Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe

  • Stark, aber nicht überzeugend


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    Im Mittelpunkt dieses Romans, der eher eine episodische, oft fragmentarische Erzählung ist, steht Lucy Barton, eine junge Frau aus der Provinzstadt Amgash, die in großer Armut aufgewachsen ist und von ihren Eltern schrecklich be- und misshandelt wurde. Lucy lebt inzwischen in New York, hat eine Familie und ein Leben, das weitgehend in Ordnung ist, obwohl die Ehe ein wenig kriselt, sie hat ihre ersten beiden Short Storys veröffentlicht und wird später eine erfolgreiche Schriftstellerin werden – davon erzählt dann u.a. „Alles ist möglich“, einer der zwei, drei stärksten Romane von Elizabeth Strout, der ein Jahr nach diesem Buch erschienen ist.


    Zum Zeitpunkt der Erzählung ist Lucy krank und liegt im Krankenhaus. Ihre Erkrankung ist heftig, aber rätselhaft, und es wird Wochen dauern, bis sie, halbwegs genesen, entlassen werden kann. Doch vorher taucht plötzlich Lucys Mutter auf, setzt sich ans Fußende des Bettes und bleibt für einige Tage. Die beiden haben sich seit Jahren nicht gesehen und auch lange nicht mehr miteinander gesprochen. William, Lucys Mann, hat sie angerufen, weil er selbst nur wenig Zeit finden wird, sich um Lucy im Krankenhaus zu kümmern.


    Der Krankenhausaufenthalt wird auf diese Art zur mit vielen Flashbacks garnierten Vergangenheitsbewältigung, wobei eigentlich nichts bewältigt wird – so funktioniert das mit der Vergangenheit ja auch nicht. Obwohl Mutter und Tochter viel reden und lange zurückliegende Ereignisse gemeinsam revuepassieren lassen, reden sie oft aneinander vorbei, will die Mutter auf bestimmte Fragen oder Themen einfach nicht reagieren, während Lucy, wie das sehr oft bei Missbrauchsopfern der Fall ist, die Schuld nach wie vor auch bei sich sucht, und selbst Jahre später noch nicht aus den seinerzeit etablierten Verhaltensmustern ausbrechen kann. Sie ist still, zurückhaltend, übermäßig dankbar, sensibel, aber auch aufmerksam und sehr klug. Die Mutter ist wie früher, möglicherweise einen Hauch toleranter, aber falsch gemacht sie ganz sicher nichts. Nie. Man verspürt beim Lesen den immer stärker werdenden Wunsch, ins Flugzeug zu springen, nach NY zu fliegen, in dieses Krankenhaus zu marschieren, die Frau am Kragen zu packen und ihr mal sehr, sehr ordentlich die Meinung zu sagen.


    Neben der Mutter-Tochter-Beziehung, die wahrlich erschütternde Seiten hat, erzählt Lucy, die als Ich-Erzählerin auftritt (was ungewöhnlich für Strout-Romane ist), davon, wie und warum sie Schriftstellerin wurde. Sie berichtet, wie sie Sarah Payne traf, die Autorin, die ihr vermittelt hat, dass man rabiat und unerschütterlich sein muss, dass man sein Werk nicht rechtfertigen darf, und dass es immer nur eine einzige Geschichte ist, die man als Schriftsteller erzählt.


    Am Ende wird die nicht sehr lange Erzählung immer faseriger, werden die Kapitel immer kürzer, kommt man sich vor wie in einem sehr unübersichtlichen, vielarmigen Flussdelta, aber das soll wohl auch so sein. „Die Unvollkommenheit der Liebe“ bricht mit herkömmlichen Erzählstrukturen und Erwartungen, ist selbst so unvollkommen wie die Liebe, aber es fühlt sich leider zugleich auch an, als hätte Elizabeth Strout Resteverwertung betrieben, wenn auch auf sehr hohem Niveau. Die große Kompaktheit und erzählerische Dichte fehlt hier, die oft unbeholfen agierende Ich-Erzählerin nervt manchmal, vor allem, wenn sie besonders unelegante Formulierungen verwendet, die eigentlich in Tagebücher gehören.


    Die zwei stärksten Motive – die Schriftstellerei und Lucys Kindheit – wirken auch am stärksten, aber im Vergleich zum sonstigen Werk von Elizabeth Strout überzeugt mich die Geschichte vor allem literarisch nicht übermäßig.

    ASIN/ISBN: 3442716578