Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende

  • Ein Mann reist mit dem Zug von Stadt zu Stadt. Er fährt von Berlin nach Hamburg, und danach nach Aachen, Mönchengladbach, Dortmund, Dresden … Irgendwann trägt der Kaufmann eine große Summe Geldes mit sich herum, dann wieder ist er fast mittellos. Hier steigt er in Hotels ab, mal in einem der besten Häuser am Platz, dann in schlichten Herbergen, einmal mietet er sich bei einem etwas wunderlichen alten Ehepaar ein, dann wieder muss er ganz ohne Bett auskommen. Der „Reisende“ kommt mit Fremden ins Gespräch, trifft auf alte Bekannte, auf eine Frau, die allen Umständen zum Trotz eine starke Anziehung auf ihn ausübt. Der Mann reist nicht zum Vergnügen, er ist auf der Flucht. Gut, dass sein Gesicht nicht weiter auffällt, dennoch kann einer in diesen Zeiten gar nicht wachsam genug sein: Wir befinden uns in Deutschland im November 1938. Die Wohnung des Mannes ist verwüstet worden, seine Frau zu ihrem Bruder geflüchtet. Für ihn ist dort kein Platz, denn der Kaufmann Otto Silbermann ist Jude, und sein Schwager in der Partei.


    Boschwitz nimmt den Leser in seinem Roman „Der Reisende“ mit auf die Odyssee eines Mannes, der trotz schlagkräftiger Beweise manchmal immer noch nicht fassen kann, wie er vom wohlhabenden Firmeninhaber in die Position eines Rechtlosen und Verfolgten geglitten ist. Das führt zu teils absurden Situationen, in denen Silbermann sich selbst erinnern muss, dass für ihn jetzt andere Regeln gelten. Herausgerissen aus der Gemeinschaft ist er, auf sich selbst gestellt, der Gnade von Profiteuren, die ihre Stunde gekommen sehen, ausgeliefert.


    Die Begegnungen Silbermanns sind sehr lebendig geschildert, verschiedene Charaktere der Zeit werden in treffenden Dialogen offenbar. Silbermann selbst wird als eine ambivalente Person geschildert. Für das deutsche Kaiserreich im Krieg gewesen, ein geachtetes und erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft, trägt er, wie anders kaum möglich, nicht nur schwer an seinem Schicksal, in schwachen Momenten sucht er auch nach Schuldigen unter gleichermaßen Verfolgten, was bei einigen Begegnungen mit anderen jüdischen Männern schmerzhaft deutlich wird. Die Irrfahrten Silbermanns sind beklemmend, es gelingt dem Autor, die Bemühungen seines Protagonisten sehr lebendig zu schildern, man geht mit, kann mit ihm hoffen und um ihn bangen. Silbermann fährt mit der Reichsbahn in Coupés der ersten, zweiten und dritten Klasse durch eine oft absurd erscheinende Welt, die doch keine Erfindung eines fantasiebegabten Autors, sondern historisch verbürgt ist.

    Ulrich Alexander Boschwitz war der Sohn eines jüdischen Kaufmanns und einer protestantischen Mutter. 1935 verließ Boschwitz mit seiner Mutter Deutschland.

    Der Roman wurde erstmals in England und den USA 1939 unter dem Titel „The Man Who Took Trains“ und unter Verwendung des Pseudonyms John Grane veröffentlicht. Bestrebungen, den Roman in den 1950er Jahren in Deutschland verlegen zu lassen, u. a. durch Heinrich Böll, scheiterten. Es dauerte schließlich bis 2019, bis der Roman in deutscher Übersetzung - in einer lektorierten Fassung, die die Ereignisse für heutige Leser umso eindrücklicher erscheinen lässt - in einem kleinen Verlag erschien. Als wahrscheinlich früheste literarische Auseinandersetzung mit den Novemberpogromen, erstellt von einem Verfasser, der seinem Thema sehr nah war, erhielt der Roman so letztendlich auch hierzulande einige Aufmerksamkeit. Mittlerweile ist auch eine Hörbuchfassung erschienen.

    Boschwitz starb 1942 im Alter von nur 27 Jahren, als das Flüchtlingsschiff, auf dem er sich befand, von einem deutschen U-Boot torpediert wurde. Im Berliner Stadtteil Charlottenburg-Wilmersdorf wurde auf dem Hohenzollerndamm vor dem Haus Nr. 81 ein Stolperstein für den Schriftsteller verlegt.


    ASIN/ISBN: 1794717382