Nonbinär ist das neue Verrucht - Ein Statement zum aktuell verliehenen Deutschen Buchpreis

  • Klar war das eine sehr zeitgeistige Preisvergabe, aber, wie ich finde, auch eine sehr zeitgemäße, und so bitter Frau Stephan das auch finden mag - Zeiten ändern sich. Vor vierzig Jahren hat sich Rainald Goetz während seiner Lesung in Klagenfurt mit einer Rasierklinge die Stirn aufgeritzt, und jetzt werden halt Haare abrasiert; Dinge geschehen inzwischen auf einem anderen Achtsamkeits- und Mutlevel (denn was sich Kim de l'Horizon an hasserfüllten Kommentaren von weitrechten Totalhonks auf social media, aber auch bei Amazon gefallen lassen muss, ist vermutlich nicht eben leicht auszuhalten). Und die Ansagen zum prämierten Buch? Nunwohl. Kunst ist Attitüde, Kunst ist uneinheitlich, Kunst ist nicht kategorisch. Wenn sie damit aufhört, ist sie keine Kunst mehr. Aber die gute Frau Stephan scheint sich eher den Handwerkern zuzurechnen. Dafür spricht auch ihre feststellende Behauptung, Kim de l'Horizon wäre nur "ein Junge, der seine Muddi liebhat" (was ich, wäre ich Kim, als persönliche Beleidigung auffassen würde). So hat man die Welt gesehen, als Cora Stephan selbst, äh, ein solcher kleiner Junge war, nämlich vor siebzig Jahren. Da ging es noch ums hemdsärmelige Durchsetzen oder Kuschen, auch in der Literatur. Heute nicht mehr.


    Ja. Menschen, die nonbinär oder trans oder vergleichbar unterwegs sind, ob nun tatsächlich oder nur behauptet, bekommen derzeit Aufmerksamkeit in einem Maß, das sicher für viele nicht leicht auszuhalten ist, und das fraglos in einem etwas bizarren Verhältnis zur Größenordnung des Phänomens steht. Aber derlei auszuhalten, ist auch eine Kunst, und zwar eine, mit der man sich guten Gewissens schmücken kann. Einfach mal versuchen!

  • Wow, da ist aber mal eine bitter drauf.


    Ich finde das etwas entlarvend, wie das Publikum da bei der Preisverleihung im Saal saß. Gesang. Wie jetzt? Stille. Ok … Soll man das jetzt beklatschen …? Ja, machen wir mal … mit. Dann steht auch noch eine auf! Sollen wir das jetzt einer Standing Ovation wert befinden …?! Doch, wird schon. - Wenn das mal keine kollektive Überforderung war!

  • Zitat

    und so bitter Frau Stephan das auch finden mag

    Hast Du das aus dem Text herausgelesen? Diese Bitterkeit ist mir entgangen. Ich habe eher ein zugekniffenes Auge herausgelesen und eine Kritiik an der Buchwelt, die sich aber auf alle Zeiten/Generationen bezog: " So sind sie, die Leute von der Literatur. Immer auf der richtigen Seite oder wenigstens auf der, die gerade angesagt ist." Lies mal den Text neu unter der Prämisse dieses einen Satzes. Ich glaube, dann merkst Du, dass der Artikel kein Schlag gegen neue Zeiten sein soll;)

  • Schon die Gleichstellung von "Verruchtheit" und uneindeutiger geschlechtlicher Identität ist durchaus herablassend und klingt nach einiger Bitterkeit. Ein zulässiger Standpunkt, fraglos*, und immer noch ungefähr dreimilliardenmal fortschrittlicher als alles, was die KathKir so raustut, aber wenn man die Perspektive wechselt, und die Unterstellung beiseitelegt, das Nonbinäre wäre nur eine Behauptung, ein Trend, möglicherweise sogar pathologisch, mindestens aber etwas wie ein vorübergehendes Hirngespinst (was angesichts der Tatsache, dass Kim de l'Horizon nach eigenen Angaben zehn Jahre an "Blutbuch" gearbeitet hat, schwer zu halten ist), fühlt es sich ganz anders an.


    *Es ist okay, so zu denken und das auch zu erklären. Das gerät derzeit ins Hintertreffen, in Vergessenheit: Dass alle Standpunkte zulässig sind. Dass sie gehört werden dürfen, gehört werden müssen. Was zugleich aber eben einschließt, dass man auf sie reagieren darf. Übrigens auch auf die, die nach derzeitiger politisch-soziologischer Gemütslage aus automatisch gut angenommen werden.

  • aber bezieht sich der Vergleich "verrucht" nicht auf "Zumal es nur am Rande um Bücher ging, sondern vor allem um Tratsch, Klatsch und Alkohol – besonders beliebt deshalb alle Verlagsbutzen, wo man zum Umtrunk lud."

    und

    "Gesoffen wurde reichlich .."?


    Ich verstehe Euren Unmut. Denn das "neue Verruchtsein" als Prädikat nun ausgerechnet auf Kim de l`Horizon zu legen, kann durchaus geschmacklos und unangebracht wirken, während das frühere "Verruchtsein" doch eher sehr allgemein gehalten ist und damit keine einzelne Gruppe vor den Kopf stößt.

    Nur eben jene behauptete Bitterkeit, die kann ich nicht im Text erkennen. Die Herablassung, die Petra aus dem Text herausliest, dann schon viel eher.

  • Bin gespannt, ob jemand in diesem Forum eine Renzension des Blutbuchs veröffentlicht. Ich sicher nicht, mir fehlt bereits nach wenigen Leseproben die Lust dazu. Wenn das die Zukunft deutscher Literatur ist, dann lese ich lieber deren Vergangenheit.

    Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt!

    (Mohamdas Karamchand Gandhi)

  • "Blutbuch" ist ein Briefroman, das ist keine neue Erfindung, selbst mit nur einem einzigen Brief auf Romanlänge. Auch die Form der intertextuellen Collage (wie Plagi-Hegemann das nannte) oder der namenlose Erzähler oder fremdsprachige Versatzstücke usw. usf. sind nicht neu, und das ist auch nicht der erste Roman, der weitgehend konsequent gegendert ist (und in diesem Zusammenhang mit zwei, drei Neologismen daherkommt). Es ist nicht einmal der erste Roman aus der Feder und/oder Perspektive einer Person, die sich selbst als nonbinär bezeichnet. Die Leute, die "Hurra, das ist die Zukunft der Literatur!" rufen, schießen ein, zwei Meter übers Ziel hinaus, aber ich kann ihre Begeisterung zumindest nachvollziehen. Ja, das ist eine Preisvergabe gewesen, die nicht in erster Linie mit literarischen Maßen zu messen ist. Das ist aber auch nicht neu, und mir ist so ein Buch als Preisträger tausendmal lieber als die wirklich stinklangweilige Grütze von Kirchhoff, die vor ein paar Jahren gewonnen hat, oder das nicht minder quälende Zeug von Ursula Krechel (ich krieg noch heute Staub in den Augen, wenn ich an diese verschenkte Lesezeit zurückdenke!). Nicht zu vergessen das quasi unlesbare "Annette, ein Heldinnenepos" (HEILIGE SCHEISSE!) oder Strubels aus guten Gründen schnell wieder vergessene "Blaue Frau" vom vergangenen Jahr. Überhaupt ist allen DBP-Gewinner*_:_*innen gemein, dass sie kurz an einem heißen Strohfeuer sitzen durften und dann mit ihrem Preisgeld zurück in die Kälte der Literaturlandschaft entlassen wurden. Davon abgesehen ist der Deutsche Buchpreis das, was er ist. Ein Literaturpreis von vielen, genauso subjektiv und menschlich und fehlerbehaftet und beliebig und beabsichtigt und diskussionswürdig wie alle anderen auch. Aber es ist schön, mal wieder kurz was zum Reden zu haben.


    Wirklich bemerkenswert ist in diesem Jahr vor allem die Reaktion der Weitrechten, aber auch das ist eigentlich vorhersehbar und nicht sehr überraschend.


    Ja, ich lese es, irgendwann im Dezember, wenn das Strohfeuer nicht mehr knistert.

  • Aber es ist schön, mal wieder kurz was zum Reden zu haben.

    Genau deshalb habe ich diesen Link gesetzt. Zur Anregung einer Diskussion. :)

    War vor wenigen Minuten in einer gut sortierten Buchhandlung. Das Blutbuch ist derzeit nicht lieferbar, hieß es. Angeblich kommt es noch im Oktober. Der Verlag muss erst nachdrucken ...

    Edit: Bei Amazon ist es jedenfalls erhältlich, wie ich grade sehen konnte.

    Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt!

    (Mohamdas Karamchand Gandhi)

  • Ja. Menschen, die nonbinär oder trans oder vergleichbar unterwegs sind, ob nun tatsächlich oder nur behauptet, bekommen derzeit Aufmerksamkeit in einem Maß, das sicher für viele nicht leicht auszuhalten ist, und das fraglos in einem etwas bizarren Verhältnis zur Größenordnung des Phänomens steht.

    Ja, genau daran reibe auch ich mich.


    Jeder soll, wie er oder sie will, kann und muss. Wir leben im Jahr 2022 und da haben wir weiß Gott andere Probleme als uns auch weiterhin den Luxus erlauben zu können, Diskussionen von vorgestern Beachtung zu schenken, zum Beispiel der Diskussion darüber, wie viel Anderssein es denn nun sein darf. Alles darf! Nichts muss! Genau.

    Aber angesichts der medialen Omnipräsenz einiger Gruppen und ihrer Anliegen frage ich mich dann doch, ob die Aufmerksamkeit, die diese Gruppen beanspruchen und auch erhalten, nicht eher einer geschickten Lobbyarbeit und einer erstklassigen Vernetzung geschuldet sind als einer tatsächlich alle anderen Anliegen weit überragenden Dringlichkeit.


    Und wenn Cora Stephan schreibt Und das Buch? Ach ja, das Buch. Schwänze kommen drin vor. Und Sternchen! Und penetrierte Ärsche! dann rührt sie damit an einen Punkt, der auch mich schon seit langem beschäftigt. Woher kommt diese Fixierung auf Geschlechtliches und Sexuelles? Sind wir mehrheitlich in der Pubertät steckengeblieben? In unserer Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung zu eingeschränkt? Oder einfach nur zu faul, um uns mit der ganzen Komplexität des Menschseins und zwischenmenschlicher Beziehungen auseinanderzusetzen und beschränken uns deshalb auf das, was unmittelbar an der Oberfläche sichtbar ist oder auf dieser mit dem Hinweis Achtung: besonders wichtig! plakatiert wird: geschlechtliche Identität, Hautfarbe, Religion.

    Dabei wäre ich in diesem Punkt sehr einfach zu beruhigen: Der nächste Deutsche Buchpreis oder ein Preis vergleichbaren Kalibers geht an eine(n) bekennende(n) asexuelle(n), atheistische(n) Autor(in) mit Kartoffelhintergrund. Oder ohne Kartoffelhintergrund. Egal. :)


    Wer sein Besonderssein für so besonders besonders hält, dass er oder sie dieses Besonderssein für eine übergeordnete Qualität der eigenen Identität hält, grenzt sich ab, propagiert in einem Akt der Selbstüberhöhung das Primat des Unterschieds auf Kosten des Gemeinsamen. Das gilt im Besonderen für Künstlerinnen und Künstler, die ausschließlich oder überwiegend sich selbst zum Gegenstand ihres Schaffens machen. Nun denn ... An dem Punkt wäre es vielleicht hilfreich, einmal vom Spiegel wegzutreten und stattdessen aus dem Fenster zu schauen. Auf diese unsäglichen Inszenierungen und Selbstinszenierungen zu verzichten, und stattdessen wieder das Werk anstelle des Künstlers in den Fokus zu rücken. Sich immer wieder mal ins Gedächtnis zu rufen, dass sich die detailreiche Erinnerung an die Person eines Künstlers und das Mindesthaltbarkeitsdatum seiner Werke in der Regel gegenproportional zueinander verhalten.


    Standing Ovations. Dafür, dass jemand sich die Wolle vom Kopf schert. Grundgütiger!

    Worum ging es eigentlich nochmal? Ach ja, richtig. Um Literatur geht es. Der Deutsche Buchpreis.


    Aber vermutlich bin ich zu naiv. Oder einfach nur zu doof, um dieses Geschäftsmodell zu kapieren.

    Also. Morgen kommt der Lindner-Habeck-Dreitagebart ab.


    Herzliche Grüße


    Jürgen

  • Ich habe mir mal gerade die Leseprobe gegönnt und muss sagen: Der Text ist schon beeindruckend :anbet


    Zitat

    Wer sein Besonderssein für so besonders besonders hält, dass er oder sie dieses Besonderssein für eine übergeordnete Qualität der eigenen Identität hält, grenzt sich ab, propagiert in einem Akt der Selbstüberhöhung das Primat des Unterschieds auf Kosten des Gemeinsamen. Das gilt im Besonderen für Künstlerinnen und Künstler, die ausschließlich oder überwiegend sich selbst zum Gegenstand ihres Schaffens machen. Nun denn ... An dem Punkt wäre es vielleicht hilfreich, einmal vom Spiegel wegzutreten und stattdessen aus dem Fenster zu schauen. Auf diese unsäglichen Inszenierungen und Selbstinszenierungen zu verzichten, und stattdessen wieder das Werk anstelle des Künstlers in den Fokus zu rücken. Sich immer wieder mal ins Gedächtnis zu rufen, dass sich die detailreiche Erinnerung an die Person eines Künstlers und das Mindesthaltbarkeitsdatum seiner Werke in der Regel gegenproportional zueinander verhalten.

    Ich persönlich finde, dass in dem Text (Leseprobe) schon eine Menge mehr steckt als Selbstinszenierung. Ich weiß nicht, ob ich mir das ganze Buch antun werde (ganz schön anstrengend). Aber dennoch: Ja, es IST Literatur und nicht die schlechteste.

  • Aber vermutlich bin ich zu naiv.

    Möglich.


    In dieser Republik war Homosexualität bis vor noch gar nicht so langer Zeit strafbar und danach noch jahre- und jahrzehntelang weitgehend geächtet. Wir erleben eine starke Gegenbewegung, eine Befreiung. Das mag manchmal bizarre Züge annehmen und die Realität stark verfälschen - immerhin soll es Kleinstädte geben, in denen nicht eine einzige Person transsexuell oder nonbinär ist -, aber so ist das bei solchen Bewegungen. Man kann sie auch als positive Option einer freien Gesellschaft wahrnehmen. Und muss sich nicht daran reiben. Niemandem wird verboten, ganz profan hetero zu bleiben und einander in der Missionarsstellung zu poppen, bis einer schreit. Oder eine.


    Edit: Viele Menschen empfinden ein diffus-unangenehmes Gefühl („reiben sich“), weil sie sich der Mehrheit, sogar der überwältigenden Mehrheit angehörig fühlen, ohne zugleich und jederzeit das Meinungsbild (mit) zu beherrschen. Mir geht das auch manchmal so. Aber man kann lernen, damit umzugehen. Schöner Nebeneffekt: Man wird auch noch ein besserer Mensch.


    Editedit: Ja, es geht in vielen Bereichen inzwischen auch darum, dass Partikularinteressen Universalinteressen ganz klar dominieren. Das Sternchen beim Gendern oder Stellenausschreibungen „m/w/d“ suggerieren, dass diverse Geschlechtlichkeit eine Rolle spielt, die sie tatsächlich nicht hat. Es ist eine Ausnahme, ein vergleichsweise seltenes Phänomen. Ich kann nachvollziehen, wenn z.B. das abgelehnt wird. Das kann es auch nicht sein. Es ist unmöglich, es allen recht zu machen, alle jederzeit zu berücksichtigen, zu nennen. Aber man kann es verlangen. Das ist immer zulässig.

  • Da hat eine Person einen Roman geschrieben. Über Dinge, die ihr offenbar wichtig sind. Das scheint ihr irgendwie ganz gut gelungen zu sein, jedenfalls hat das Werk schon zwei Preise eingefahren. Oder passiert das grundsätzlich, wenn etwas den Zeitgeist erfüllt? Sonst könnten wir uns ja an diesen Zug anhängen. Nein?


    Nun hätte „man“ den Preis auch in Jeans und T-Shirt abholen können statt im Glitzerrock. Und hätte so keinen Shitstorm eingefahren - Bilder machen‘s, nicht Text! Das Buch liest eh keiner von denen, die in Social Media am lautesten schreien.

    Hätte, hätte, muss aber nicht.

  • Ich habe mir mal gerade die Leseprobe gegönnt und muss sagen: Der Text ist schon beeindruckend :anbet

    Ich persönlich finde, dass in dem Text (Leseprobe) schon eine Menge mehr steckt als Selbstinszenierung. Ich weiß nicht, ob ich mir das ganze Buch antun werde (ganz schön anstrengend). Aber dennoch: Ja, es IST Literatur und nicht die schlechteste.

    Ich stimme dir ohne Einschränkung zu, auch der Tatsache, dass ich mir dennoch das ganze Buch vermutlich nicht antun werde. Aber in meinen Beiträgen in diesem Thread geht es mir auch nicht um dieses eine Buch, sondern ich habe Cora Stephans Text zum Anlass genommen, meine Verwunderung über die doch sehr unterschiedliche Wahrnehmung von Gruppen zu formulieren, deren Mitglieder regelmäßig Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden und stelle die Frage, warum diese Wahrnehmung und das damit korrelierende mediale Echo so unterschiedlich ausfällt.

    Schöner Nebeneffekt: Man wird auch noch ein besserer Mensch.

    Im Sinne welcher Definition? Oder vielmehr: Wessen Definition?

    Niemandem wird verboten, ganz profan hetero zu bleiben und einander in der Missionarsstellung zu poppen, bis einer schreit. Oder eine.

    Mist aber auch. Weil, ich hab immer geglaubt, hetero und Missionarsstellung wären Synonyme füreinander. Und jetzt deutest du an, dass auch Heteros ... :schmoll


    Es ist unmöglich, es allen recht zu machen, alle jederzeit zu berücksichtigen, zu nennen. Aber man kann es verlangen. Das ist immer zulässig.

    Darum geht es mir. Die Disparitäten zu benennen, die hinsichtlich der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und der medialen Präsenz von Gruppen und Individuen bestehen, die allesamt Opfer von Diskriminierung werden. Ob jemand aufgrund schlimmsten Mobbings in den Suizid getrieben wird oder jemand wegen seiner Hautfarbe oder seiner geschlechtlichen Identität Opfer von Gewalt und Diskriminierung wird, spielt aus Sicht des Opfers zunächst einmal keine Rolle. Das tut es aber offensichtlich sehr wohl in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und mehr noch hinsichtlich des medialen Echos, sobald es um die konkreten Anlässe von und die Gründe für Diskriminierung und Gewalt geht, so als würde unter diesem Aspekt eine Rangordnung der Diskriminierung existieren, so als könnte eine solche Rangordnung existieren. Und doch sind einige offensichtlich gleicher als gleich. Das kann es auch nicht sein. In der Tat.


    Wie oft wird zum Beispiel die unfassbare Gewalt gegen behinderte Frauen thematisiert? Die Gewalt gegen Frauen überhaupt, die mit 50,7% der Gesamtbevölkerung im Jahre 2020 immerhin die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland stellten, von denen im gleichen Jahr 139 Opfer eines Femizids wurden, mithin eine Frau jeden dritten Tag. In den Jahren 2015 bis 2018 waren es sogar mehr als eine Frau pro Tag, die nur aus dem einen Grund getötet wurde, weil sie eine Frau war. Und ich rede nur von Deutschland, nicht von Lateinamerika und den Karibikinseln oder dem aktuellen Iran.


    Sendezeit und Redezeit sind begrenzte Ressourcen, desgleichen die Aufmerksamkeitsspannen der Zuschauerinnen, Zuschauer und Leser. Ich merke das ja auch an mir selbst, dass ich angesichts von Klimakatastrophe, Ukrainekrieg, Pandemie, Hunger, Folter und Vertreibung immer öfter in einen Zustand der Überforderung gerate, in dem ich mir mittlerweile ganz genau überlegen muss, wie viel Zeit und Energie ich einem bestimmten Irrsinn widmen kann und wie viel dann noch für alles andere und vor allen Dingen wie viel davon zuletzt noch für konkretes Handeln übrig bleibt.


    So wie mir geht es zweifellos vielen anderen Menschen und weil das so ist, halte ich es für gerechtfertigt, eine Art von Verhältnismäßigkeit anzumahnen, was die Aufmerksamkeit sowie die mediale Präsenz und die Gelegenheit zur (Selbst)Darstellung einer jeden Gruppe betrifft, die unverhältnismäßig oft Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt ist, und dass diese Verhältnismäßigkeit auch die Anzahl der Individuen spiegelt, die sich einer solchen Gruppe zugehörig fühlen.


    Herzliche Grüße


    Jürgen

  • Äh.


    Es geht bei dieser Bewegung vom vermeintlichen Rand in die Mitte der Gesellschaft nicht "nur" um Diskriminierung, um Gewalt und um die Thematisierung von vergleichbaren Missständen. Das ist nicht vergleichbar mit Diskussionen über häusliche Gewalt gegen Frauen o.ä. Es geht hier um die Verbreiterung der normativen Basis für alle. Es geht, so bescheuert ich das Wort auch finde, letztlich um Inklusion. Darum, LGBTQABCDXYZ++ nicht mehr als Randerscheinungen, als exotisch, als nur duldungspotent wahrzunehmen, sondern als integral. Es geht darum, kategorisches Denken aufzubrechen und Tellerränder zu beseitigen. Damit das passieren kann, schwappen die Wellen derzeit etwas höher als die dazugehörige Wasserkraft eigentlich zuließe.


    Es ist fast jedem populären Thema zueigen, dass es - meistens vorübergehend - andere Themen in den Hintergrund drängt, denen es nicht gelingt, auch gerade ähnlich populär zu sein. Wir thematisieren eine halbe Milliarde Sachen nicht (andauernd), obwohl dringender Gesprächsbedarf besteht, vor allem aus Sicht der Betroffenen bzw. der Problemfelder. Aber unsere Kapazitäten sind im direkten Wortsinn begrenzt. Wir reden jetzt schon kaum noch über Corona, obwohl das ein fast-populäres, weltbeherrschendes Thema ist und derzeit mehr Leute daran sterben als vor einem Jahr. Wir bekommen das nicht hin, weil wir gerade viel über den Krieg reden.

  • Zitat Jürgen:

    So wie mir geht es zweifellos vielen anderen Menschen und weil das so ist, halte ich es für gerechtfertigt, eine Art von Verhältnismäßigkeit anzumahnen, was die Aufmerksamkeit sowie die mediale Präsenz und die Gelegenheit zur (Selbst)Darstellung einer jeden Gruppe betrifft, die unverhältnismäßig oft Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt ist, und dass diese Verhältnismäßigkeit auch die Anzahl der Individuen spiegelt, die sich einer solchen Gruppe zugehörig fühlen.

    Zitatende


    (Ich gehöre zur Gruppe derer, die am Smartphone ab und an zwei linke Hände haben, daher so zitiert.)


    Wie soll eine solche Verhältnismäßigkeit aussehen, frage ich mich da. Zudem noch, wo auch die Zahl der Betroffenen berücksichtigt werden soll? Wie viele Schubladen sollen da aufgemacht werden? Und berücksichtigen wir auch die Zeiten, in denen man nicht über die und die Gruppe gesprochen hat? Wird ihnen diese Null-Zeit dann etwa gutgeschrieben?


    Es geht, wenn Menschen, die aus einem bestimmten Grund ausgegrenzt werden, sichtbarer in Erscheinung treten, auch darum, die zu stärken, die sich nicht trauen, zu sich zu stehen. Da ist jemand wie Kim de l’Horizon ein Vorbild.

    Zudem kenne ich jetzt auch nicht so viele Romane, in denen dieses Thema nun besonders „breitgetreten“ wird. Anstatt daher zu sagen, fein, da hat jemand auf einem offenbar doch hohen künstlerischen, literarischen Niveau (setze ich jetzt einfach mal als gegeben voraus, obwohl sich daran natürlich auch wieder die Geister scheiden werden) etwas zu einem Thema vorgelegt, das es noch nicht allzu oft gibt, argumentierst Du, Jürgen: „Gibt es nicht Gruppen, über die man endlich auch mal reden sollte?“

    Ja, sollte man, zweifellos, bloß ist der Anlass im vorliegenden Fall ein anderer. Kann man das so wenig tolerieren, selbst nicht im Wissen darum, dass immerhin die vage Möglichkeit besteht, dass sich nächstes Jahr keiner mehr an Kim de l’Horizon erinnern wird werden können?