Gerda Blees: Wir sind das Licht

  • Eine Frau stirbt in einer Wohnung, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, organisch gesund. Friedlich und sanft, sagen ihre Mitbewohner. Verhungert, sagt der herbeigerufene Arzt, der den Totenschein ausstellen soll.

    Was hat sich zugetragen in dieser Wohngemeinschaft, die sich selbst den Namen „Klang und Liebe“ gegeben hat? Wie konnte es soweit kommen?

    Davon berichten kein personaler und auch kein allwissender Erzähler, sondern davon erzählen zig Einzelstimmen: der Vater der Verstorbenen, ihre Schwester, deren übrige Geschwister, im Kollektiv, die Nachbarn, der Rechtsmediziner, und sogar unbelebte Gegen- und Zustände: Socken, ein Entsafter, zwei Zigaretten, ein Orangenduft, Demenz, Licht – den Anfang macht die Nacht: „Wir sind die Nacht“, so beginnt der Roman und schafft so eine Klammer bis zum Schlusskapitel.


    Die Wohngemeinschaft Klang und Liebe besteht aus Melodie van Hellingen, ihrer Schwester Elisabeth, Muriel und Petrus. Diese Vier haben sich zusammengetan, um miteinander zu leben, einander eine Stütze zu sein. Sie wollen mehr vom Leben als sinnlos zu konsumieren, sie wollen sich dem als feindlich empfundenen „System“ entziehen. Sie meditieren viel, arbeiten an sich. Petrus will lernen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Melodie lenkt, Melodie ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Wohngemeinschaft, eine Anführerin der leisen Töne. Wenn Melodie befindet, dass Nahrungsaufnahme Zeitverschwendung ist und vom wirklichen Sinn des Lebens ablenkt, dann sind die anderen bereit, diesen Weg mit zu beschreiten. So folgen sie gemeinsam dem Konzept der Lichtnahrung: die Vier wollen ihre Körper von der als Zwang und überflüssig empfundenen Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme befreien, so, wie man sich von einer Sucht befreit.


    Was zunächst künstlich klingen mag (oder wie die Aufgabe in einer Schreibwerkstatt: schreib aus der Sicht eines Stuhls, eines Tisches …), ergibt in diesem Roman zweifellos Sinn, denn wer könnte in einer geschlossenen Gemeinschaft, noch dazu der Gemeinschaft von drei Personen, die verdächtigt werden, den Tod der vierten Person zumindest billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar aktiv (mit) verschuldet haben, „objektiv“ davon künden, was eigentlich passiert ist? Der Vater des Opfers, die Familie, die Nachbarn haben ihre mehr oder minder entfernten Blicke auf die Geschehnisse, von außen, die, die dabei gewesen sind, sind gefangen in ihren Glaubenssätzen, ihren Zweifeln, ihren Abhängigkeiten, aber die Gegenstände waren nicht nur hautnah dabei, sondern sind quasi neutrale Zeugen, wo die Polizei zwangsläufig im Dunkeln tappt, erhellen sie die Geschehnisse.


    Der mehrfach ausgezeichnete Debütroman „Wir sind das Licht“ der Niederländerin Gerda Blees (Jahrgang 1985) ist kein Krimi, wenn auch die Struktur des Romans sich an den Ermittlungen der Polizei entlangbewegt. Wie schon in den beiden von mir Anfang des Jahres vorgestellten Romanen „Es wird wieder Tag“ von Minka Pradelski und „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin, wartet „Wir sind das Licht“ mit einer ungewöhnlichen Erzählperspektive auf. So drückend und schwer ihr Thema ist, so karg und vernunftfern sich das Sein und letztendlich zwangsläufig sinnlose Streben der Figuren darstellt, so gestaltet Blees ihre Erzählstimmen doch sehr farbig und lebendig – grandios das Kapitel, in dem die Demenz (der Mutter) spricht.

    „Wir sind das Licht“ ist einer der Romane, die man getrost zweimal lesen (oder hören) kann und bei denen man immer noch Dinge erfährt, die man beim ersten Mal verpasst hat.


    ASIN/ISBN: 3552072748

  • Ist notiert!


    "Lichtnahrung" ist ein Klimax des Ernährungsextremismus'. Ich habe die Karriere der Guruesse "Jamushee" eine Weile verfolgt und bei jeder Gelegenheit ihr Buch verlinkt. Ihr wird die Mitverantwortung für einige Todesfälle unterstellt.


    ASIN/ISBN: 386728217X

  • Ich habe einiges über Sekten, Glaubensgemeinschaften, alternative Lebensformen gelesen, gut möglich aus einem gewissen Voyeurismus heraus, aber auch, weil es logisch wie emotional für mich nicht greifbar ist, wie es zu diesen extremen Ausprägungen kommen kann. Menschen, die auf der Suche sind, glauben etwas in einer Organisation zu finden, die sie finanziell, physisch und psychisch ausbeutet, ihnen vorschreibt, wen sie zu heiraten haben, die durch Umrühren in einer Badewanne „energetisiertes“ und auf Flaschen gezogenes Wasser kaufen, an Krankheiten sterben, an denen sie nicht zwangsläufig sterben müssten, weil sie aufs Handauflegen vertrauen … und, und, und.


    Natürlich wollen die meisten Menschen mehr sein als ein Rädchen im Getriebe und vor allen Dingen, als „Krone der Schöpfung“, ihrem Leben Sinn geben und nicht einfach vergehen, wenn ihre Zeit um ist. Diese Melodie aus dem Roman (dem ein wahrer Fall zugrunde liegt) ist keine peitscheschwingende Despotin, und dennoch jemand, der gelernt hat, sehr manipulativ und durchsetzungsstark zu sein, wenn sie auf die Menschen trifft, die dafür empfänglich sind. Sie übt Gewalt aus, die sie sehr gut zu tarnen versteht. Die Vier im Roman sind mündige Menschen, die, und das ist nur einer der verstörenden Aspekte daran: die füreinander da sein wollten.