Was haltet ihr von Kapitelüberschriften?

  • Was der Titel sagt und aus aktuellem Anlass - Stört ihr euch an ihnen, überlest ihr sie einfach, regen sie euch zum Nachdenken an? Oder ist das abhängig von Genre, Text, Inhalt?


    Würde gern mal eure Meinungen und Erfahrungen als AutorInnen / LeserInnen dazu hören, weil ich da gerade vor einer Entscheidungsfrage stehe.


    Danke!

  • Kurz gesagt: Nichts. Ich halte Kapitelüberschriften nicht nur für überflüssig, sondern ich fühle mich durch sie auch gegängelt, so als wollten Autorin und Autor meine Aufmerksamkeit auf etwas nach ihrer Meinung besonders Wichtiges hinlenken. Das herauszufinden sollte aber jeder Leserin, sollte jedem Leser selbst überlassen bleiben, denke ich. Im schlimmsten Fall wirken Kapitelüberschriften wie ein Filter, durch den ich das Nachfolgende betrachte.

  • Ich merke manchmal, dass ich sie überlese, aber es gibt auch Bücher, in denen sie etwas wie Wegweiser, Interpretationshilfe und Leitfaden sind. Das ist wie mit jedem Stilmittel: Es sollte sinnvoll eingesetzt und nicht zum Selbstzweck werden. Von meinen eigenen Romanen hat die Hälfte (meist knappe) Kapitelüberschriften, die andere nur Kapitelnummern.

  • Danke für eure Meinungen, Erfahrungen und Einschätzungen.


    Ich selbst tendiere auch oft dazu, Kapitelüberschriften zu überlesen, nicht mal aus Absicht, sondern einfach, weil ich mich gleich auf den Text stürze.


    In diesem Fall sind es sehr kurze Überschriften (Bestimmter Artikel + Substantiv), die den Inhalt, denke ich, nicht unnötig spoilern und damit die Freude am Text nehmen.


    Natürlich habe ich mir auch was dabei gedacht - die Überschriften sind Stimmungsmacher, Lokalkolorit, Metapher, Thema usw. Wer sie überliest, wird nichts vermissen. Wer sie mitliest, wird nicht mehr gelenkt als durch alles andere, was der Text manipulativ tut, schließlich formuliere ich jedes Wort mit Intention. Wer das Buch irgendwann ein zweites Mal liest, wird vielleicht eher dahinter kommen, was sie bedeuten.


    Vielleicht denke ich aber auch zu komplex. Momentan würde ich sie behalten wollen, aber es gibt so viele kritische Stimmen, dass ich nun zweifle, ob mich mein Bauchgefühlt betrügt. Vor allem bin ich überrascht, wie viele Leser offenbar Kapitelüberschriften richtiggehend hassen (das tritt jetzt hier nicht so zutage, aber an anderen Stellen, wo ich gefragt habe, schon).

  • Hallo Silke ,


    es kommt drauf an, wie das verwendet wird. (Buch/KG)Titel und Kapitelüberschriften sind ja nicht auf Ebene der Geschichte bzw. des Erzählers, sondern auf Ebene des Autors. Wenn ein Werk metafiktionale Aspekte hat, sich der Autor selbst mit eigener Stimme kommentierend oder wertend einmischt wie eine körperlose, konkurrierende oder zusätzliche Erzählstimme, mag ich das gern. Dann wird man beim Lesen eben sehr stark auf das 'Gemachte', Konstruiert-Künstliche des Schreibens und Erzählens gestupst. Das mag ein schönes, ironisches Spiel sein.


    Hast du aber einen Erzähler, der wirklich dezidiert nicht der Autor selbst sein soll (also wie es konventionell ist: Unterscheidung Autor = außerhalb der Fiktion vs Erzähler = nur innerhalb der Fiktion), und soll die gesamte Geschichte nur vom Erzähler innerhalb der Fiktion getragen werden, wäre eine Kapitelüberschrift streng genommen sogar ein Formfehler. Dann mag ich es störend finden, weil ich den Eindruck bekomme, der Autor hat seine Erzählung / Erzählhaltung nicht ganz im Griff, oder es kegelt mich einfach aus der Stimmung. Z. B. hätte ich vielleicht das Gefühl, der Autor traut mir nix zu, gängelt mich.


    Ich hab schon beides gemacht: Kapitelüberschriften bei stark strukturellem / 'künstlichem' Aufbau, also bei Geschichten, die nicht verhehlen, gemachter Text zu sein; aber keine in Texten, die die Illusion von unmittelbar erlebter Geschichte schaffen sollen, wo der Leser am besten vergessen soll, dass er liest.


    Magst du vielleicht ein Beispiel posten? Also eine Überschrift mit ein paar Passagen nachfolgendem oder umstehendem Text? Dann könnte man leichter sehen, ob das fluppt.

  • Mir ist es glaube ich noch nie passiert, dass sie mich beim Lesen wirklich gestört haben. Im "schlimmsten" Fall sind sie mir einfach egal. Sowohl bei Büchern, als auch bei Serien finde ich es aber manchmal sogar interessant, herauszufinden, warum das Kapitel/die Episode so benannt wurde. Es gibt ja die typischen, zusammenfassenden Überschriften wie "Der Heimweg" oder "Im Kasino", die finde ich etwas langweilig und greifen manchmal sogar die Handlung voraus. Bei Krimis wäre das zum Beispiel unpassend. In Jugendbüchern habe ich das schon öfter gehabt, aber vielleicht ist es inzwischen auch aus der Mode gekommen.

    Ich benutze auch Kapitelüberschriften, wäre jetzt aber auch nicht böse, wenn mir ein Verlag etc. sagen würde, ich solle das lassen. Ohne ist man wahrscheinlich auf der sicheren Seite. :kratz2

  • Katla


    Vielen Dank für deinen überaus interessanten Einwurf. Ich schreibe lediglich Genreliteratur, mache mir da in der Hinsicht also weniger Gedanken, wie künstlerisch es ankommt. Es soll einfach nur unterhalten.


    Da ich nach gravierenden Zeit- und Ortssprüngen oft eine neue Orientierung voran stelle (im Sinne von Berlin, Juni 2022), breche ich wohl ganz offensichtlich nach deiner Einteilung die Perspektive und begehe - streng genommen - einen Formfehler? Ich glaube allerdings nicht, dass ich den Leser gängle.


    Ich bleibe dabei, mein Bauchgefühl sagt Ja, aber ich werde mich auch noch mal mit der Lektorin beraten. Meine anderen Geschichten schreien mir nicht so zu, dass sie sich Kapitelüberschriften wünschen. In diesem Fall scheint es mir passend.

  • Ich habe gerade einen Roman beendet, bei dem waren alle - teilweise sehr kurzen - Kapitel fast gleich überschrieben: Datum (die Handlung spielte an nur zwei Tagen), Ort (zwei oder drei), Location (meistens irgendein Flughafen) bzw. Flugnummer (es geht im Buch um eine Flugzeugentführung). Das aber relativ raumgreifend; fast eine Viertelseite wurde jeweils dafür verwendet. Dramaturgisch war die Kapiteleinteilung aber völlig überflüssig, war etwas in Kapitel zerhackt, das ohne Aufteilung mindestens genauso gut funktioniert hätte, und letztlich ging es insgesamt (nicht nur bei diesem Aspekt) ausschließlich um Raumgewinn. Tatsächlich musste man bei jeder Kapitelüberschrift ein bisschen rätseln, ob und was sich im Vergleich zur jeweils vorigen geändert hatte, und oft war das schlicht überhaupt nichts. Ich kam mir ein wenig veralbert vor, aber zum Glück war der Text selbst gut genug, um das halbwegs abzufedern.


    Andererseits. Kapitelüberschriften wie diese haben mich seinerzeit richtig glücklich gemacht:
    "30. APRIL/1. MAI, JAHR DER INKONTINTENZ-UNTERWÄSCHE"


    Das hieß nämlich, dass ich ein weiteres, äh, Kapitel dieses unfassbaren Monsters von einem genialen Buch (David Foster Wallace, "Unendlicher Spaß") geschafft hatte. Das nächste Kapitel hätte wieder einen ganz ähnlichen Titel, aber es wurde wichtig, an den Handlungstag erinnert zu werden, oder daran, welche Firma das Jahr gesponsert hatte, in dem sich dieser Tag befand. Diese Kapitelüberschriften waren wie modrige, aber hochwillkommene Berghütten am Rand eines irre anstrengenden Wanderwegs zu einem Gipfel, den man meistens nicht sehen konnte.


    Als Leser gehe ich aber meistens über die Kapitelüberschriften weg, es sei denn, sie spielen wesentliche Rollen (oder sind so unübersehbar wie beim o.g. Buch), das gibt es auch, oder/und sie liefern Orientierung, etwa darüber, aus wessen Perspektive erzählt wird. Allerdings sollte man Viellesern solche Fragen nicht stellen, wenn man selbst schreibend unterwegs ist, das ist einfach nicht hilfreich. Ich habe bei den "Büchereulen" schon ausufernde und höchst widersprüchliche Diskussionen über Randaspekte der Langtextgestaltung erlebt, und keine davon hätte irgendeiner Orientierung gedient. Es ist nämlich bei diesem Aspekt wie bei den meisten: Wir wissen eigentlich intuitiv, was gut und was richtig ist - und was nicht. Und es muss auch Bereiche geben, in denen wir uns ein bisschen austoben können, abseits der reinen Schreiberei. Dazu gehören diese Aspekte.

  • Sie sind die Vase für einen schönen Blumenstrauß.

    Schnittblumen, ja. Aber im Garten oder in einer schönen Landschaft braucht kein Mensch Vasen für die Blumen dort. Um mich mal als hauptamtlicher Metaphern-, Analogien- und Vergleichekiller zu betätigen. 8)


    Die wirklich rasant und amüsant erzählten "Scheibenwelt"-Romane des leider vor sieben Jahren verstorbenen Terry Pratchett ("Ich würde den Hintern eines toten Maulwurfs essen, wenn mir damit geholfen wäre", sagte er mal in Bezug auf seine Alzheimer-Erkrankung) kommen m.E. ohne Kapitelüberschriften aus (dafür sind sie mit Fußnoten nachgerade geflutet, jedenfalls die ersten zwei Dutzend Bücher), und es hätte den Texten auch geschadet, wenn da Dinge wie "Lord Vetinaris Rache" oder "Wie Mumm nach Ankh-Morpork kam" irgendwo in fetten Versalien gestanden hätten. Diese Erzählungen brauch(t)en keine Kapitelüberschriften, es hätte sie ausgebremst.


    Als Kind und auch noch als älterer Jugendlicher war eines meiner Lieblingsbücher "Das fliegende Klassenzimmer" von Erich Kästner. Ich habe das über mehrere Jahre regelmäßig in der Vorweihnachtszeit gelesen. Darin heißen die Kapitel "Das erste Kapitel", "Das zweite Kapitel" usw., aber ergänzt sind diese sehr formalen Kapitelüberschriften um eigenwillige Inhaltsangaben: "Das erste Kapitel enthält eine Fassadenkletterei; einige Tanzstundenjünglinge; den Primus, der kolossal wütend werden kann ..." (es geht über vier Zeilen weiter). Ich habe das sehr gemocht, nein, ich habe es geliebt. Ich hatte damals noch nicht die präzise Idee, selbst mal schriftstellerisch unterwegs zu sein, aber ich fand das großartig. Selbstverständlich würde ich es nicht nachahmen, und so etwas würde auch heutzutage keine Redaktion überstehen, aber es ist mir stark in Erinnerung geblieben. Das war die richtige Vase für die richtigen Blumen. ;)


    Irgendwo in den weiten Landschaften von Facebook hat gestern jemand gefragt, was der beste Autorentipp wäre, den man erhalten hätte. Irgendwer antwortete sofort "Show, don't tell", und dann folgten noch einige ähnliche, aber es läuft doch immer auf dasselbe hinaus. Wenn Du wie Modern Talking sein willst, dann lerne zwei Akkorde und wie man KORGs programmiert, schreib ultradämliche, aber eingängige Texte, leg Dich für ein paar Tage auf den Asitoaster und lass Dir die Haare wachsen (je nach Rolle allseits oder vokuhila). Wenn Du (hoffentlich) anders sein, aber Musik machen willst, dann mach es anders. Jeder Weg führt zu irgendeinem Ziel. Wir haben nicht alle dasselbe.

  • Ich produziere auch gerne Kapitelüberschriften. Das hilft mir selbst als Orientierung, glaube ich. Ich habe dann das Gefühl, in Sinnabschnitten zu arbeiten, in einzelnen Geschichten und das kommt mir sehr entgegen.


    Für einen richtig zusammenhängenden Langtext scheint mir das als Leser aber meist entbehrlich. Ich habe da auch Kinderbuchassoziationen - der Jim Knopf hat auch ausladende Überschriften "Erstes Kapitel, in dem die Geschichte anfängt." usw. Ich habe mich schon als Kind gefragt, was das soll (auch wenn ich Michale Ende immer verehrt habe). Das ist mir immer entbehrlich erschienen, im schlimmsten Fall spoilert dann die Überschrift den Inhalt.


    Manchmal frage ich mich bei aktuellen Büchern auch, ob man die Einteilung in Kapitel nicht einfach komplett weglassen könnte. Schließlich kann man am Ende eines Kapitels sowieso nicht aufhören zu lesen, weil da meist ein Cliffhanger kommt.

    “Life presents us with enough fucked up opportunities to be evaluated, graded, and all the rest. Don’t do that in your hobby. Don’t attach your self worth to that shit. Michael Seguin

  • Eine interessante Frage....


    Als Autor verwende ich fast immer Kapitelüberschriften. Ich bin da ein wenig altmodisch.

    Bei meinem ersten Roman hingegen hatte ich zunächst keine verwendet und sie erst nachträglich eingefügt, weil es mir typographisch hübscher erschien, wenn am Kapitelanfang nicht nur "Erstes Kapitel"oder eine schnöde Zahl steht.

    Beim Lesen vermisse ich sie nicht unbedingt, aber ich störe mich auch nicht daran, wenn welche vorhanden sind.

    Zweifellos haben sie einen praktischen Nutzen, denn wenn man in einem Buch, das man bereits gelesen hat, eine bestimte Stelle sucht, hilft es, wenn man anhand der Kapitelbezeichnung weiß, wo man suchen muß.

    Ein extremes Beispiel findet man zuweilen in alten Büchern aus dem 19. Jahrhundert, wo es mitunter durchaus Mode war, den Inhalt des Kapitels in mehreren vorangestellten Sätzen kurz zusammenzufassen, ohne jedoch zu viel zu verraten. Hierzu habe ich mich noch nicht hinreißen lassen, aber vielleicht schreibe ich eines Tages mal ein ganz altmodisches Buch und setze es in Fraktur...

    (Das ist der Vorteil, wenn man Selfpublisher ist: man kann auch exzentrische, völlig unkommerzielle Dinge tun, die kein kommerzieller Verleger einem durchgehen ließe.)