


    Vielleicht kennt ihr das auch? Man macht sich Gedanken zu einem Manuskript, lässt sich noch einmal alle Hinweise aus dem Forum durch den Kopf gehen und wacht dann eines Morgens auf mit dem Gefühl: Heureka! Das ist die Lösung!


    Zumindest könnte es die Lösung sein.


    Meine Idee ist, die zweiteilig-chronologische Struktur aufzubrechen und mit mehr Zeitsprüngen zu erzählen. Ich starte mit drei Kapiteln über drei verschiedene Figuren, die zur gleichen Zeit in der Nähe voneinander spielen. Dann lasse ich diese Handlungen weiterlaufen, um die Geduld des Lesers nicht überzustrapazieren. Nach und nach stoßen dann weitere Figuren hinzu, die in die laufende Handlung integriert werden und bei denen ein Rückblick erklärt, wie es zu deren Konflikten gekommen ist. Diese Rückblicke wären die übrigen Kapitel vom ursprünglich ersten Teil.


    Ist natürlich nur Theorie, ob das funktioniert, muss die konkrete Geschichte zeigen.


    Schreibt ihr auch manchmal eure Geschichten erst in chronologischer Reihenfolge auf, um euch selbst Klarheit zu verschaffen, und verschiebt dann einige Kapitel aus strukturellen bzw. Spannungsgründen?

  • Ich finde, das klingt wie ein guter Plan, der funktionieren könnte.


    Ich plane meine Geschichten von vorne bis hinten durch. Ein wenig weiche ich dann meist ab, weil ich eben nicht alles super sorgfältig vorhersehen kann, aber insgesamt steht das Ganze schon fest, bevor ich überhaupt anfange, das erste Wort einzutippen.

  • Dann bist du wohl ein Kopfschreiber.


    Bei mir ist es eher so, dass ich auf ein vages Ziel hin schreibe und sich viel unterwegs, also während des Schreibens, ergibt. Offensichtlich bin ich eher ein Bauchschreiber - was mich wundert, weil ich im sonstigen Leben mehr nach dem Kopf und nicht nach dem Bauch entscheide. :grübel:

  • Da ich historische Romane schreibe, habe ich keine Wahl. Ich muss zuerst recherchieren, und dann muss ich mich eben auch an reale Fakten, Figuren und Daten halten. Abgesehen davon, ist die Struktur gut, um sicher durch den Text zu kommen. Ich bewege mich von Abschnitt zu Abschnitt, das motiviert und hält mich mit meinen Teilzielen bei der Stange.


    Aber ja, du hast recht, jeder macht es anders. Bei mir funktioniert es so eben am besten.

  • Es ist dann sinnvoll, die Vorgeschichte einer Figur zu erzählen, wenn dies zum Verständnis (des Handelns der Figur) einer späteren Situation erforderlich ist. Wenn man die Vorgeschichte einer Figur "nur" erzählt, um die Figur zu konturieren, ist es keine Vorgeschichte, sondern eben die Geschichte der Figur, die dann vermutlich später (an zeitlich anderer Stelle) weitererzählt wird. Genaugenommen ist es natürlich das immer. Zur Charakterisierung eines Protagonisten ist aber seine Vorgeschichte nicht unbedingt nötig, und erst recht keine vollständige.


    Weniger ist hier oft besser. Spielt die Haupthandlung zum Zeitpunkt X und irgendeiner Figur ist früher etwas passiert, das nunmehr Wirkung zeigt, das ihr Handeln und ihre Entscheidungen beeinflusst, dann reicht es oft, punktuell nur dieses Geschehen zu erzählen und nicht die gesamte Vita der Figur. Und es so zu erzählen, dass möglicherweise auch noch andere Aspekte einfließen, die an anderer Stelle wichtig werden. Ich habe meinem zweiten Roman "Idiotentest" einen Prolog mit dem Titel "Kinderschokolade" vorangestellt, der eine Episode aus der Kindheit des Protagonisten erzählt. In dieser Episode geht es darum, wie der Held vermeintlich einen Fünfzig-Mark-Schein verliert, als er von der strengen Mutter zum Einkaufen geschickt wird, aber eigentlich geht es um noch viel, viel mehr - es geht um Verantwortung, um die Konsequenzen des Handelns, es geht um Familie und Bindung, und es geht um Chuzpe. Ich würde das heute vielleicht nicht mehr genau so machen, aber diese zehn, zwölf Seiten verdichten alles, was man über diesen Henry Hinze wissen muss, um seine Aktionen zwanzig, dreißig Jahre später zu verstehen, um nachzuvollziehen, wie er zum späteren Henry wurde. Mehr wäre eindeutig zu viel gewesen, und natürlich hatte dieser Prolog noch weitere Aufgaben.


    Es hört sich für mich überhaupt nicht gut an, wenn jemand erklärt, er hätte eine Menge Vorgeschichten aufgeschrieben, so dass das quasi einen Band ergäbe, und dann wäre da noch die eigentliche, weitaus spannendere Hauptgeschichte, um die es im Kern geht, während der Rest nur Fundament ist. Ich habe so etwas auch schon häufiger in den Händen gehabt. Da werden Historien gesponnen, vergangene Zeiten erklärt, Heldensagen und Mythen ausgebreitet, da wird von Kriegen und Epochen berichtet. Es gibt Erzählungen von schlimmen Kindheiten unter schwierigsten Bedingungen, von Verschleppung und Gewalt und all dem, von Jahren in Waisenhäusern, wo schwer gearbeitet werden musste und es viel Boshaftigkeit und Ungerechtigkeit gab und all das (und hier und da magisches Geplänkel, wenn es um Fantasy geht). Und irgendwann kommt man in der Gegenwart an und die eigentliche Geschichte geht los. Wenn das sehr gut gemacht ist - her damit. Ist es aber meistens leider nicht, und es ist auch nicht leicht, diese oft sehr ähnlichen Geschichten richtig gut zu erzählen. Zumal sie oft auch nicht nötig sind. Nicht selten hat man beim Lesen das Gefühl, dass die Autoren und -innen quasi die Pflicht hinter sich bringen wollen, also die Grundlagen schaffen, um dann frei und umso entspannter loserzählen zu können. Für die Leser ist das die reine Qual, zumal es bei Schreibfrischlingen oft auch noch mit diesem unsäglichen Vollständigkeitsdrang einhergeht: Jeder Klacks und jeder Pups wird erzählt, jede Nichtigkeit ausgebreitet, und das Ergebnis ist unspannend und zäh. Aber: Man weiß wirklich alles über die Figuren, davon viel Unwichtiges.


    Es gibt zahlreiche Techniken, um so etwas sehr gut hinzukriegen und nichts auszulassen, das wesentlich wäre. Rückblenden an den richtigen Stellen, oder stark verdichtete Vorgeschichten, oder Dialoge am Lagerfeuer oder im Schlafsaal, was weiß ich. Was gut klappt, das hängt auch vom Gefühl für die Dramaturgie ab, und von der eigentlichen Geschichte. Aber, wie erwähnt: Eine Art vorab gereichter Sekundärliteratur mit allem, was man über die Figuren der eigentlichen Geschichte wissen sollte, das klingt problematisch.

  • Volle Zustimmung, würde noch ergänzen, dass in solchen Fällen oft einfach die Distanz zum eigenen Stoff fehlt, also eben alles wichtig und schön erscheint, aber der Leser und dessen Bedürfnisse völlig außen vor bleiben.

  • Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein umfangreiches Romanprojekt mit Vorgeschichte, verschiedenen Figurenhistorien und mehreren Zeitebenen "aus dem Bauch" heraus geschrieben werden kann. Alle Erfahrungen bisher - nicht nur meine - zeigen, dass das ohne Strukturierung nicht funktionert. Man kann so etwas vielleicht unstrukturiert beginnen, ab einem bestimmten Punkt gehts aber nicht weiter ohne Plan.

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    Emanuel von Bodmann


    Einmal editiert, zuletzt von Horst-Dieter ()

  • Du hast natürlich recht, Horst-Dieter. Ich schreibe kein ganzes Buch einfach aus dem Bauch heraus. Allerdings plane ich auch nicht jedes Kapitel bis in den letzten Winkel durch, bevor ich überhaupt angefangen habe zu schreiben. Vielmehr erstelle ich ein grobes Konzept pro Kapitel und lasse mir dadurch Raum für spontane Entwicklungen, die sich während des Schreibens ergeben. Manchmal entwickelt sich eine Handlung oder eine Figur ganz "ungewollt" in eine bestimmte Richtung, macht sich quasi selbstständig und wird lebendig, und das möchte ich nicht durch eine zu starre Vorausplanung blockieren.


    Ich denke, ich schreibe mein aktuelles Projekt erstmal zu Ende und dann mache ich mich hinterher noch einmal an die Schwächen in der Struktur, verschiebe und streiche Dinge, die dem Lesefluss nicht guttun.