Sabine Hofmann: Totenwinter

  • Ein Ereignis


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    Im legendären „Hungerwinter“ 1946/47, als nicht nur die Temperaturen negative Rekordwerte erreichen, liegt Deutschland in jeder Hinsicht in Trümmern. Es gibt fast nichts zum Essen, Kohlen zum Heizen sind ebenso rar, nur wenige Menschen haben Arbeit, eine medizinische Versorgung existiert kaum, und alle kämpfen um die eigene Existenz. Die junge Edith hatte Glück; sie arbeitet bei einem Rechtsanwalt, wird in brauchbaren Naturalien bezahlt und hat es zumindest tagsüber in dessen Büro etwas wärmer. Weniger Glück hat der Familienvater und Arbeiterführer Birkner; er wird tot in einem Eisenbahnwaggon gefunden, an den Händen noch die Spuren des Milchpulvers, mit dem er wahrscheinlich Schwarzmarkthandel betrieben hat - auf dem Duisburger Bahnhof, wo die Kinder Kohlen klauen und sich die Polizisten von den Kindern dafür bezahlen lassen, nicht zu genau hinzusehen.


    Aber nichts ist hier, wie es zu sein scheint, wie den Ermittlern bald auffällt, die – wie alle Menschen in dieser Zeit – mit der omnipräsenten Knappheit zu kämpfen haben, aber auch mit immer sichtbareren Nazi-Altlasten, mit der um sich greifenden Gesetzlosigkeit, mit der Angst, der Not und dem Desinteresse der Menschen.


    Sabine Hofmann erzählt in diesem unglaublich atmosphärischen Roman, der ein Krimi zu sein scheint, eigentlich aber ein wahrhaftig historischer Roman ist, von den Leuten, die den Bedingungen zu trotzen versuchen, die nicht alles hinzunehmen bereit sind, die sich durchaus solidarisieren. Sie erzählt natürlich auch von den anderen, die ihre frische Vita zu verschleiern versuchen, die aus der Notsituation Profit schlagen wollen, denen alles egal ist. Und von jenen, die – wie zu jeder Zeit – versuchen, sich durchzuwurschteln, aber irgendwann gezwungen sind, Farbe zu bekennen.

    „Totenwinter“ zeigt jene Zeit sehr anschaulich. Man friert beim Lesen, obwohl man in der behaglichen Wohnung sitzt, zieht die Decke etwas enger um die Schultern und bekommt gleichzeitig Appetit auf alltägliche Speisen. Gerade in diesem Jahr wird der Blick aber nicht nur in die Vergangenheit gelenkt, sondern außerdem nach Osten, wo Menschen 75 Jahre nach dem deutschen Hungerwinter etwas ganz ähnliches aushalten müssen. Das war vermutlich nicht die Absicht der Autorin, aber es lässt sich beim Schreiben eben nicht beeinflussen, wann, von wem und unter welchen Bedingungen ein Text gelesen wird.


    Ein vortrefflicher Text übrigens, nicht nur in atmosphärischer Hinsicht. Der Kriminalfall wird geschickt genutzt, um die sozialen Strukturen und Verflechtungen zu zeigen, von den Besitzern der zu jener Zeit überwiegend stillgelegten Stahlwerke bis zu den Tagelöhnern und ihren Kindern, die spätabends rußgeschwärzt vom Kohlesammeln heimkehren. Und natürlich geht es nicht nur um Nöte und Ängste, sondern um Freundschaft, um Zukunftsplanungen, um die allmählich keimende Aufbruchstimmung und, nicht zuletzt, um die Liebe. Außerdem ist „Totenwinter“ nicht selten ziemlich spannend, und einmal sogar richtig schockierend.


    Ich hätte mir ein etwas weniger hastiges, etwas ausführlicheres Ende gewünscht, aber hiervon abgesehen war die Lektüre dieses toll erzählten und exzellent recherchierten Romans ein Ereignis.


    ASIN/ISBN: 3746639638