Kim Young-ha: Aufzeichnungen eines Serienmörders

  • Der 70-jährige Byongsu Kim lebt zusammen mit seiner Adoptivtochter in der südkoreanischen Provinz. Seinen Beruf als Tierarzt kann er nicht mehr ausüben, seit er die Diagnose Alzheimer erhalten hat. Eines Tages begegnet er einem jungen Mann, der in seinem Kofferraum einen toten Körper transportiert. Ein Stück Wild, behauptet er. Eine Frauenleiche, unterstellt Byongsu Kim. Ausgerechnet diesen jungen Mann stellt ihm die Tochter als ihren Freund und wenig später als ihren zukünftigen Mann vor. Byongsu Kim mobilisiert alle ihm noch verbliebenen, immer mehr schwindenden Kräfte. Er vergisst zunehmend Dinge, erkennt mitunter Personen nicht mehr. Auch die Erinnerung an das Gesicht des Mörders/zukünftigen Schwiegersohns entgleitet ihm immer aufs Neue, genauso wie das Bewusstsein über die Besuche eines Kommissars, der ungelösten alten Mordfällen auf der Spur ist. Mit Hilfe akribischer Aufzeichnungen stemmt er sich gegen die Bedrohung von außen und die in seinem Kopf. Er ist ein alter, kranker Mann, der seinen Verstand verliert, aber er wähnt sich ausgestattet mit einem besonderen Vorteil: Mit Serienmördern kennt er sich aus, denn er war selbst mal einer. Seine Opfer liegen verscharrt in einem nahen Bambuswäldchen. Nur ein schwerer Autounfall und eine daraus resultierende Kopfverletzung machten dem Morden ein Ende. Nun rüstet er sich für einen letzten Mord.


    Was ist echt und was eine Wahnvorstellung? Da der Roman von Kim Young-ha in der Ich-Perspektive erzählt wird, sind Zweifel ständig präsent: Was ist das für eine Geschichte? Bildet sich da einer vor dem Hintergrund einer neurodegenerativen Erkrankung alles nur ein? Und wenn ja, was? Dass der junge Mann ein Mörder ist? Dass er selbst einer ist? Beides? Nur eines davon? Nichts?


    Nachdem ich den auf dem Roman basierenden Film gesehen hatte, wollte ich auch den Roman lesen. Und der ist tatsächlich etwas Besonderes. Jeder Satz sitzt. Überflüssiges Blabla gibt es nicht. Das absurde Setting wird glaubhaft, schlüssig erzählt, obwohl Byongsu Kim ein unzuverlässiger Erzähler ist. Auch die Hörbuchfassung des Romans ist ein Gewinn. Am Ende hat man also die Wahl zwischen drei verschiedenen Umsetzungen eines Stoffes: gedruckt, verfilmt, vertont. Am Rande: Die Filmfassung unterscheidet sich entscheidend von der Romanvorlage.


    Der Roman läuft bei Amazon unter Krimis und hat Krimi-Preise gewonnen; ich sehe ihn da nur, weil das Spektrum des Krimi- und Thriller-Genres sehr weit geworden ist und Stoffe, in denen es um Mord geht, offenbar mit zwingender Logik bei den Krimis verortet werden. Für mich ist der Roman vor allem anderen ein Verwirrspiel, und eines, das zudem auch noch sehr gut geschrieben ist. Kritiker übertreffen sich gegenseitig mit Lob. Grandios, sei der Roman, brillant, ein Meisterwerk. Und sein Verfasser einer der talentiertesten Autoren seines Landes.


    Die deutsche Fassung ist erschienen im Cass Verlag, der sich ansonsten auf Übersetzungen japanischer Literatur spezialisiert hat: 152 Seiten, illustriert, mit Bedacht gestaltet – so soll es passend zu Byongsu Kims verblassenden Erinnerungen entsprechend gestaltete Seiten geben; ich selbst habe das Buch nicht in Händen gehalten, möchte diese Information aber nicht verschweigen, da es, zuzüglich zur wohl exzellenten Übersetzung, zeigt, mit wie viel Hingabe man beim Verlag an die Gestaltung dieses Buches gegangen ist. Auf der Startseite der Internetpräsenz des Verlags ist zudem ein Film über die Preisverleihung der Hotlist 2020 der unabhängigen Verlage eingebunden – Gewinner: Kim Young-ha: Aufzeichnungen eines Serienmörders.


    ASIN/ISBN: 3944751221