Stewart O'Nan: Ocean State

  • Achtzig Prozent


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    In Rhode Island, dem so genannten „Ocean State“ und zugleich kleinsten Bundesstaat der U.S. of A., gibt es entlang der Küste die noblen Strandhäuser der Reichen. Weiter im Hinterland, etwa im weniger pittoresken Ashaway, befinden sich die allmählich verfallenden Häuser derer, die es qua Geburt nicht so gut getroffen haben. Dazu gehört die Familie der Spätteenagerin Angel, die mit der Mutter und der jüngeren Schwester Marie in einem schäbigen Häuschen direkt gegenüber der vor Jahren stillgelegten Line & Twine-Fabrik lebt. Die dreizehn Jahre alte Marie, im Gegensatz zur großen Schwester still und weit weniger attraktiv, erzählt die Geschichte manchmal aus der Ich-Perspektive, aber O’Nan wechselt auch personal in die Mutter, in Angel – und in deren Kontrahentin Birdy, die eine Affäre mit Angels festem Freund Myles anfängt, dessen wohlhabende Eltern unter anderem eines der Strandhäuser besitzen. Diese Affäre wird Birdy das Leben kosten, wie wir gleich am Anfang des Romans erfahren. Wie es dazu kommt und welche Konsequenzen es haben wird, davon erzählt „Ocean State“.


    Der Text erinnert mich stark an einen von O’Nans früheren Romanen, nämlich an „Eine gute Ehefrau“, der von auswegloser Treue erzählt, vor allem aber von Ausweglosigkeit. Hier wie dort sind die Hauptfiguren in ein Schicksal hineingeboren, das wie zähes Baumharz an ihnen zu kleben scheint, bewirken die wenigen Stellschrauben, die sie bewegen können, kaum etwas, zeigt sich Lebensqualität höchstens im Klitzekleinen, und sei es in einem Stück Mikrowellenpizza. Hier wie dort geht es um einen nicht beabsichtigten Mord und die daraus entstehenden Konsequenzen vor allem für die Menschen in der zweiten Reihe des Geschehens – die Eltern, die Freunde und die Angehörigen. Es geht aber auch um Alkoholismus, um Vernachlässigung, um geplatzte kleine Träume, um den Versuch, einen Zipfel vom Glück zu erreichen, um Selbsttäuschung. Es geht um die Dummheit, die die Liebe bewirkt, und umgekehrt. Es geht ums Erwachsenwerden, was auch immer das eigentlich ist. In diesem Fall hauptsächlich die Erkenntnis, dass sich nichts ändern wird.


    Die Milieustudie, die im Zentrum steht, ist von hoher Dichte und Anschaulichkeit. O’Nan hält sich wie immer gekonnt zurück, überlässt das Feld vollständig seinen plastisch gezeichneten, lebensechten Figuren, die in ihr Unglück stolpern, weil das eben so ist. Aber anders als in „Eine gute Ehefrau“ oder in den Emily-Henry-Geschichten erdrücken die Detailfülle und erzählerische Präzision in diesem Buch einen Großteil der Emotionen, und das vergleichsweise hastige, gedrängte Ende wirkt dramaturgisch wie ein plötzlicher Sturz von der Klippe nach einer langen Wanderung. Ich habe das Gefühl, O’Nan hat sich hier ein früheres Projekt noch einmal vorgenommen und zu Ende geführt, was nur zu siebzig, achtzig Prozent gelungen ist. Ein achtzigprozentiger O’Nan lässt vieles von dem, was es sonst zu lesen gibt, immer noch weit hinter sich, aber der Meister kann es eigentlich besser.

    ASIN/ISBN: 3498002686