Fridolin Schley: Die Verteidigung

  • Zwischen 1947 und 1949 fand als einer der Nachfolgeprozesse des Nürnberger Hauptprozesses der sog. Wilhelmstraßen-, auch Ministerien-Prozess genannt, statt. Gegen die Hauptverantwortlichen waren direkt nach Kriegsende geurteilt worden, jetzt ging es um Verantwortliche aus der zweiten oder dritten Reihe. Es wurde gegen 21 Angeklagte u. a. wegen der Anklagepunkte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit prozessiert, darunter acht Angehörige des Auswärtigen Dienstes. Prominentester Angeklagter war Ernst von Weizsäcker (1882 – 1951). Sein Sohn Richard (1920 – 2015) begleitete den Prozess als einer seiner Verteidiger.

    Diese beiden Personen der Zeitgeschichte, Vater Diplomat in der Weimarer Republik und im sogenannten „Dritten Reich“, Sohn ein späterer Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, der als solcher 1985, vierzig Jahre nach Kriegsende, eine vielbeachtete Rede über die Verantwortung der Deutschen im Umgang mit der Vergangenheit hielt, sind auch auf dem Cover des Buches abgebildet: der Vater auf der Anklagebank, sein Sohn in Anwaltsrobe ihm zur Seite.


    Der Roman beginnt mit einer sehr dichten Beschreibung des Hauptschauplatzes. Schley nimmt den Leser mit in den Gerichtssaal. Den überlieferten Protokollen, Film- und Tonaufnahmen dieses Prozesses – Buchstaben auf Papier, Schwarz-Weiß-Bildern, verrauschten Tonmitschnitten – haucht Schley im wahrsten Sinne des Wortes Leben ein. Ankläger und Angeklagte, Verteidiger, Richter, Zeugen, Wachpersonal, Übersetzer, Journalisten … Die ganze Personnage, Haupt- und Nebendarsteller dieses historischen Prozesses, erwachen im Roman wieder zum Leben. Das ist genauso beeindruckend wie – jedenfalls ging es mir so – überwältigend. Ich habe das von Devid Striesow eingelesen Hörbuch gehört und war von der Informationsflut dieses Einstiegs zugegeben ge-, wenn nicht stellenweise überfordert.


    Ich sage „Roman“, und als solches wird das Buch auch vermarktet, man kann sich aber durchaus bei der Lektüre fragen, was für eine Art Roman das ist – traditionellen Handlungsmustern und Konstruktionen selbst bekannter Vertreter des Genres Gerichtsroman/Justiz-Thriller folgt „Die Verteidung“ nicht. Tatsächlich hat der Autor wohl anfangs nicht auf einen Roman hingeschrieben. Ich fühlte mich beim Lesen teils mehr bei einem Essay, dann wieder bei einem Sachbuch, dann aber auch tatsächlich bei einem Roman.


    Ich stelle mir die Arbeit an „Die Verteidigung“ – auch wenn der Autor wohl „nur“ zwei Jahre daran gearbeitet hat – als einen ungeheuren Kraftakt vor. Der Printausgabe ist ein reichhaltiges Quellenverzeichnis nachgestellt. Diese beiden Personen der Zeitgeschichte vor dem historischen Hintergrund zu zeigen und gleichzeitig eine Vater-Sohn-Geschichte zu erzählen, ist gelungen. Ebenso, diese Fülle der zeitgeschichtlich verbürgten (oder vermuteten oder behaupteten) Ereignisse und Personen in diesen erzählenden Kontext einzubringen – und damit aus historischen Ereignissen Literatur zu machen.

    Schley hat seine Vorgehensweise selbst so kommentiert: Er habe dem historischen Fall unbedingt gerecht werden wollen. Wo offene Fragen und Zweifel blieben, habe er den Stoff mit literarischen Mitteln behandelt und den authentischen Fall „literarisch in die Schwebe gehoben“, ihn „verunsichert“.

    So vermeidet er für mein Empfinden auch eine unangenehme, eher aufdringlich wirken müssende Innensicht, die letztendlich nur Behauptung, nur Anmaßung sein könnte. Wenn aus Personensicht erzählt wird, dann oft mit dem Zusatz: so könnte es gewesen sein, nicht, so war es. Trotzdem schimmert da und dort die Haltung des Verfassers durch – was womöglich ein Balanceakt für sich gewesen sein könnte.

    Wie da im Nachkriegsdeutschland um Dinge wie Schuld und Verantwortung gestritten und gerungen wird, und wie das Echo in der großen Öffentlichkeit war, das lässt tief blicken. Es legt auch Diskrepanzen bloß, blinde Flecken, im Politiker Richard von Weizsäcker einerseits und dem Sohn Ernst von Weizsäckers andererseits – nicht als reißerischer Akt, sondern als stille, durchaus vielsagende Gegenüberstellung.

    „Die Verteidigung“ vermittelt eine Fülle von Informationen, ist dabei aber nichts, was man zwischendurch so eben mal wegliest – was ja nicht verkehrt ist, man sollte sich nur darauf einstellen.


    Fridolin Schley wurde 1978 in München geboren. 2007 war er einer der Bewerber um den Bachmann-Preis. Er ist Träger zahlreicher Auszeichnungen, Stipendien und Förderpreise. „Die Verteidigung“ ist sein zweiter (veröffentlichter) Roman.


    ASIN/ISBN: 3446265929