Gilles Rozier: Eine Liebe ohne Widerstand

  • Eine Familie in Frankreich während des zweiten Weltkriegs, zur Zeit der Besetzung durch die Deutschen: Während sich der Vater in Kriegsgefangenschaft befindet, wohnt die Mutter mit ihren zwei erwachsenen Kindern und einem Schwiegerkind zusammen. Die jüngere Schwester des Ich-Erzählers hat ein Verhältnis mit einem SS-Mann, das mit schöner Regelmäßigkeit akustisch die halbe Straße unterhält. Der Erzähler selbst, er unterrichtet Deutsch, flüchtet sich wann immer er kann in den Keller, wo er sich einen versteckten Verhau eingerichtet hat. Dorthin hat er die Bücher gerettet, die die Deutschen längst dem Feuer überlassen haben: Werke nun verpönter Schriftsteller wie Heine, Arnold und Stefan Zweig, Schnitzler: „Feinde des Ewigen Deutschland“. Eines seiner liebsten Bücher hat er selbst in Deutschland gekauft, als er in Heidelberg studiert hat: eine in rotes Leder gebundene Ausgabe von „Der Tod in Venedig“. Verheiratet ist er mit Claude, die Ehe wurde aber nie vollzogen. Da die Schwiegereltern bereits über eine vielköpfige Enkelschar verfügen und Claude selbst nicht groß dagegen aufzubegehren scheint, hat man sich scheinbar einmütig mit diesem Zustand arrangiert.


    Während ich nun hier bereits über Personalpronomen und Bezeichnungen stolpere, die man nur mit gutem Willen für ein generisches Maskulinum halten kann, ist es an der Zeit zu erwähnen, dass der Ich-Erzähler dieses Romans keinen Namen hat, kein Gesicht, kein eindeutiges Geschlecht. Die „bessere Hälfte“ Claude kann genauso gut ein Mann wie eine Frau sein. So bleibt auch der Erzähler im Ungewissen.


    Eines Tages wird jene/r Ich-Erzähler/in zur Gestapo zitiert. Dabei hält er sich gerne heraus. Als ein junger Mann, den er schon als Kind kannte, auf offener Straße niedergeschossen wurde, rezitierte er in seinem Klassenzimmer weiter Wandrers Nachtlied. Zum Widerständler taugt er nicht, denn so jemand braucht mehrere Identitäten, während er nur eine einzige hat: die des Bewunderers deutscher Sprache und deutschsprachiger Literatur. Ein Kollaborateur möchte er aber auch nicht sein. Nun aber soll er als Übersetzer für die neuen Herren arbeiten, und er weiß nicht, sich dem zu entziehen. Von nun an bringt er viel Zeit mit Warten auf den Fluren des Gestapo-Hauptquartiers zu, sieht Dinge, hört Dinge, Menschen, die daraufhin spurlos verschwinden. Er begegnet der Kurzwarenhändlerin Madame Bloch, deren Nähe er als Kind gesucht hatte, um ein bisschen Wärme zu bekommen, und möchte am liebsten vor Scham im Boden versinken. Dann passiert etwas, das er sich nie hätte vorstellen können: Wieder einmal sieht er eine Person, die er von früher kennt. Unbehelligt spaziert er daraufhin mit dem polnischen Juden namens Herman aus dem Gebäude, gewährt ihm in seinem Bücherversteck Unterschlupf - und verliebt sich in ihn. Als er ihm ein verloren geglaubtes Buch überreicht - eine Übertragung von Heine-Gedichten ins Jiddische - haben die beiden zum ersten Mal Sex.


    Als dieses „Ich“ die Geschichte erzählt, sind über 60 Jahre vergangen. Aus ihm ist ein alter Mann oder eine alte Frau geworden. Er wendet sich an ein unbekanntes Gegenüber, das ihn zu interviewen scheint. Er hält mit nichts hinterm Berg, auch wenn ihm vieles nicht gerade zum Guten gereicht - eher im Gegenteil. Dass Claude sich das Leben genommen hat, während Herman im Keller versteckt war, und er womöglich nicht ganz unschuldig an diesem Entschluss gewesen sein könnte, sieht er ein - und beklagt gleichzeitig die „Verschwendung“, sich unbekleidet auf dem Ehebett zu richten, wenn man sich auch in einem vollbesetzten Nazi-Etablissement in die Luft hätte sprengen können. (Dabei dürfte nach einer Ehe, in der die Eheleute weder miteinander geschlafen noch geredet haben (denn: „Claude las nicht“), ein nackter Hintern als letzter Gruß zumindest als deutliches Statement verstanden werden, meine ich ...)

    Nein, sympathisch ist dieses „Ich“ nicht, nicht in jungen Jahren während des Krieges, und nicht im hohen Alter in Friedenszeiten, als Mann nicht und als Frau nicht. Oft erscheint dieses „Ich“ berechnend, distanziert, kaltschnäuzig bis kalt, dabei leicht kränkbar und fordernd. Er scheint auch keine wirkliche Beziehung zu seiner Mutter oder der Schwester zu haben. Das schadet dem kurzen Roman (gut 130 Seiten) aber meiner Meinung nach nicht. Vieles bleibt hier nur angedeutet. „Eine Liebe ohne Widerstand“ ist ein Roman mit Grautönen. Man darf eine originelle, aber keine romantisch-verklärte Geschichte erwarten. Der Autor hätte, egal ob zwischen Mann und Frau oder zwei Männern, eine dramatische Liebesgeschichte erzählen können. Obwohl es ein Befreiungsschlag für den Ich-Erzähler war, hat Rozier das aber nur sehr bedingt getan. Auf dem Buchumschlag ist die Rede von „zwei Menschen, die alles teilen“: Das ist freilich nur eine Seite der Medaille.


    Man könnte sich nun fragen: Warum alle Nebenfiguren vage und die Hauptfigur so gestalten, dass sie dermaßen schemenhaft bleibt, dass nicht einmal ihr Geschlecht offenbar wird?

    Wenn „Ich“ sich lakonisch rechtfertigt, dass das jüngste Kind in christlicheren Familien ohnehin im Kloster gelandet wäre - „In gewisser Weise war ich Claudes Priestertum“, spricht das für eine Frau. Der Lieblingsroman - und einige andere Hinweise (ganz zu schweigen von einem Ausrutscher (in der Übersetzung?) - deuten hingegen auf einen Mann.

    Man kann Belege für das eine oder das andere suchen und sich während der Lektüre auch diverse Male umentscheiden, oder man lässt es bleiben, entscheidet sich für einen Mann oder eine Frau. - Vielleicht ist das ja gerade Sinn und Zweck dieses erzählerischen Kniffs: dem Leser/der Leserin die Wahl zu lassen.


    Den Angaben im Buch zufolge ist/war der Autor (Jahrgang 1963) Stand 2005 Direktor des Hauses für jiddische Kultur in Paris.


    ASIN/ISBN: 3442733804

  • Interessante Besprechung, interessantes Buch - recht kurz (nur knapp 150 Seiten) und lange vor dem aktuellen Genderntsunami (im Jahr 2004) erschienen. Aber, liebe Petra - ich entnehme Deiner Rezension keine Bewertung, keine Information über Dein Vergnügen oder Missvergnügen bei der Lektüre. Ich würde gerne wissen, ob es Dir gefallen hat. Büdde. 8)

  • Ich war schon stolz, dass ich das vom Smartphone aus mit Verlinkung hingekriegt habe, jetzt auch noch eine persönliche Stellungnahme …? :)


    Wenn diese Romanvorstellung so geraten ist, dann wahrscheinlich (auch), weil sie hier an einem Ort steht, an dem man sich mit einem Romanstoff nicht nur als Leser auseinandersetzt, sondern dazu als jemand, der selbst schreibt und andere, die schreiben, adressiert. Gut möglich, dass bei meinen Beiträgen allein schon durch diesen Ort ein Mischmasch entsteht bzw. Elemente enthalten sind, die in einer Rezension streng genommen nichts zu suchen haben oder dafür eher uninteressant sind.

    Der Umstand, dass der Ich-Erzähler nicht als klar männlich oder klar weiblich zu erkennen ist (ich habe einen Mann erzählen hören – aber am Ende denke ich, wird es wohl doch eher eine Frau gewesen sein …), bei Pradelski der Säugling, der von seiner eigenen Geburt berichtet: Solche erzähltechnischen Entscheidungen interessieren mich sehr. Ist etwas reine Pose oder erfüllt es einen tieferen Zweck? Deshalb ist wahrscheinlich auch immer mal wieder etwas „Selbstbefragung“ enthalten.

    Während die launige Bemerkung im Zusammenhang mit Claudes Selbstmord eher auf eine Art Fassungslosigkeit gegenüber dem zurückzuführen ist, der sie/ihn findet, nach dem Motto: Meine Güte, was für ein …! Tschuldigung, da fällt Rezension dann mit etwas zusammen, das mit dem Roman oder Literatur an sich nichts zu tun hat :)


    Das führt mich zu Deiner Frage: Wie fand ich den Roman?

    Es ist eine komplexe Geschichte, trotz des geringen Umfangs, mit vielen Zwischentönen. Ich hätte auch eine Geschichte gelesen, wo A B versteckt, A und B heiraten, aufs Land ziehen und fortan glücklich und zufrieden sind – aber so finde ich es deutlich interessanter. So ist es für mich eine Geschichte, die nachhallt. Eine, die Fragen aufwirft. Die Formel „jemand hat einen Verfolgten versteckt, ergo ist er ein guter Mensch“ greift hier nicht. Das allein machte den Roman für mich schon interessant: weil eine ungewöhnliche Geschichte erzählt wird. Dieser Roman hebt sich ab von solchen, in denen schwarz-weiß-gemalt wird und zeigt auf, dass ein Hinterfragen oft überraschende Dinge zutage fördern kann (was ohne Zweifel für mich ein, wenn nicht das Kernthema wäre, würde ich denn endlich mal schreibend zu Potte kommen – egal, anderes Thema!).

    Da ist außerdem dieser enorm unsympathische Ich-Erzähler. Kein Monster, ein „ganz normaler Mensch“, hierzulande wäre er ein Mitläufer gewesen, einer, der sich aus allem raushält, seine Meinungen hat, im Grunde aber in erster Linie in Ruhe gelassen werden, lesen will. Ein Eigenbrötler. Möglicherweise hätte so eine Figur heutzutage eine Diagnose aus dem Spektrum, vielleicht „hatte“ diese hier (im Kopf des Verfassers, versteht sich) „nur“ eine schwere Kindheit, vielleicht nichts von beidem … Ein unauffälliger Mensch ist das, der schließlich – aus Gründen – einen Juden im Keller versteckt. Das an sich ist eine heroische Tat, die ihm einiges abverlangt und ihn zudem um Kopf und Kragen bringen könnte, aber nun gerade nicht reiner Menschenliebe zuzuschreiben ist. Man erfährt nichts über den Ich-Erzähler, was er selbst nicht erzählt, dabei kann ein Autor ja auch immer viel breiter erzählen, wenn er das denn will, z. B. indem er eine zweite Erzählstimme eingeführt hätte. Das hat Rozier nicht getan, und diese Entscheidung kann ein Leser gut finden kann oder eben nicht.

    Man muss entweder die Auslassungen akzeptieren, oder aber es fehlt einem zu viel.

    Man muss einem Unsympathen als Ich-Erzähler folgen wollen.

    Womöglich macht mir das eine klare Einordnung für andere schwer.

    Aber, da man ja ohnehin nur den eigenen Eindruck schildern kann: Ich fand’s gut. Nicht, dass es mich aus den Socken geworfen hätte, aber gut.