Ein Abbild der Gesellschaft

  • Ich habe vor Kurzem die Serie „Nine perfect strangers“ gesehen, fand sie nicht besonders, und überlege jetzt, ob ich die Romanvorlage („Neun Fremde“ von Liane Moriarty) lesen soll. Ja, richtig, die Serie hat mir nicht sonderlich gefallen (die Story hat mich durch verschiedene geschickt platzierte Spannungselemente bei der Stange gehalten, letztendlich löst sich aber zu viel quasi in Luft auf, entpuppt sich als bloßes Mittel zum Zweck), aber jetzt wüsste ich trotzdem gerne, ob die Charaktere in der Buchvorlage so sind wie in der filmischen Umsetzung.


    In der (amerikanischen) Serie „Nine perfect strangers“ kommen – ach! – neun Personen nach Tranquillum, einem hyperschicken Wellness-Eso-Resort, betrieben von Masha, die mit russischem Akzent und in weißen Roben einen halb durchgeknallten und halb mysthisch-vergeistigten Eindruck macht. Tranquillum ist nicht nur superschick und superteuer, sondern auch noch supergeheimnisvoll – niemand kann sich einfach so dort einkaufen, alle Gäste werden von Masha eigens auserwählt. Diesmal hat sie es mit einer Gruppe zu tun, die mit ausgesprochen viel seelischem Ballast anreist: Da ist die Schriftstellerin Frances, deren letzter Liebesroman nicht nur gefloppt ist, sondern die sich zu allem Übel auch noch von einer Art Lover Boy hat abzocken lassen, die Familie Marconi, die um den verstorbenen Sohn/Bruder trauert, ein ehemaliger Football-Held mit einem Tablettenproblem, das junge Ehepaar Jessica und Ben, sie Influencerin, er Lotteriegewinner, ein Enthüllungsjournalist, der an der Trennung von seinem Partner leidet, weil er dessen Kinderwunsch nicht mittragen wollte, und Carmel, die von ihrem Mann verlassen wurde.

    Die Rollen der Besucher und des Betreuer-Teams werden von Schauspielern verschiedener Ethnien dargestellt, die Figuren haben unterschiedliche sexuelle Orientierungen. Das an sich wäre nicht weiter erwähnenswert. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der das Gegenteil der Fall, und wiederum das so „normal“ war, dass sich wohl wenige Leute darum Gedanken gemacht haben: Das Zielpublikum war weiß, die Produzenten waren weiß, also war der Stab weiß. Selbst eine historische Figur wie Kleopatra wurde von einer Schauspielerin wie Elizabeth Taylor dargestellt. Man drehte eine Geschichte für die „Mehrheit“, also hatten in der Regel auch alle Rollen eine heterosexuelle Orientierung. Wenn man das nicht tat, war das ausdrücklich die Ausnahme, man produzierte mit einem gewissen Risiko, dass sich „die Mehrheit“ dafür nicht interessierte, z. B. einen Film wie „Rate mal, wer zum Essen kommt“, in dem die Tochter des Hauses ihrer Familie einen dunkelhäutigen Mann als ihren Zukünftigen vorstellt. Jahrzehnte später gab es dann z. B. Filme, die „die Ausnahme“ eindeutig ins Zentrum stellten, und meistens waren das Dramen, die ein Problem in den Mittelpunkt stellten. Homosexualität im Fernsehen kam dann z. B. in Form der Serienformate „Queer als folk“ oder „The l-word“ vor. Wieder später kamen Serien wie „Transparent“ auf. Die Ausnahme stand im Mittelpunkt.

    In „Nine perfect strangers“ nun wird eine Abweichung von „der Norm“ nicht als Ausnahmeerscheinung behandelt, schon gar nicht als Stein des Anstoßes, sondern eine Figur ist ganz selbstverständlich z. B. schwul, sozusagen nebenbei. Eigentlich ist vollkommen egal, ob dieser Reporter homosexuell oder heterosexuell ist. Dass das so ist, ist zweifelsohne ein Fortschritt, finde ich. Aber:


    Dieses Bild, das da wie selbstverständlich gezeigt wird: Wie sehr stimmt das mit der Realität überein? Es gibt – abgesehen vom Mystery-Element dieser Serie – diese weltoffene, moderne, liberale Gesellschaft selbstverständlich. Auf der anderen Seite denke ich an ein Amerika, das in weiten Teilen noch genauso tickt wie 1967, dem Jahr, in dem „Rate mal, wer zum Essen kommt“ in die Kinos kam. Während also in Serien (Filmen, Büchern …) – in der besten aller Absichten – von einer sehr einseitigen Darstellung der Gesellschaft abgerückt wird … kommt das auch ein bisschen wie ein Märchen daher.

    Nicht?

  • Wenn man sich aktuelle Reklame im Fernsehen oder Youtube anschaut, könnte man den Eindruck gewinnen, Deutschland läge in Afrika. :rolleyes: (Eigenartiger Weise sieht man aber so gut wie nie Asiaten.)

    Wenn also nicht die Realität abgebildet wird, was dann, und vor allem warum?

    Und wieso machen Firmen bei so einer kollektiven Gehirnwäsche mit, wo ihr eigentliches Interesse und Zweck doch darin besteht, Produkte zu verkaufen (und zwar an die Mehrheit)? ?( Und wer koordiniert das alles? Eine unsichtbare Hand im Schatten oder ist alles reiner Zufall?

    Wir leben wahrlich in interessanten Zeiten...

  • Mein erster Gedanke war, als ich @Petras Beitrag gelesen hatte, auch: Fernsehwerbung!


    Über Weihnachten haben wir uns zu Hause einen Scherz daraus gemacht, jedes Mal zu brüllen, wenn ein "Quoten-Afro" in einem Werbeclip auftauchte. Nicht, dass wir ein Problem mit Schwarzen in der Werbung haben, oder mit Diversität. Das ist toll und richtig. Unsere Gesellschaft ist nicht nur weiß. Aber: Sie besteht auch nicht aus 40% Schwarzen mit Afro-Haarschnitt.


    Was hier betrieben wird, ist das Ausschwingen des Pendels in die falsche Richtung. Ja, wir brauchen auf dem Bildschirm mehr Vielfalt, die auch die vielfältige Realität der heutigen Gesellschaft darstellt. Wir brauchen vielleicht auch eine Vorreiterrolle (wo wir wieder bei Petra wären), die uns die Normalität dieser neuen Wirklichkeit vor Augen führt.


    Doch was die Werbefuzzis irgendwie vergessen haben: Wir sind hier nicht in den USA. Wo sind die vielen türkischen Mitbürger, die Italiener, Griechen, Syrer, Vietnamesen usw., die ich hier tagtäglich auf der Straße sehe? Warum sind sie nicht unsere Werbefiguren? Ich befürchte, die bittere Wahrheit ist die: Sie sind nicht cool genug. Und hier ist das eigentliche Problem: Wir sind mit der Diversität noch keinen Schritt weiter, es funktioniert noch nicht mal als Werbemechanismus, denn die Werbeleute scheinen sich zu fürchten, dass ein Produkt nicht angenommen wird, wenn es "Aisha aus Neukölln" bewirbt. Und das ist echt traurig.


    Ähnliches ist auch im Bereich LGBTQIA+ zu beobachten. Jeder gefühlt fünfte Clip hat nun ein schwules Pärchen. Das ist total schön und ok so, finde ich. Aber es ist zu viel. Und diese Übersteigerung führt die ganze Sache wieder ad absurdum. Es gibt momentan nur einen Werbespot, wo ich das gelungen umgesetzt finde: eine Teewerbung mit zwei Frauen. Denen habe ich es echt abgekauft. Alles andere ist meist ein Zusammenschnitt verschiedener Lebensrealitäten, und da kommt dann auch IMMER das schwule Pärchen mit vor. Und das ist dann wieder Diversität auf alle Kosten.


    Ich denke, ich weiß, was hier passiert. Ein, zwei große Werbeagenturen in Deutschland setzen sich mit ihren Klienten an einen großen Tisch und erzählen ihnen was von Diversität und Weltoffenheit. Und weil die Firmen Angst davor haben, abgehängt zu werden, nicht als cool und weltoffen zu gelten, nicht die junge Käuferschaft anzusprechen, usw. willigen sie ein und vergessen dabei, dass das, was sie da als Idee einkaufen, eigentlich ein Kunstbild ist, das die eigentliche Aussage nicht nur verwässert, sondern kaputt macht.


    Mit dem Casting von andersfarbigen Schauspielern in historischen Rollen habe ich persönlich echt starke Probleme. Man denke da an den Duke in Bridgeton (was ich weder gelesen noch gesehen habe). Das kann ich nicht nachvollziehen, und ich werde auch wohl niemals so farbenblind werden können. Im Fantasybereich hingegen finde ich es total toll und liebe die Möglichkeiten. Andersherum natürlich genauso: Jesus sollte nicht aussehen wie ein Ire, und Cleopatra nicht wie eine Amerikanerin. Und Scarlett Johansen ist nun mal nicht japanisch. Da finde ich es extrem schade, wenn talentierten Schauspielern die Rollen weggenommen werden, obwohl sie optisch viel besser reinpassen würden. Und: Sollten zwei heterosexuelle Männer zwei schwule Cowboys spielen und dafür auch noch einen Oscar erhalten, wo es doch so viele homosexuelle Schauspieler gibt, die sich dafür gar nicht mal so hätten verbiegen müssen? Das wäre mal eine interessante Frage.


    Im Übrigen interessiert es mich nicht die Bohne, welche Präferenz irgendjemand im Bett hat. Das ist nämlich seine Privatsache. Und ich würde mir niemals anmaßen, deswegen über ihn zu richten. Und deshalb ist es für mich auch kein Thema, das jedes Mal ausdiskutiert werden muss, sobald jemand von der gesellschaftlichen Norm abweicht.


    Und im Übrigen wünsche ich, dass Periodenflüssigkeit wieder blau gemacht wird.

    (Wahrscheinlich bereue ich bald, dass ich das hier geschrieben habe, denn ich bin nicht gut im Argumentieren, also reißt mir nicht den Kopf ab)

  • Ich denke, ich weiß, was hier passiert.

    Das ist die eine Variante dessen, was passiert. Die andere Ursache für diese Überbemühungen, auf jeden Fall "People of Color" oder offenkundig nichtheterosexuelle Menschen oder in irgendeiner anderen Hinsicht vom gesellschaftlichen Mainstream abweichendes Personal zu zeigen, sind wütende Shitstorms, die sich Firmen und Agenturen dafür einfangen, eine statistisch wahrscheinlichere, aber nicht übermäßig diverse Zusammensetzung ihrer Werbeträger gewählt zu haben. Angefangen hat das meiner Erinnerung nach vor einigen Jahren mit einer Kampagne der Deutschen Bahn, die schließlich abgeblasen werden musste (nein, nicht die, gegen die Boris Palmer agitiert hat, sondern eine frühere).


    Es gefällt mir außerordentlich, wenn in Unterhaltung und Werbung versucht wird, darauf hinzuweisen, dass die Gesellschaft nicht nur aus weißheterochristlichem Mittelstand besteht. Und bei diesem auch noch aus der Teilgruppe der besonders attraktiven Menschen. Aber ich glaube ebenso wie Du, Silke, dass dieses deutliche Übers-Ziel-Hinausschießen eher etwas mit Ängsten und Bedürfnissen der Macher und -innen zu tun hat als mit dem Wunsch, die Vielfalt als Normalität zu verkaufen (die sie tatsächlich auch längst noch nicht ist), für Toleranz und Akzeptanz und Respekt zu werben (was als ständige Motivation sowieso irritierend und unglaubwürdig ist). Und, ja, es sind sehr oft gutaussehende, nicht übermäßig schwarzhäutige, durch irgendein Merkmal (Frisur) auch noch ethnisch-kulturell leicht verortbare Menschen, die besetzt werden, um diese Rollen zu übernehmen - also quasi "die Anderen" zu spielen. Asien, der Nahe Osten, überhaupt alles östlich der Oder, aber auch viele andere Regionen spielen als Irgendwann-Herkunftsländer fast keine Rolle.


    All das ist oft bigott und nicht selten ziemlich scheinheilig. Aber es zeigt auch das Problem, vor dem als Abgrund gerade die gesamte amerikanische Unterhaltungsindustrie steht: Es ist vollständig unmöglich, in jeder Gruppe jederzeit alle denkbaren Formen von Diversität zu zeigen und authentisch abzubilden (bzw. abbilden zu müssen). Und das ist nur der Anfang des Problems. Die, die man besetzt, und zwar erkennbar aus solchen Gründen, nehmen eine besondere Position ein, weil sie umso mehr für "ihre Gruppe" stehen, und jede dramaturgische Entscheidung ist zugleich eine für oder gegen diese Gruppe.


    Andererseits sind natürlich Werbung und Unterhaltung nie ein Abbild der Gesellschaft. Ganz im Gegenteil. Im Kleinen wie im Großen hat beides mit der Realität oft nahezu nichts zu tun, und es ist manchmal auch dramaturgisch vollkommen unmöglich, auch nur ansatzweise realistisch zu sein (oder es zu wollen). Dieser Ansatz ist in jeder Hinsicht verkehrt, und er erreicht sehr wahrscheinlich auch nicht das, was er zu erreichen als Aufgabe oktroyiert bekommen hat.

  • (keine Ahnung, ob ich ein relativ altes Thema nochmal pushen sollte, aber es ist ja eh weit oben)


    Ein weiterer Faktor ist in meinen Augen, dass es die Unternehmen nichts kostet, diverse Menschen abzubilden, Regenbogenflagge zu zeigen etc. Image-Kampagnen sind normalerweise teuer, hier kann man sich ohne viel Hirnschmalz und Aufwand mal eben als aufgeklärt und menschenfreundlich hinstellen (und gleichzeitig Menschen, Planet oder Tiere ausbeuten, juckt nicht). Gibt ja auch entsprechende Begriffe dafür: Greenwashing, Virtue Signaling usw.


    Hinzu kommt, dass dem Konsumenten so nicht nur Kaffee verkauft wird, sondern zugleich das Gefühl ein guter Mensch zu sein (mit dem entsprechenden Preisaufschlag). Natürlich ist es irgendwie gut, Fairtrade-Bio-Kaffee zu kaufen, aber der Mechanismus dahinter ist pervertiert: Wir müssen nicht verzichten, rebellieren, das System ändern. Wir gehen einfach zu Starbucks und können all das konsumieren. Man muss den Kapitalismus fast bewundern für so viel Chuzpe. Am absurdesten wird das bei Hafermilch. Die besteht zu 98 % aus Wasser und Hafer, den beiden billigsten Produkten im Supermarkt. Kostet aber mehr als Kuhmilch :D Weil eben nicht der Inhalt verkauft wird.


    Und natürlich lenkt es von den eigentlich relevanten Themen ab, die, da bin ich Marxist 8o, immer ökonomischer Natur sind: Arbeiter ausbeuten? Egal, solange du Frauenbeauftragte hast. Umverteilung? Nein, diskutieren wir lieber drei Wochen über die Frage, wie viel Geschlechter es gibt.


    Die schönste Blüte treibt das derzeit bei der anstehenden Herr-der-Ringe-Serie: Bei Tolkien sind die Zwergenfrauen kaum von Männern zu unterscheiden, sie tragen sogar Bärte. In den Trailern zur Serie sind sie natürlich klar als weiblich erkennbar (und, wenn man schon mal dabei ist, schwarz) :sleeping:

  • Ich argumentiere ungerne gegen einen so schönen Vortrag und auch noch gegen meine eigene Haltung, aber. Ich habe mich vorgestern mit einem Marketingmenschen über die Reichweite und den Nutzen von Messen unterhalten, also nicht von diesem Christenzeug, sondern Präsenzfachmessen, wo Leute rumschlurfen, Werbematerial einsacken und draußen gleich wieder wegwerfen. Das waren mal die Umsatzmotoren in einigen Branchen, und die Leute sind mit vollen Auftragsbüchern heimmarschiert. Heutzutage stellt sich das anders dar, und trotzdem investieren Firmen immer noch sehr viel Geld in diese Shows. Warum? Nun, weil es einen kaum direkt messbaren Metanutzen gibt - Imagepflege, Einschüchterung der Konkurrenz, Aufmerksamkeit, Positionierung. Leute, die einen dort gesehen haben, erinnern sich möglicherweise und greifen dann zu, wenn die Entscheidung ansteht.


    Warum erzähle ich das? Nun. Abseits aller Selbstzwecke hat es trotzdem eine Wirkung auf die Gesellschaft, wenn sich Bilder und Konstellationen in Bildern verändern. Natürlich ist die Firma, die da plötzlich diverse, tolerante, inklusive Werbung macht, hinter der Fassade immer noch genauso scheiße wie vorher, und die Produkte sind pure Verschwendung und ruinieren gleich mehrere Planeten, aber die Menschen, die wir sehen, selbst wenn wir nicht besonders aufmerksam hinschauen, verändern unser Gefühl von Normalität. Es beeinflusst unsere Wahrnehmung, unsere Aufmerksamkeit. Es beeinflusst unsere Meinung davon, wie sich unsere Gesellschaft gestaltet und wer dazugehört. Diese positive Wirkung ist vielleicht nicht messbar, wie der Erfolg einer Präsenzfachmesse heutzutage, aber er dürfte unbestreitbar vorhanden sein, selbst wenn er auf Heuchelei basiert. Und an dieser Stelle hat es tatsächlich etwas Gutes. Das meine ich vollständig ironiefrei.

  • Ich argumentiere ungerne gegen einen so schönen Vortrag und auch noch gegen meine eigene Haltung, aber. Ich habe mich vorgestern mit einem Marketingmenschen über die Reichweite und den Nutzen von Messen unterhalten, also nicht von diesem Christenzeug, sondern Präsenzfachmessen, wo Leute rumschlurfen, Werbematerial einsacken und draußen gleich wieder wegwerfen. Das waren mal die Umsatzmotoren in einigen Branchen, und die Leute sind mit vollen Auftragsbüchern heimmarschiert. Heutzutage stellt sich das anders dar, und trotzdem investieren Firmen immer noch sehr viel Geld in diese Shows. Warum? Nun, weil es einen kaum direkt messbaren Metanutzen gibt - Imagepflege, Einschüchterung der Konkurrenz, Aufmerksamkeit, Positionierung. Leute, die einen dort gesehen haben, erinnern sich möglicherweise und greifen dann zu, wenn die Entscheidung ansteht.


    Warum erzähle ich das? Nun. Abseits aller Selbstzwecke hat es trotzdem eine Wirkung auf die Gesellschaft, wenn sich Bilder und Konstellationen in Bildern verändern. Natürlich ist die Firma, die da plötzlich diverse, tolerante, inklusive Werbung macht, hinter der Fassade immer noch genauso scheiße wie vorher, und die Produkte sind pure Verschwendung und ruinieren gleich mehrere Planeten, aber die Menschen, die wir sehen, selbst wenn wir nicht besonders aufmerksam hinschauen, verändern unser Gefühl von Normalität. Es beeinflusst unsere Wahrnehmung, unsere Aufmerksamkeit. Es beeinflusst unsere Meinung davon, wie sich unsere Gesellschaft gestaltet und wer dazugehört. Diese positive Wirkung ist vielleicht nicht messbar, wie der Erfolg einer Präsenzfachmesse heutzutage, aber er dürfte unbestreitbar vorhanden sein, selbst wenn er auf Heuchelei basiert. Und an dieser Stelle hat es tatsächlich etwas Gutes. Das meine ich vollständig ironiefrei.

    Klar, das würde ich gar nicht verneinen. Gilt analog auch für Sprache.


    Allerdings würde ich ein kleines Fragezeichen anfügen: Kann das Zuviel an/in diversen Bildern (also ein letztlich ebenso unrealistisches Abbild der Gesellschaft) nicht diesen unbewussten Prozess der Normalitätsveränderung ins Bewusstsein rufen und somit gerade verhindern (auch aus Trotz, Skepsis)?

    Ich denke schon und darin würde ich einen Unterschied zu Werbung sehen. Die Zalando-Werbung mit den kreischenden Frauen beim Klingeln des Postboten lief rauf und runter und nervte mich tierisch. Aber ich hab dann trotzdem mal da bestellt, weil der Name haften blieb. Normalität ist da anders gelagert, denke ich, vielleicht auch, weil man aus dem Fenster schauen kann und die Realität mit der behaupteten Realität abgleichen kann (sofern man sich des Prozesses eben bewusst wird).

  • Hallo, Christian.


    Ja, es ist vielschichtig. Wenn vom "Hass im Netz" die Rede ist, meint man damit in erster Linie wohl Leute, die andere heftig beleidigen, die offen aggressiv sind, aber tatsächlich schürt die wie in einem Bauchladen vor sich hergetragene Überzeugung, man wäre auf der richtigen, der einzig guten, der progressiven, der vollständig positiv konnotierten Seite m.E. mindestens genauso viele hochemotionale Reaktionen. Und das ist übrigens auch so besetzt; die Leute, die so agieren, tun das ihrerseits durchaus aggressiv, grenzen aus, brandmarken, diffamieren, denunzieren: Wer nicht zu dieser Fraktion gehört, muss weg. Es wird nicht wenige Menschen geben, die sich aus Trotz oder weil sie dieses Verhalten ablehnen, gegen die damit verbundene Meinung entscheiden, weil sie die Haltung dahinter nicht akzeptieren können, und Meinung und Haltung sind eben nicht dasselbe, obwohl das oft so zu verkaufen versucht wird. Man kann eine Scheißmeinung und trotzdem eine würdige Haltung haben, und umgekehrt.


    Das ist vielschichtig, wie übrigens das meiste im Leben (außer die Frage nach seiner Entstehung, das war Gott 8)), und muss differenziert werden. Das nennt man wohl Diskurs. Etwas, das im Moment ein bisschen schwierig ist.