Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

  • Keine Feuer, nirgendwo. Auch keine kleinen


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    Wenn man einen Weltbestseller hatte, der zudem prominent als Serie verfilmt wurde (und wenn das auch noch wirklich großartig gelungen ist), sind die Freiheiten größer als vorher. Man kann Themen durchsetzen, die sonst möglicherweise keine Chance gehabt hätten, und einen Plot verkaufen, den man zuvor nicht unterbekommen hätte, und sogar mit einem Setting, bei dem Widerstände eigentlich vorprogrammiert gewesen wären. Doch Celeste Ng hat mit „Was ich euch nicht erzählte“, vor allem aber mit dem hinreißenden „Kleine Feuer überall“ jene Sphären erreicht, die es ermöglichen, die eigenen Ideen und Interessen vollständig in den Vordergrund zu stellen, sich alle inhaltlichen und dramaturgischen Freiheiten herauszunehmen. Denn sie hat jetzt mit „Unsre verschwundenen Herzen“ (OT: „Our Missing Hearts“) einen Text vorgelegt, der sehr politisch ist, außerdem dystopisch, und der den latenten, immanenten, fundamentalen Rassismus in den U.S. of A. in drastischer Weise anprangert. Das war zwar auch in „Kleine Feuer überall“ schon Thema, aber hier stellt es den Kern dar, den Dreh- und Angelpunkt. Die Figuren sind Statisten, Protagonist ist die Botschaft.


    Und obwohl es sich um eine gute, eine begrüßenswerte, eine wichtige und zweifelsfrei richtige Botschaft handelt, um einen Text, der eine Warnung ist, und teilweise – leider – eine Beschreibung der Realität darstellt, will „Unsre verschwundenen Herzen“ nicht so recht funktionieren. Möglicherweise will der Roman sogar genau deshalb nicht funktionieren, weil die Botschaft so klar, plakativ, vordergründig, vereinnahmend ist, weil sie nie infrage gestellt wird, weil es übrigens auch keine Gegenspieler gibt, jedenfalls keine, die als Personen auftreten. Der Text ist ein Monolog.


    Die Geschichte spielt in einer Zukunft, die sehr nahe sein könnte. Die U.S. of A. wurden von einer Wirtschaftskrise heimgesucht, die das Land beinahe vollständig ruiniert hätte. Armut und Existenzängste waren plötzlich allgegenwärtig, nichts war mehr sicher, nur den vermeintlichen Verursacher fand man schnell: Das Riesenreich China, das der amerikanischen Wirtschaft mit unlauteren Methoden den Garaus zu machen versucht hatte. Deshalb gehörte zur Lösung des Problems neben Protektionismus vor allem ein energischer, ausschließlicher Patriotismus, der Trumps „America First!“ wie ein albernes, naives und irgendwie liebenswürdiges Geplänkel erscheinen ließe. Diese Strategie wurde in eine Agenda namens „PACT“ gegossen, ein Akronym für „Preserving American Culture and Traditions Act“, letztlich ein Freibrief für Denunziantentum, Zensur, Bücherverbrennungen, krasse Ungleichbehandlung, aktive Misshandlung, für Gewalt, die nie geahndet wird, und nicht zuletzt dafür, Eltern ihre Kinder wegzunehmen.


    Der neunjährige Bird, der eigentlich Noah heißt, wäre beinahe Opfer eines solchen Vorgangs geworden, aber bevor die Behörden das Kind zu anonymen Pflegeeltern geben konnten, hat Margaret, die Mutter, die Flucht ergriffen. Margaret Miu, im Gegensatz zu ihrem Mann Ethan asiatischstämmig, war nämlich jene Lyrikerin, deren Gedichtzeilen von Leuten aufgegriffen worden waren, um ihrem subtilen Protest eine Formel, einen Slogan zu geben, was auch die ungewöhnliche Schreibung des Wortes „Unsere“ im Romantitel erklärt – die Gedichtzeile „Unsre verschwundenen Herzen“ steht für all jene Kinder, die ihren Eltern entrissen wurden, um diese zu sanktionieren, zum Schweigen zu bringen, zu erziehen. Aber Margaret war bis zu dem Zeitpunkt, als plötzlich alle ihre Gedichte zitierten, die eigentlich nie politisch intendiert waren, überhaupt nicht engagiert, hielt alles, was um sie herum geschah, für ein Problem der anderen Leute, aus dem man sich heraushalten konnte, indem man sich ruhig und unauffällig und kooperativ verhielt. Als das nicht mehr klappte, weil man sie für eine Sympathisantin, gar für eine Initiatorin hielt, verließ sie ihre Familie, um diese zu schützen, und schloss sich dem Untergrund an. Sie machte es sich zur Aufgabe, die Geschichten der Kinder zu sammeln, die ihren Eltern entrissen worden waren.


    Drei Jahre später nimmt sie mit ihrem inzwischen zwölfjährigen Sohn heimlich Kontakt auf, der sie schließlich auch findet, und erzählt ihm die ganze Geschichte.


    In einem sehr schnellen, stakkatohaften Stil, der manchmal wunderschön ist und hinreißende Formulierungen enthält, aber überwiegend hastig, gepresst, berichtshaft wirkt, liefert Celeste Ng vor allem Fakten und Beschreibungen. Sie erzählt davon, wie es lief, wie es sich entwickelt hat, wie sich die Interessen verschoben haben, was mit den Menschen geschah, vor allem mit den Kindern. Die Autorin skizziert also in erster Linie ihr Szenario, und sie versucht das in einer Weise, die eine direkte Verbindung zur Jetztzeit zulässt. Das gelingt ihr auch sehr gut, aber die wenige Handlung und ihre Figuren bleiben dabei auf der Strecke, verblüffenderweise umso mehr, je detaillierter und genauer die Autorin sie zu beschreiben versucht. Margaret, Bird und Ethan bleiben steril, unnahbar, linear, marionettenhaft. Und überwiegend passiv. Weshalb der Spannungshöhepunkt gegen Ende auch mühselig begründet werden muss, wie hereinkonstruiert wirkt, davon abgesehen kaum nachvollziehbar und recht unlogisch aufgebaut ist.


    Celeste Ng erwähnt im Text „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood, die möglicherweise Namensgeberin für die dichtende Hauptfigur war, jedenfalls ist der Versuch offensichtlich, die Erzählung in der Nähe dieses Standardwerks der zeitgenössischen feministischen Dystopien zu verorten. Aber im Gegensatz zu Desfred und all den anderen Figuren Atwoods bleibt Ngs Personal blass und leblos, fehlen die persönlichen Konflikte, fehlen Spannung und Action und Lebendigkeit, mangelt es aber vor allem an erzählerischer Wucht, an der literarischen Stärke. „Unsre verschwundenen Herzen“ ist enorm bemüht, fast schon schmerzhaft bemüht, und erdrückt damit alles, was es an emotionalem Potential gegeben hätte.


    Schade.

    ASIN/ISBN: 3423290358

  • Ich hatte im Dezember die Gelegenheit, Celeste Ng im Münchner Amerikahaus live zu erleben. Sie hat nicht selbst gelesen, aber viel aus ihrem eigenen Leben erzählt – locker, klug und eloquent. Die Veranstaltung war unmittelbar vor den dramatischen Midterm-Wahlen in den USA, also politisch noch stärker aufgeladen und für mich noch interessanter. Celeste Ngs Eltern sind Hongkong-Chinesen, die vor vielen Jahren in die USA migriert sind, und die Familie hat alles an Diskriminierung erlebt. Mir war nicht bewusst, wie diskriminiert asiatisch gelesene Menschen in den USA sind, nicht erst sein Corona.


    Langer Einleitung kurzer Sinn: Die Autorin selbst erlebt zu haben, schafft mir etwas mehr Zugang zu ihrem neuen Buch. Ich habe vor allem „Was ich euch nicht erzählte“ geliebt. Aber mit dem neuen Roman bin ich nicht recht warmgeworden, auch wenn er versiert geschrieben ist. Du sprichst mir mit deiner Bewertung ein wenig aus der Seele, Tom. Aber ich würde doch mehr als zwei Sterne vergeben.

  • Es sind zweieinhalb Sterne, Ingrid, genau: 2,48 Sterne. Also nur abgerundet 2. ;) Außerdem ist die Bewertung autorensensitiv; ein Zwei-Sterne-Buch von Celeste Ng ist immer noch besser als ein (völlig fiktiver) Fünfzig-Sterne-Fitzek.


    Ich habe Bekannte mit asiatischstämmigen Eltern, die in San Francisco leben, also einer der entspannteren, toleranteren Gegenden der Staaten, aber als es mit Corona losging und das Gerücht die Runde machte, "die Chinesen" hätten das absichtlich in die Welt gesetzt, bekamen diese Leute plötzlich Probleme im privaten Umfeld. Sie wurden gemieden, Verabredungen wurden abgesagt, die Kinder wurden nicht mehr eingeladen. Es hat sich zwar wieder etwas normalisiert, aber das Normal nicht nur in Amerika für Angehörige ethnischer Minderheiten oder für Leute mit Wurzeln im asiatischen Raum ist ein anderes Normal als das für die WASPs.

  • Ich würde mich auch schwertun, dem Roman Sterne zu verleihen. Aber eher zwischen 3 und 4, denke ich.


    Das Corona-Thema ist mir bewusst, aber das „immer schon“ war es seltsamerweise nicht. Asiaten waren immer schon diskriminiert, genau wie Afroamerikaner und Latinos – wie könnte es auch anders sein. Celeste Ngs Eltern – als Hongkong-Chinesen auch unter den Chinesen speziell – haben alles dafür getan, nicht aufzufallen, und das an ihr Kind weitergegeben. Das ist existenziell und sicher prägend, auch wenn es Celeste Ng nicht anzumerken ist. Ihr zuzusehen und zuzuhören war rundum bereichernd.