Anselm Neft: Späte Kinder

  • Du musst nicht bleiben, was Du geworden bist


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    Vorweg: Literarisch und sprachlich gehört „Späte Kinder“ zu meinen größten Lesegenüssen der letzten Monate oder sogar Jahre, und das, obwohl Anselm Neft u.v.a. mit der präzisen Lakonie einer Juli Zeh, der lässig-cleveren Sprachjonglage eines Helmut Krausser oder auch der ulkigen Präzision eines Gerhard Henschel konkurrieren muss. Mir ist lange kein Text untergekommen, der in so anspruchsvoller, kluger, sicherer und anschaulicher Weise das Verhalten, die Gedanken und die Gefühle seines Personals vermittelt. „Späte Kinder“ ist insofern handwerklich nahe an der Referenz, eine Erzählung von beeindruckender sprachlicher Stärke, und es ist ein Fest, sie zu lesen. Wohlgemerkt, literarisch und erzählerisch. Zu inhaltlichen Fragen später mehr.


    Sophia und Thomas sind Zwillinge, sie sind beide 46 Jahre alt. Sie sind vor allem Kinder eines Mannes, der als Jugendlicher aus Überzeugung zur Wehrmacht ging und später aus rein praktischen Erwägungen Chirurg wurde, und einer Frau, die sich diesem Mann, der bald zum gewalttätigen Alkoholiker wurde, weitgehend unterworfen hat, unterwerfen musste, weil sie keine Wahl hatte. Sophia wohnt mit ihrem nicht besonders innig geliebten Mann Marcel, der eine Kunstgalerie betreibt, und der gemeinsamen, sechs Jahre alten Tochter Julika, die wiederum im Vollbesitz von Sophias Herz ist, in Hamburg. Thomas, der Journalist und, genau wie der Vater, Alkoholiker ist, lebt in Berlin, hat sich vor kurzem von der liebe- und rücksichtsvollen Katrin getrennt, was Sophia noch nicht weiß, und sich der jungen, ambitionierten Rabea zugewandt. Was wiederum Thomas noch nicht weiß: Sophia hat terminalen Krebs und wird die nächsten neun Monate nicht überleben. Dieses Geheimnis trägt Sophia bislang ganz alleine, aber als sich die beiden im elterlichen Haus in Bonn treffen, weil das für den Verkauf geräumt werden muss, denn nach dem Vater ist jetzt auch die Mutter gestorben, offenbart sie es.

    Sophia und Thomas haben ein ganz besonders inniges Verhältnis, verspüren eine nahezu symbiotische Nähe zueinander, und reagieren sensibel auf den jeweils anderen. Als Thomas nun erfährt, dass er bald ohne Sophia auskommen muss, geht es für beide emotional ans Eingemachte, doch das ist nur die Ouvertüre. Der Roman begleitet das Geschwisterpaar bis zum unvermeidlichen Ende, insbesondere aber bei ihren Versuchen, sich gegenseitig zu stützen, die Dämonen der Vergangenheit auszutreiben, das Verhalten der Eltern zu erklären und zu verstehen und das eigene Leben konstruktiv zu hinterfragen, auch wenn oder gerade weil es bald enden wird. Für Sophia geht es vor allem darum, den Wert dieses Lebens zu ermitteln - Sophia, die immer die schönste war, der alles so leicht zu fallen schien, die aber von all dem, was daraus geworden ist, eigentlich nichts wollte, natürlich von Julika abgesehen. Thomas wiederum, der von seiner Wut und seinem Erklärungsdrang und seiner Unruhe getrieben wird, will verstehen, wie er so werden konnte, und was daraus ohne Sophia werden soll. Denn dort, wo er im Moment ist, kann er nicht bleiben.


    Was sich wie eine literarische Familienaufstellung anschleicht, entpuppt sich erst in der zweiten Hälfte als eine Art radikalfeministisches Statement. Anselm Neft verkauft das zunächst vergleichsweise subtil, aber genau genommen schließt er sich seiner eigenen Figur an, nämlich Thomas, der sozusagen das personifizierte Mansplaining ist. Auch Neft muss es unbedingt auserklären, muss Fragestellung, Diskurs und Konklusion vollständig liefern, muss das plakative „Weil Du ein Mann bist!“ aussprechen, das Erklärung, Anklage und widerspruchslose Begründung in einem ist - und zwar für fast alles, von Sophias Erkrankung abgesehen. Weil aber Neft selbst ein Mann ist, der so empathisch auch in die Rolle der sterbenden Schwester schlüpft, schwingt diese selbstverleugnerische Komponente zwischen Anbiederung und Satire, tut sich zumindest ein argumentatives Logikloch auf.


    Andererseits kann man diese Aspekte auch verlustfrei ignorieren oder eben nur zur Kenntnis nehmen. „Späte Kinder“ hat seine Stärken ohnehin anderswo, und die werden im ersten und dritten Teil furios ausgespielt. Dabei geht es um die Schatten der Kindheit, um Traumata, um Geschlechterrollen und tradierte Muster, insbesondere aber um die Gewissheit, dass niemand dazu verpflichtet ist, zu bleiben, zu was er (oder sie) geworden ist, und dass man sich selbst im Angesicht der größten Trauer nicht der Orientierungslosigkeit hingeben muss. Aber dieser überwiegend ganz großartige, liebenswürdige Roman ist ganz sicher kein Lebensratgeber, sondern eine exemplarische, starke, eindringliche, fantastisch erzählte Geschichte, die zu lesen ich nur von ganzem Herzen empfehlen kann.

    ASIN/ISBN: 3498002376