Juli Zeh: Über Menschen

  • Dora und die Knuddelnazis aus der Nachbarschaft


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    Dora, die ideenreiche Kommunikationsdesignerin, ist 36 Jahre alt und mit Robert zusammen, der sich, seit er Greta T. fast mal getroffen hat, mit rasanter Geschwindigkeit zu einem selbstgerechten Umweltschutzfanatiker entwickelt, was darin gipfelt, dass er Dora zuerst nötigt, den hochdotierten Job aufzugeben und zu einer Agentur zu wechseln, die für nachhaltige Produkte und faire NGOs Werbung macht, bis er ihr schließlich zu verbieten versucht, das Haus überhaupt noch zu verlassen. Wir befinden uns in der frühen Phase des ersten Corona-Lockdowns, im Frühling 2020; Dora und Robert leben in Berlin, aber Robert weiß nicht, dass sich Dora schon vor ein paar Monaten ein Haus und ein Grundstück in der Prignitz gekauft hat, einer Gegend im Brandenburgischen. Als die Situation zu Hause jetzt eskaliert und Robert immer unerbittlicher wird, packt sie ihre Sachen und die kleine Hündin Jochen-der-Rochen - und zieht kurzerhand aufs Land. Ohne Robert zu verraten, wohin genau.


    Dora hat allerdings keine Ahnung davon, wie Landleben funktioniert, vor allem nicht, wie es sich konkret im Jahr 2020 in der entvölkerten brandenburgischen Provinz darstellt. Das riesige Grundstück ist ein Acker, in dem merkwürdigerweise viel Kinderspielzeug vergraben wurde, eine Infrastruktur ist so gut wie nicht vorhanden, und ohne Auto ist man aufgeschmissen, aber Dora hat nicht einmal ihr schönes Fahrrad namens Gustav mitgenommen. Doch es gibt ja Nachbarn. Etwa Steffen und Tom, die ein paar Häuser weiter eine Großgärtnerei betreiben. Oder Gote, gleich nebenan. Aber bei Steffen und Tom klebt ein AfD-Aufkleber am Briefkasten, und der knurrige Gote hat sich gleich als Dorfnazi vorgestellt. Nachts muss Dora mitanhören, wie er mit zwei einschlägigen Kumpels das Horst-Wessel-Lied anstimmt.


    In „Über Menschen“ geht es darum, wie man mit Menschen umgeht, die Meinungen vertreten, die man eigentlich nicht aushalten kann. Die Meinungen selbst werden zwar auch thematisiert, und die Hauptfigur fährt ihrerseits einiges an Argumenten auf, um, nun, nicht für Verständnis zu werben, aber die Entscheidung für eine bestimmte Haltung in gewissen Grenzen zu legitimieren, doch im Kern geht es darum, ob Menschen als Menschen besser oder schlechter als andere sind, weil sie eine bestimmte Meinung vertreten oder eben nicht. Oder, um es direkter zu sagen, ob Nazis in allen Schattierungen verdammungswürdiges Gesocks sind - oder doch Leute, irgendwie.

    Menschen eben.


    Juli Zeh ist ohne jeden Zweifel eine der klügsten und engagiertesten Erzählerinnen unserer Zeit, davon abgesehen zum Niederknien stilsicher und dramaturgisch jederzeit dicht an der Perfektion. „Über Menschen“ liest sich fantastisch, findet genau die richtige Tonlage, packt und reißt mit. Zwar meldet sich irgendwo im Hinterkopf hin und wieder ein leises „Ja, aber ...“, etwa, wenn Dora dem Plastiktütenverbot den Herstellungsaufwand für Baumwolltragetaschen gegenüberstellt, oder wenn die armselige ÖPNV-Infrastruktur beklagt, aber nicht erwähnt wird, dass es Versuche gab, diese Struktur zu verbessern, das Angebot jedoch schlicht ausgeschlagen wurde, weil die Leute eben lieber autofahren. Aber es geht, wie skizziert, nicht darum, sich auf eine dieser Seiten zu schlagen, weshalb die Überzeugungskraft der jeweiligen Argumentation wahrscheinlich sogar absichtlich eher mäßig gewählt wurde, sondern darum, den moralischen Ansatz infrage zu stellen, der die einen ohne jeden Zweifel deutlich über die anderen erhebt, der den so genannten Gutmenschen also die Schlechtmenschen gegenüberstellt - und das mit einer Wertung verbindet, die über das Politische weit hinausgeht. Das fiktive Dorf Bracken, in dem die Handlung spielt, wird dieserart zum Abbild dessen, was vom Diskurs noch übriggeblieben ist, nämlich das unzweifelhaft Gute - und das Andere. Verbunden mit dem Recht, es mit allen Mitteln zu beseitigen.


    Während der Musiker „Danger Dan“ also im Text eines erfolgreichen Songs dazu aufruft, Nazis notfalls mit Gewalt zu bekämpfen, wirbt Juli Zeh dafür, nun, nicht unbedingt mit Nazis zu reden, um zu versuchen, sie zu überzeugen, sondern für Pragmatismus im Zwischenmenschlichen, und für eine Trennung von Meinung und Person. Sie erweitert auf diese Weise den Umgang, den viele aus dem Mikrokosmos „Familie“ kennen, wo man Uropas Kriegsverherrlichung und Muttis Alltagsrassismus ja schließlich auch hinnimmt, weil es eben Uropa und Mutti sind, die da Schwachsinn reden, auf die nächstgrößere Sozialstruktur, in diesem Fall auf Dorf und Nachbarschaft. Was sollte man auch tun? Das Haus ist gekauft und im Brandenburgischen ist die Wahrscheinlichkeit, neben einem Äußerstrechten zu wohnen, überall hoch, erschlagen kann man die Leute auch nicht einfach, bester Danger Dan, und wenn sie auch noch hilfsbereit und auf ruppige Art nett sind - was dann? Das ist die Kernfrage der Geschichte; Dora findet ihre persönliche Antwort darauf, aber Juli Zeh bleibt sie - absichtsvoll, nehme ich an - letztlich schuldig. Was auch daran liegen kann, dass es keine gibt. Oder an diesem kleinen, aber nicht unwesentlichen Kunstgriff, den sie bei der Entwicklung „ihrer“ Nazis angewendet hat, indem sie ihnen (vor allem Gote, dem direkten Nachbarn) einige doch sehr, sehr nette Eigenschaften verpasst hat. Ein Knuddelnazi quasi.


    Einerseits bin ich mit dem Ansatz mehr als einverstanden, zu differenzieren, niemals über einen Kamm zu scheren, sich nicht vom strahlenden (selbsternannten) Guten blenden zu lassen und genauso wenig vom allseits Verteufelten kategorisch abzuwenden - vor allem aber standhaft dabei zu bleiben, dass Menschen Rechte haben, was ausnahmslos gilt. Andererseits hat mich das Experiment nicht vollends überzeugt, bleibt die Konstruktion, so großartig sie literarisch auch ist, auf gesellschaftlicher, soziologischer Ebene oft fragwürdig. Ich stimme Juli Zeh zu: Ja, auch Nazis sind Menschen. Trotzdem hätte ihre Heldin Dora oft andere Optionen gehabt, als die, die sie schließlich gewählt hat. Okay, aber das wäre dann nicht die Geschichte gewesen, die Juli Zeh erzählen wollte.


    Doch der Roman soll auch keine Handlungsanweisung sein, sondern von etwas erzählen, was ihm vortrefflich und äußerst unterhaltsam gelingt. Über diese Geschichte kann man reden und streiten, was immer sinnvoll ist, und da dieses Buch die Hardcover-Bestsellerliste für das Jahr 2021 angeführt hat, ist wahrscheinlich, dass ziemlich viele Menschen darüber nachdenken, ob die Maxime, nach denen man handelt, konsequent sind, oder das überhaupt sein müssen, denn Konsequenz verneint nicht selten das Menschliche. Oder woran wir uns als Menschen messen. Oder unterscheiden. Und das geschafft, diesen Diskurs ausgelöst zu haben, ist eine tolle Leistung. Andererseits dürfte es nicht wenige geben, die „Über Menschen“ als Aufruf zum Verständnis für Nazis missverstehen. Aber das ist nicht der Autorin anzulasten, sondern, Achtung, diesen Leuten.


    ASIN/ISBN: 3630876676

  • Zwei Wochen vor Weihnachten zog bei uns - mitten in Berlin - eine neue Familie ein. "Er" ist bei "Meta" (ehemals Facebook) ein ziemlich großes Tier. Aha, dachte ich da sofort. Das ist also jetzt mein Dorf-Nazi.


    Neee, aber im Ernst. Ich fand das Buch super und absolut verdient an der Spitze.


    In Zeiten, wo der öffentliche Diskurs nur noch in hüben und drüben, in schwarz und weiß, in gut und schlecht aufgeteilt ist, wo Impfverweigerer wie Impfbefürworter den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören, Flaschen auf Polizisten fliegen, die Kommentarzeilen bei Facebook mit Beleidigungen überquellen und die Scheiben von Bezirksbüros eingeschlagen werden, war so eine Geschichte in Deutschland dringend notwendig.

  • Im Gegensatz zu Unterleuten, das für mich ziemlich menschelt, ist Über Menschen in einem sehr distanzierten Modus geschrieben. Ein großartiges Buch ist Juli Zeh da (wieder einmal) gelungen, wie ich finde.

    Eine für mich sehr zentrale Figur, ist das Mädchen, das Kind, dass die Verbindung überhaupt erst ermöglicht und die Netzwerke für eine Verständigung legt. Und natürlich auch das "Bankgeheimnis" ist ein starkes wiederkehrendes Bild.

    Mit dem Begriff KnuddelNazi kann ich gar nicht mitgehen, die RomanFigur ging ziemlich an meine Schmerzgrenze, in ihrer ganzen Tragik. Vielleicht, weil ich sofort ein Bild habe. Ich kenne so ähnliche Typen, das heißt, Menschen mit ähnlichen Einstellungen und ... wie soll ich sagen, tragischen Lebensmustern. Das ist schwer auszuhalten. Wegzuschauen genauso wie in Kontakt gehen. Ein Dilemma eben. Das hat Juli Zeh ziemlich gut gegriffen gekriegt mit dieser Geschichte.

  • Hallo, dORIT.


    Mit dem Begriff KnuddelNazi kann ich gar nicht mitgehen

    Gote hat schwer zu tragen, und Juli Zeh fährt einiges auf, um sein Verhalten, nun, nicht zu rechtfertigen, aber zu erklären, möglicherweise sogar zu begünden, und das reicht bis zu einer Erkrankung (oder zweien, denn er ist fraglos Alkoholiker). Aber er ist - auf seine Art - zugleich irre hilfsbereit, nachgerade altruistisch, er ist künstlerisch begabt und - ebenfalls auf seine Art - manchmal sogar ein guter Vater. Sogar sein schlechter Ruf ist möglicherweise der Tatsache zu verdanken, dass bei den Vorwürfen gegen ihn und seine Linkenklatscherfreunde nicht sauber ermittelt wurde, undsoweiter. Je nach Perspektive bleibt auf der Plusseite von Gote sogar deutlich mehr stehen als auf der Minusseite. Quantitativ.


    "Über Menschen" ist aber ein Text gegen die schwarzweißzeichnende Distanzierungsgesellschaft, die wir inzwischen haben. In den "sozialen" Medien kann man fast unaufhörlich davon lesen, wie sich Leuten voneinander "entfreunden" oder sogar noch härter miteinander umgehen, weil Meinungen, Haltungen, Standpunkte vertreten werden, die für sie schwer auszuhalten sind, die diesem schillernden Pseudo-Moralkonsens widersprechen. Für diese Leute steht vor allem Robert, der selbstgerechte Umweltfundamentalist. Doch es bleibt trotzdem ein - beabsichtigtes - großes Aber.

  • Ich weiß, was du sagen willst, und wie gesagt, habe ich ein Bild vor Augen, und auch ein reales Schicksal von jemandem, den ich nicht verteufeln kann und möchte, weil man sich lange kennt, weil einen einiges emotionales verbindet.

    Es war lediglich der Begriff "Knuddel", der dem ( in meinen Augen) nicht so gerecht wird, über den ich gestolpert war, nicht das was für dich dahinterstand.

  • Es war lediglich der Begriff "Knuddel", der dem ( in meinen Augen) nicht so gerecht wird, über den ich gestolpert war, nicht das was für dich dahinterstand.

    Ich fand den Terminus ganz passend, aber ich verstehe, was Du meinst.