Samanta Schweblin: Hundert Augen

  • Das neueste Technik-Gadget kommt in ganz und gar altmodischer, harmloser und zudem technisch längst etablierter Gestalt daher: Kentukis sehen aus wie ganz gewöhnliche Plüschtiere, Modell Panda, Kaninchen, Drache, Krähe, Maulwurf und einige mehr. Bloß, dass sie auf Räder montiert sind. Bloß, dass in ihrem Inneren eine Kamera steckt mit einer WLAN-Verbindung zu einem anderen Menschen. Ein Kentuki hat nämlich immer mindestens zwei Besitzer: den mit dem Plüschtier (der Herr/die Herrin) und den mit dem Zugangscode (das Kentuki oder das Wesen). Den, der sich zeigt, und den, der beobachtet. Am Anfang sind sie sich fremd. Sie können Kontinente voneinander getrennt sein. Wer mit wem verbunden wird, entscheidet die Herstellerfirma. Die Stimme des Herrn oder der Herrin, und nur diese, werden dem Wesen übersetzt. Das Kentuki kann nicht sprechen, aber Wege, miteinander zu kommunizieren, gibt es viele, so werden sich Herr/in und Kentuki zumindest einseitig mit der Zeit immer vertrauter.

    Was sich zunächst nur wie ein übergeschnapptes Spiel anhören mag, hat viele Tücken. Aber daran denken die meisten Käufer am Anfang entweder nicht - oder gerade das macht für sie den Reiz aus.


    Warum setzt sich einer - potentiell - ständiger Überwachung aus?

    Zum Spaß. Für den Kick. Aus Langeweile. Aus Berechnung. Aus Einsamkeit. Aus schierer Verzweiflung.

    Da sind die zwei Kaninchen-Kentukis, die der Betreiber eines Pflegeheims für die Bewohner gekauft hat: Läuft der Akku eines Kentukis leer, bricht die Verbindung unabänderlich ab. Ein Kentuki kann nicht wieder in Betrieb genommen werden - ein Kentuki, ein Leben. Oder aber wenn der am anderen Ende die Verbindung kappt. Zum Teufel mit dem Kaufpreis: Niemand möchte Kentuki in einem Pflegeheim sein!

    Da ist Alina, die ihrem Lebensgefährten Sven in eine Künstlerkolonie gefolgt ist, der Junge Marvin aus schwerreichem Haus, der nach dem Tod seiner Mutter so verzweifelt gerne Schnee sehen möchte, Emilia aus Lima, der die Firma ein Kentuki zugeteilt hat, das in der Wohnung einer Frau in Erfurt steht, die ihre Tochter sein könnte, da ist Enzo, dessen Ex-Frau ihm auf Anraten einer Psychologin einen Kentuki für ihren gemeinsamen Sohn „verordnet“ hat, da ist Grigor, der weder Herr noch Wesen sein will, aber wittert, wie die Wünsche Anderer ihn und seinen Vater aus ihrer prekären finanziellen Lage heraushelfen könnten.

    Beziehungen zwischen Kentuki und Herr können tragisch verlaufen, denn sie sind anfällig für Missverständnisse, einseitig aufkommende Wünsche, entstehende Abhängigkeiten. Was, wenn ein Wesen - Mann, Frau, Kind - mehr zu sehen bekommt, als es sehen möchte? Und manchmal stirbt der/die Herr/in eines Wesens, was dann?


    Schweblin hat eine fesselnde Geschichte geschrieben, mit Motiven, die in Form von Tamagotchi, Cayla, Paro, Alexa, Hikikomori, Big Brother … längst Realität sind. Dabei ist es aber nicht in erster Linie eine Geschichte über ein technisches Gimmick, sondern über (fehlende oder scheiternde) zwischenmenschliche Beziehungen, innerhalb Partnerschaften, Familien, mit Fremden. Es ist eine Geschichte über Beziehungen zwischen Kentuki und Herr, zwischen Menschen, in deren Leben ein Kentuki getreten ist, zwischen Kentukis untereinander. Auf dem Umschlag des Romans steht der Satz: „Hundert Augen ist ein visionärer Roman über unsere vernetzte Gegenwart und über den Zusammenprall von Menschlichkeit und Horror.“ Dem stimme ich in Gänze zu und füge hinzu: Es ist keine Dystopie, die da beschrieben wird: Auch wenn Kentukis an sich eine Erfindung der Autorin sind, hat die Bundesnetzagentur hierzulande doch ähnlichen Ansinnen (bislang) einen Riegel vorgeschoben.


    Mein Fazit: Das neue Jahr ist noch nicht alt, aber „Hundert Augen“ wird garantiert zu meinen Lese-Highlights 2022 zählen, das ist jetzt schon sicher.


    Die Autorin Samanta Schweblin wurde 1978 in Argentinien geboren und lebt in Berlin.


    ASIN/ISBN: 3518429663

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    Als ich kürzlich mein iPhone (vermeintlich) ausgeschaltet habe, erschien vor dem Erlöschen des Bildschirms noch eine Nachricht. Das Betriebssystem des Smartphones teilte mir mit, dass die Ortungsfunktion des Geräts auch im ausgeschalteten Zustand aktiv bliebe. Es ist keine Neuheit und auch keine Überraschung, dass Smartphones, Tablets, Musicplayer, Spielekonsolen, sprachgesteuerte Alltagshelfer und Smart-Home-Komponenten erst dann wirklich untätig sind, wenn man es geschafft hat, ihre Akkus restlos zu leeren und sie endgültig vom Strom zu trennen, aber diese lapidare Mitteilung, die da letztlich lautete: „Du glaubst nur, dass ich ausgeschaltet bin, nachdem Du mich ausgeschaltet hast“, war in ihrer Klarheit und Offenheit doch ein wenig schockierend.


    Schon seit Jahren lassen wir Technik in unsere Intimsphären, die weit mehr tut als nur das, was wir von ihr erhoffen. Alexas und Siris, die uns ständig belauschen, während sie auf unsere Befehle zu warten vorgeben, stellen nur die Spitze dieses gewaltigen Eisbergs dar. Unsere Smartphones bilden mit Geräten vom selben Hersteller klandestine Netzwerke, die beispielsweise genutzt werden, um schlüsselanhängergroße „Tags“ aufzuspüren, die man an irgendwas (oder -wem) befestigt hatte und die zusammen mit diesem, äh, Objekt, äh, verlorengegangen sind. Wir sind längst nicht mehr Herrscher über die Technik, die wir nutzen. Wir sind umgeben von als Helfern getarnten Überwachungssystemen, und das freiwillig, weil sie einen gewissen Komfort bieten. Bequemlichkeit hat Bedenken schon immer geschlagen. Dass mein Smartphone weiß, wo genau die Ohrhörer gerade liegen, und das muss nicht notwendigerweise innerhalb der Wohnung sein, ist prinzipiell großartig. Was nötig ist, um das zu ermöglichen, und was diese Funktionalität darüber hinaus kann, ist erschreckend. Es lässt alle Datenschutzbemühungen als alberne Beschäftigungsmaßnahmen erscheinen.


    Im Jahr 2015 hat der Spielzeughersteller Mattel für eine besondere Version der Barbiepuppe den „Big Brother Award“ erhalten. Diese Puppe bespitzelte die Kinder aktiv, merkte sich Gesprächsinhalte, beobachtete das Geschehen um sich herum und sandte die Daten aus dem Kinderzimmer in die Konzernzentrale. In Europa war dieses Modell aufgrund der restriktiveren Datenschutzbestimmungen nicht erhältlich, und die Behörden hierzulande fechten einen energischen Kampf gegen als Spielzeug getarnte Überwachungssysteme, die zuweilen von Eltern genutzt werden, um den Nachwuchs im Blick zu behalten, vor allem aber elektronische Scheunentore in unsere Privatwelten sind. Diese Schlacht kann perspektivisch nur verloren werden. Sie ist es längst.


    Die argentinische Autorin Samanta Schweblin, die seit einigen Jahren in Berlin lebt, hat diesen Gedanken fortgesponnen und in eine originelle Idee gegossen. Sie hat sich „Kentukis“ ausgedacht, von einem namenlosen und nie näher beschriebenen Hersteller ausgedachte Kuscheltiere, etwa Pandas, Maulwürfe, Kaninchen, kleine Drachen und ähnliche, nicht unbedingt schön anzusehen, etwa dreißig Zentimeter hoch und zwei Kilo schwer. In diesen Geräten steckt überschaubare Technik - sie haben Mikrofone und Kameras, sie können auf Rollen laufen, ein paar Bewegungen ausführen und klar definierte Geräusche von sich geben. Aber jedes Gerät ist mit genau einer anderen Person irgendwo auf dem Planeten verbunden, die es steuert, und die sehen und hören kann, was im Haushalt geschieht, in dem sich der Kentuki befindet. Diese Verbindung ist zufällig hergestellt und kann nicht ausgesucht oder verändert werden, sie ist einmalig und kann nach einer Beendigung nicht erneuert werden. Die 280 Dollar, die Kentukibesitzer oder Kentukikontrolleur für das Arrangement bezahlt haben, sind für beide verloren, wenn der Akku des Spielzeugs nicht mehr aufgeladen wird oder die steuernde Person die Verbindung kappt. Das Ding ist dann Müll.


    Aber vorher ist es ein Fenster in einen wildfremden Haushalt, irgendwo auf der Welt, und für die Bewohner dieses Haushalts, die über die Person auf der anderen Seite praktisch nichts wissen, ist es ein einseitig durchlässiger Spiegel. Weil das Ding aber so wenig kann, fühlt es sich für viele wie ein etwas intelligenteres Haustier an, wie eine neue Umgebungserfahrung. Nicht wenige Besitzer verdrängen oder vergessen, dass das klobige kleine Ding der Avatar einer echten Person ist.


    Samanta Schweblin erzählt von einem Dutzend Leuten, die Kentukis haben oder Kentukis sind, die Geräte also beherrschen, sie erzählt von Kommunikationsversuchen, von Einsamkeit und von schweren Verbrechen, sie erzählt von Ablehnung und kurzgedachter Akzeptanz. Sie erzählt von dem Jungen, der noch nie Schnee berührt hat, aber über den von ihm gesteuerten Kentuki diese Chance hätte. Sie erzählt von dem cleveren jungen Mann in Zagreb, der Dutzende Kentukis steuert und teuer gebraucht weiterverkauft, an Leute, die lieber wissen wollen, was auf sie zukommt. Sie erzählt von der jungen Frau, die einen Künstler in die Künstlerkolonie begleitet hat und während der vielen einsamen Stunden ein besonderes Verhältnis zu ihrem Kentuki aufgebaut hat. Sie erzählt von der älteren Dame, die ein Spielzeug von ihrem Sohn bekommen hat. Sie erzählt von einem Vater, der nicht wahrhaben will, was auf der anderen Seite der Überwachung seines Sohnes geschieht. Sie erzählt aber vor allem davon, wie schnell die Bedenken verdrängt werden, wie kritiklos etwas in den eigenen Alltag integriert wird, das da wirklich nicht hingehört. Wobei die spezielle Ausführung, diese Idee, die Daten nicht an irgendwelche Konzerne oder Regierungen zu liefern, sondern einfach an irgendwen, als hochironischer, aber konsequenter Gedanke einerseits sehr amüsant und andererseits umso erschütternder daherkommt. Denn auch all die Mitarbeiter in den Konzernen und Regierungen, denen wir aus Bequemlichkeit unsere Privatsphäre öffnen, sind natürlich irgendwelche Privatpersonen.


    „Hundert Augen“ ist sehr clever aufgebaut und wirklich schön ausgedacht. Samanta Schweblin bewegt sich sicher und konsequent auf dem Terrain, inspiziert die denkbaren Spielarten, und sie überlässt die Wertung ihren Figuren und den Lesern. Der Roman ist kein Manifest gegen Überwachung und Denkfaulheit, aber eine sehr gut erzählte Geschichte über genau diese Themen, zu der man sich, wenn man will (und nicht zu bequem dafür ist), seine eigenen Gedanken machen kann.

    Der Roman hat allerdings ein paar Längen, die mit dem episodischen Aufbau einhergehen. Hiervon abgesehen ist „Hundert Augen“ vortrefflich gelungen, kühn ausgedacht, großartig umgesetzt und also dringend zu empfehlen.