Über die Transformation von Erfahrungen in Literatur

  • Kennt Ihr das? Manchmal liest man Bücher und ist sich nicht sicher: Ist das noch ein Sachbuch (wie Biografien zu den Sachbüchern zählen) oder doch schon ein Roman?


    Mir ging das dieses Jahr so mit „Hillbilly Elegy“ von J. D. Vance und „Der große Trip - Wild“ von Cheryl Strayed. Der eine erzählt von einer Kindheit in einer Familie, die gemeinhin in den USA als White Trash verschrieen ist, und vom Aufstieg aus diesem Milieu, die andere von einer Wanderung auf dem Pacific Crest Trail, eigentlich aber von einem in die Binsen gegangen Leben, von Sucht, (Selbst-) Betrug und Trauer. Beide Bücher haben einen autobiographischen Hintergrund, werden aber so erzählt, dass sie locker als Romane gelten können. Beide Bücher haben so eine starke Geschichte, dass es sehr nahe lag, Filme anhand der Vorlagen zu drehen. Dabei kann man wahrscheinlich nicht voraussetzen, dass Biografien generell gut (filmisch) zu adaptieren sind. Während man auch (so vom Verlag bezeichnete) (Auto-) Biografien an sich nicht als bloße Abbildungen eines Lebens verstehen darf - hier lässt einer etwas weg, da erfindet er etwas dazu, hier strafft er zeitlich usw. - braucht es erzählerischer Kniffe, um ein Leben wie einen Roman zu erzählen. Eine ausschließlich faktenbasierte Schilderung liefe viel eher Gefahr, langweilig zu werden, zäh - wahrhaftig (in dem Sinne, dass jemandes Erinnerungen und Empfindungen zwar tatsächlich wahrhaftig sein können, aber nicht unbedingt „wahr“), wahrhaftig also, aber dröge. Die Amerikaner können das gut: fesselnd erzählen. Vielleicht erfinden sie dann auch mehr hinzu - ich halte das für sehr wahrscheinlich. Ansonsten kämen dabei wahrscheinlich nicht Bücher heraus, bei denen sich selbst Verlage schwertun mit der Einordnung.


    Nicht, dass das ein neues Phänomen wäre. Mit „Montauk“ legte Max Frisch z. B. schon 1975 ein von ihm selbst Erzählung genanntes Stück autobiografischer Prosa vor. Auf die Folie eines real erlebten Wochenendes bringt Frisch hier Erinnerungen an frühere Beziehungen auf. Wo allein schon der Entschluss, über etwas zu schreiben, das erst noch passieren muss (falls das so gewesen sein sollte), die Dinge unweigerlich ein Stückweit verfälscht, und Frisch auch hier natürlich die schriftstellerische Entscheidung trifft, was er (aus-) erzählt und was er weglässt oder allenfalls andeutet, fügt er dem äußeren Erlebnis ein inneres hinzu. Damit dehnt er das postulierte „nur Schildern, was an diesem Wochenende passiert“, auf mehrere Ebenen aus, die eine gegenwärtige und zahlreiche vergangene. (Übrigens eine interessante Ausgangsposition, finde ich.)


    Ich habe den Eindruck, dass solche „Hybride“ zunehmen auf dem Buchmarkt. Und, dass das entscheidend damit zu tun hat, dass wir immer stärker daran gewöhnt sind, dass Menschen ihre Erfahrungen mit anderen - Fremden - teilen. Auch und gerade intime. 1975 waren die Frauen, über die Frisch schrieb, wahrscheinlich noch um einiges empörter, erschrockener …, über sich selbst in einem Buch zu lesen als sie es heutzutage wären (so, wie (die bei Erscheinen des Buches bereits verstorbene) Ingeborg Bachmann sich dem entschieden verwehrt hatte). Das bringt einen in die Bredouille: Während man einerseits schätzen kann, solche Einblicke zu bekommen, möchte man selbst nun kein solcher „Steinbruch“ sein, aus dem ein Schriftsteller/eine Schriftstellerin „Literatur macht“.

  • …Das bringt einen in die Bredouille: Während man einerseits schätzen kann, solche Einblicke zu bekommen, möchte man selbst nun kein solcher „Steinbruch“ sein, aus dem ein Schriftsteller/eine Schriftstellerin „Literatur macht

    Man ist ja einerseits geschützt, denn wenn jemand mich deutlich erkennbar, womöglich noch mit Namen, in einem Roman verwenden will, dann muss er damit rechnen, dass ich ihm Schwierigkeiten mache, sollte ich es vor Veröffentlichung erfahren, möglicherweise sogar diese verhindere. Besser ist, man redet mit denjenigen, die man als "Steinbruch" nutzen möchte.

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    Emanuel von Bodmann


  • Als ich im Pleistozän mal mit Selim Özdogan gelesen habe, sind wir beide anschließend von einer Provinzjournalistin interviewt worden, und die stellte doch tatsächlich diese eine Frage, die man wirklich nicht mehr hören will. Ist das autobiografisch? Özdogan hat sie irritiert angeschaut und sinngemäß geantwortet, dass natürlich alles autobiografisch ist, das ginge doch überhaupt nicht anders, aber das hieße nicht notwendigerweise, dass man auch alles (selbst) erlebt hat, wovon man erzählt. Es könne nur niemand anderes genau diese Geschichte genau so erzählen. Davon abgesehen wäre die erzählte Geschichte natürlich Bestandteil der Biografie, also direkt autobiografisch. Diesen Teil hatte die Journalistin, soweit ich mich erinnere, nicht verstanden.


    Nach jeder Neuerscheinung von mir gibt es im erweiterten Freundeskreis ein kleines Spielchen. Man versucht, herauszufinden, ob man für eine Figur Pate stand, und für welche. Manchmal kläre ich das Rätsel auf, manchmal nicht.


    Wenn man aber tatsächlich halbautobiografisch schreibt (oder vollautobiografisch, also auf jede Fiktionalisierung verzichtet), muss man sich sehr genau überlegen, wen man erwähnt und wie man diese Personen inszeniert. Dabei geht es einerseits um das soziale Umfeld, das man sonst riskiert, und andererseits um die mögliche Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Hierfür muss die Figur allerdings auch für Außenstehende gut erkennbar sein, und es müssen noch diverse weitere Kriterien erfüllt sein. Urteile wie das berühmte "Esra"-Urteil gegen Maxim Biller sind hierzulande sehr selten.


    Und man hat auch ein Recht an der eigenen Geschichte - verbunden mit dem Recht, sie zu erzählen. Außerdem wird das allgemeine Persönlichkeitsrecht nur in schwerwiegenden Fällen der Kunstfreiheit übergeordnet. Allerdings erleben wir hier auch gerade eine Verschiebung der moralischen Parameter. Und die Verlage, Redaktionen, Agenturen usw. sind vorsichtiger geworden. Nein, nicht vorsichtiger. Sie sind feige geworden. Sie kuschen vor der Öffentlichkeit und opfern ihre Künstlerinnen und Künstler. Aber das ist ein anderes Thema.


    Ich freue mich darüber, die Literatur nutzen zu können, um Aspekte und Erfahrungen zu verarbeiten, die mich beschäftigen und vielleicht sogar traumatisiert haben, und ich habe auf diese Weise einigen Leuten etwas mitgeteilt, das ich ihnen von Angesicht zu Angesicht nicht zu sagen gewagt hatte. Die Auswirkungen waren allerdings gering; das Unaussprechliche auszusprechen macht es nicht hörbarer. Aber trotzdem war mir das wichtig.


    Doch die Standardantwort auf die klassische Frage lautet natürlich: Nein, ich bin ja schließlich nicht bescheuert. 8) Und ich finde es schöner, mir Figuren und Geschichten auszudenken, als von etwas zu erzählen, das mir wirklich selbst passiert ist. Zuweilen wünsche ich mir, ich hätte das erlebt, was meinen Figuren passiert, oder umgekehrt, aber diese großartige Freiheit, die wir haben, in das Korsett dieser langweiligen Biografie zu zwingen, das wäre verschenkte Energie, finde ich. Deshalb lese ich Romane, die vermeintlich auf wahren Geschichten basieren, auch nur ausnahmsweise.

  • Mag sein, dass ich auch in diesem Beitrag wieder Mokkatässchen auf den Tisch stelle 🙂: Ich meine, es nimmt zu. Zwar haben zu jeder Zeit Schriftsteller aus ihren Erfahrungen geschöpft, aber das auch zu offenbaren, war nicht immer so „in“ wie heute. Das scheint mir etwas damit zu tun zu haben, dass die Verfasser von Romanen heute viel präsenter in den Medien sind. Das gilt natürlich nicht für jede Art Roman. Bei einem Thriller fragt selbstverständlich niemand „Haben Sie das tatsächlich erlebt?“, man freut sich am Nervenkitzel und dass der Autor „trotzdem“ so ein sympathischer Mensch ist! Aber diese Frage ist beileibe nicht immer verkehrt; bei Bov Bjergs „Serpentinen“ zum Beispiel fragte sich sogar das Feuilleton, was in dem Roman autobiographisch sein könnte. (Ich habe nicht verfolgt, ob/wie er sich dazu geäußert hat.)


    Was die Banalität eigener Alltagserfahrungen angeht: Dieses Wochenende Frischs an der amerikanischen Ostküste birst nun auch nicht gerade vor Originalität. So oder so ähnlich können Ausflüge tausendfach verlaufen. Dass ich es im Fall von „Montauk“ dennoch gerne gelesen habe, liegt an der Umsetzung, der Art und Weise, wie einer auf eine Sache blickt und sie in Worte fasst. Das ist eine Kunst für sich, bei der Fantasie nicht der entscheidende Faktor ist und ein Bescheiden auf das tatsächlich Erlebte auch kein Korsett.

  • Das hast Du schön gesagt, Petra, aber möglicherweise zeigt sich das Fantasievolle nicht so offensiv, weil es kunstvoll kanalisiert wurde. Reduktion und Simplizität können auch das Ergebnis hochkreativer Vorgänge sein. Etwas ist nicht notwendigerweise authentisch, nur weil es bescheiden und alltäglich daherkommt.


    Soweit ich weiß, ist Bov Bjergs "Serpentinen" nicht autobiografisch. Bov stammt zwar aus der Gegend, in der das spielt, aber damit hat es sich auch schon an Überschneidungen. Gerade dieser Roman, den nicht wenige quälend langweilig fanden, während andere (wie ich) begeistert waren, inszeniert seine eigene Künstlichkeit durchaus in erkennbarer Weise, finde ich, etwa dadurch, dass der Name des Jungen nie erwähnt wird, dass es Rituale gibt, die deutlich vor allem dramaturgische Zwecke erfüllen, usw. usf. Aber so lange eine gute Geschichte gut erzählt wird, ist mir das egal, ob sie einen wahren Kern hat oder nicht (siehe oben - ein wahres Kernchen ist unvermeidlich). Was ich nicht mag, das sind Geschichten, die ich gut finden soll, nur weil sie authentisch sind.

  • Ich will noch etwas erwähnen, das mich in diesem Zusammenhang umtreibt, nämlich die Frage, wie ich als Leser mit dem Werk von Autorinnen und Autoren umgehen soll, die mit etwas offenkundig Autobiografischem sehr erfolgreich waren oder sind, also genau in dieses Schema fallen. Du hast Katja Oskamp an anderer Stelle erwähnt. Ich habe "Marzahn, mon amour" geliebt, weil es wirklich schön erzählt ist, weil es zwei Welten verbindet, weil es schicksalhaft ist - und weil es uns Autoren in ganz besonderer Weise betrifft, denn mit der Frage, die zu jener Antwort führte, ohne die es dieses Buch nicht geben würde, haben wir uns alle schon befasst. Katja Oskamp hatte vorher veröffentlicht, aber kaum verkauft, und ein paar Literaturpreise bekommen, konnte ihr aktuelles Manuskript aber nicht bei einem Verlag unterbringen - also ist sie Fußpflegerin geworden. Im März des vergehenden Jahres ist ihr im Jahr 2010 zuerst veröffentlichter Roman "Hellersdorfer Perle" abermals erschienen (Hellersdorf ist ein Nachbarbezirk von Marzahn), aber nach meinem Eindruck will den kaum jemand lesen. Das liegt vielleicht daran, dass er nicht ganz so autobiografisch ist, dass Oskamp nicht "einfach" nacherzählen musste, was ihr berichtet wurde, sondern dass die fiktionale Ebene breiter ist. Möglicherweise beherrscht sie das einfach nicht so gut, ist es nicht ihre Stärke, aber Biografien sind leider auch nicht endlos ergiebig. Diese Situation ist, um es einfach zu sagen, was mich normalerweise davon abhält, mich mit dieser Art von Literatur zu beschäftigen.


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  • In der Süddeutschen Zeitung stand vor einigen Wochen in einer Rezension der Satz , dass Romane und Erzählungen ja bekanntermaßen alle autobiografisch seien. Das hat mich geärgert und am weiterlesen der Rezension gehindert. Ich war sogar drauf und dran, das Abo der SZ abzubestellen, hab dann aber ein paar Mal tief Luft geholt und mir klar gemacht, dass erstens diese Rezension nicht für alles andere in der Zeitung steht und zweitens gegen diese merkwürdige Vorstellung schwer anzukommen ist. So wie gegen viele andere merkwürdige Vorstellungen, etwa die, dass ein gewisser Bill G. eine Weltverschwörung anführt. Mich überkommt dann immer eine schreckliche Hilflosigkeit, weil ich weiß, dass ich gegen so etwas nicht argumentieren kann. Heute morgen las ich in der SZ den Bericht über jemanden, der so eine Art Trauerhilfe bei Corona-Toten ist, der Angehörige besucht und mit ihnen spricht und schwerkranke Corona-Patienten in der Klinik betreut. Der erzählte, dass er bei einer Demo von Impfgegnern auf jemanden zugegangen sei, der ein Schild mit der Aufschrift "Ich kenne keinen Corona-Toten" trug. Ihm habe er gesagt, das er auch niemanden kennen, und keinen der jemanden kennt, der schon mal auf dem Mond war. Ab sofort wäre er davon überzeugt, dass es den Mond nicht gibt. Das hat mich froh gestimmt. Man kann solche Leute nicht durch Argumente zur Einsicht bringen, aber man muss sich auch nicht von ihnen in die Depression treiben lassen. Das beste Mittel dagegen ist der Humor. Künftig werde ich also Lesern meiner Krimis, die fragen, ob ich schon mal gemordet habe, sagen: "Möglicherweise!" ;-)

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    Emanuel von Bodmann


  • Mit dieser Frage habe ich mich in meinem ersten Posting auch befasst, HD. Es handelt sich um eine Definitionsfrage.


    Und, nein, es gibt keinen Mond.

  • Vorausgesetzt, jemand sucht sich seine Themen nicht - was aber natürlich völlig legitim wäre - ausschließlich nach dem Markt aus, dann ist jeder Roman ein Stück autobiografisch - genau: das wäre eine Definitionssache. Ich könnte also sämtliche Details dieses Romans erfinden, aus dem Vollen meiner Fantasie schöpfen, aber das, was mich dazu veranlasst hat, über genau das zu schreiben, kommt letztendlich doch aus mir. Wie ich darüber denke, gibt zudem eine Tendenz vor, in welche Richtung sich der Roman entwickelt. In der Regel kennt der Leser die Verfasser von Romanen ja nicht, ich unterstelle aber, dass vertraute Personen aus einem mehr oder weniger engen Kreis des Autors bei bestimmten Details aufmerken, nach dem Motto, ach, guck, da ist es wieder: eine Einstellung, eine prägende Erfahrung oder Erkenntnis oder offene Frage. - Was freilich nicht bedeutet, dass sich einer immer am selben Trauma abarbeiten muss.


    Darüber hinaus meine ich, dass man über die nichtigsten Dinge fesselnd schreiben kann - wie einen Wochenendausflug - wenn man sie unterfüttert mit Reflexionen, mit Dingen, die über Handlungsort, Ereignis, Person hinausweisen. Oskamp schreibt ja nicht etwa vornehmlich über Füße, sondern über Menschen. In diesem Fußpflegesalon trifft sich ein bestimmter Menschenschlag, als Individuen verschieden, aber die Nachbarschaft ist der gemeinsame Nenner; wer dort im Einzugsbereich lebt, ist oft etwas abgehängt, älter, vielleicht sogar schräg, aber die Autorin behandelt ihre Kundschaft nicht von oben herab, schlimmer noch, dass sie sich über sie lustig machen würde. Auch das zeichnet diesen Roman aus, der doch so einen profanen Handlungsort und überhaupt keine strahlenden Heldinnen und Helden aufzuweisen hat.


    Das mit dem „einfach“ Nacherzählen steht ja nicht von ungefähr in Anführungszeichen - wobei ich die auf „nacherzählen“ ausgedehnt verstehe. Es ist nicht einfach und es ist nicht nur nacherzählt. Das wäre zu flach. Dimension bekommt etwas erst durch den Hintergrund des Erzählers: durch dessen Empathiefähigkeit, Lebenserfahrung, Intellekt, die Fähigkeit, Verbindungen zu sehen und heranzuziehen, und indem er Schreibhandwerk so einsetzt, dass eine runde Sache daraus wird.

  • Vorausgesetzt, jemand sucht sich seine Themen nicht - was aber natürlich völlig legitim wäre - ausschließlich nach dem Markt aus, dann ist jeder Roman ein Stück autobiografisch - genau: das wäre eine Definitionssache.

    Natürlich. Unter der Voraussetzung, die du nennst, Petra, ist Schreiben letztendlich immer autobiografisch. Wie könnte es auch anders sein? Das beginnt bereits mit der Affinität zu einem bestimmten Stoff. Jede Geschichte speist sich aus selbst Erlebtem, den Berichten und Erzählungen anderer Menschen, dem anderswo Gelesenen, dem Beobachteten und zuletzt aus dem von uns daraus Abgeleiteten und Herausdestillierten.


    Aber, wenn ich dich richtig verstanden habe, geht es dir in deinem Eingangsposting ja in erster Linie um die Tatsache, dass im Vergleich zu früher immer mehr autobiografische Romane erscheinen, was auch meiner eigenen Beobachtung entspricht, und erst vor wenigen Tagen bin ich im Internet zufällig auf einen Artikel gestoßen, in dem es um den Boom des autobiografischen Schreibens geht. Der Artikel ist keine tiefschürfende Analyse des Phänomens, sondern benennt lediglich die Tatsache als solche und führt als Beleg eine Reihe entsprechender Autorennamen auf.


    Wirklich überraschen, so als käme dieser Boom aus dem Nichts, kann die Feststellung aber auch nicht.


    Bereits seit mehreren Jahrzehnten wird die Individualität immer stärker betont, das eigene Anderssein, das Besonderssein, bieten inzwischen die Plattformen der asozialen Medien jedem, wirklich jedem die Möglichkeit, die eigene Existenz bis ins kleinste banale Detail hinein vor den Augen eines Millionenpublikums auszubreiten oder ungefragt die eigene Meinung zu jedem beliebigen Thema in die Welt zu tröten, kommt jede noch so peinliche Selbstinszenierung, kommt jede auch noch so abstruse Meinung als vielfach verstärktes Echo zu seinem Urheber zurück und mag ihn also glauben lassen: Ich bin wichtig, bin schöner, genialer, einzigartiger, bin im Besitz der allein seligmachenden Wahrheit. Bei zigtausenden, hunderttausenden oder gar Millionen Followern kann das gar nicht anders sein. Das geht los mit der täglich aktualisierten Berichterstattung zu einem 12-Monats-80-Kilogramm-Abnehm-Challenge, geht weiter über die von Eltern ins Netz gestellte Dokumentation des letzten Kindergeburtstags ihres Sprösslings, so als wäre das ein Ereignis von der Bedeutung des ersten bemannten Mondflugs und reicht bis zu Coronaleugnern und Querdenkern, die hinter dem Feigenblatt eines zur Schau gestellten Wir gemeinsamen Demonstrierens und Forderns ihre eigene individuelle Freiheit als das Maß aller Dinge postulieren. Die Freiheit des anderen? Irrelevant.


    Aber wie könnte es auch anders sein? Seit Jahrzehnten beginnt gefühlt jeder zweite Produktname mit i - iPhone, iVeggieköttbullar, iDieses und iJenes - und ist eine ganze Generation im Geiste dieser Ich-Inflation groß geworden. Ich, ich, ich. Am Ende steht dann ein obsessionelles Bedürfnis nach iDentity.

    Diese Ich-Hypertrophie mag dann viele Menschen zu der Überzeugung verleiten, dass ihre eigene Biografie so einzigartig ist, dass sie der Menschheit unter gar keinen Umständen vorenthalten werden darf. Vielleicht liegt es daran, dass ich immer häufiger das Gefühl habe, als gäbe es mittlerweile mehr Menschen, die schreiben als solche, die lesen.


    Und jetzt ist dieser Trend eben in der Literatur angekommen. Dass es diesen Trend gibt, bedeutet in erster Linie aber auch, dass für diese Art Romane ein Millionenpublikum vorhanden ist. Und an dem Punkt frage ich mich, was für diese Menschen das entscheidende Kriterium ist, das sie zum verstärkten Lesen autobiografischer Romane treibt. Dass in autobiografischen Romanen die interessanteren Geschichten erzählt werden, wird ja niemand ernsthaft behaupten wollen und ebenso wenig, dass diese Geschichten besser erzählt, besser geschrieben sind. Aber was dann? Kann es sein, dass es diesen Menschen weniger um die Geschichte als um die Person der Autorin oder des Autors geht, dass sie einen zusätzlichen Kick aus der Tatsache beziehen, dass das alles ja tatsächlich passiert ist, dass sie teilhaben wollen am Leben einer real existierenden Person so wie am Leben der Royal Families oder dem der Stars und Sternchen der Kategorien A bis C?

    Aber wenn das zutrifft, sind viele Leserinnen und Leser autobiografischer Romane eher als Follower zu sehen. Überspitzt formuliert könnte man dann sagen, dass in nicht wenigen Fällen autobiografische Romane so etwas wie das Reality-TV für Menschen mit höherer Schulbildung sind.

    Und ich finde es schöner, mir Figuren und Geschichten auszudenken, als von etwas zu erzählen, das mir wirklich selbst passiert ist. Zuweilen wünsche ich mir, ich hätte das erlebt, was meinen Figuren passiert, oder umgekehrt, aber diese großartige Freiheit, die wir haben, in das Korsett dieser langweiligen Biografie zu zwingen, das wäre verschenkte Energie, finde ich. Deshalb lese ich Romane, die vermeintlich auf wahren Geschichten basieren, auch nur ausnahmsweise.

    Yep. Schon seit jeher mache ich einen großen Bogen um Romane, die plakativ als autobiografisch beworben werden. Aber erst durch diese Diskussion hier habe ich begonnen, über die Gründe nachzudenken. Korsett, ja, dieses Wort trifft es genau. Wenn ich der Autorin oder dem Autor eines autobiografischen Romans abnehme, dass die Geschichte tatsächlich auch autobiografisch ist, werde ich, anders als bei einem Roman, der nichts anderes will, als eine fiktionale Geschichte zu erzählen, als Leser schlagartig der eigenen Vorstellungskraft beraubt, die mir erst eine aktive Teilhabe an der Geschichte ermöglicht. Und damit verschwindet ebenso schlagartig mein eventuell vorhandener Wunsch, eine solche Geschichte zu lesen. Stattdessen schaue ich dann lieber eine Dokumentation auf ARTE.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

  • Das mit dem „einfach“ Nacherzählen steht ja nicht von ungefähr in Anführungszeichen - wobei ich die auf „nacherzählen“ ausgedehnt verstehe. Es ist nicht einfach und es ist nicht nur nacherzählt. Das wäre zu flach. Dimension bekommt etwas erst durch den Hintergrund des Erzählers: durch dessen Empathiefähigkeit, Lebenserfahrung, Intellekt, die Fähigkeit, Verbindungen zu sehen und heranzuziehen, und indem er Schreibhandwerk so einsetzt, dass eine runde Sache daraus wird.

    Liebe Petra, danke für diesen Absatz. Ich habe ja ein bisschen das gemacht, was Du oben schreibst - einen biografischen (nicht autobiografischen) Roman geschrieben. Der Ansatz war allerdings von Anfang an, einen Roman zu schreiben, kein Sachbuch i.S.v. Biografie. Der Trigger, dies unbedingt schreiben zu wollen, lag - natürlich - in meiner eigenen Biografie, der Erfahrung, mich nach dem Zusammenbruch einer Gesellschaft in einer neuen zurechtfinden zu müssen. Eine einschneidende Erfahrung, die sich für mich selbst relativierte, je näher ich mich mit der Geschichte meines Helden beschäftigte, der diese Erfahrung gleich mehrfach in seinem Leben machen musste und dessen Leben insofern ziemlich exemplarisch ist und - das war das Spannende - meiner eigenen Erfahrung eine Dimension hinzufügte.

    Und: Nein, es war nicht einfach und es war nicht einfach Nacherzählen, sondern es war die ganze Zeit ein Suchen danach, wie ich seine Geschichte erzähle, damit sie auf genau diese Idee/Erfahrung "einzahlt". Und ich glaube, es ist am Ende eine runde Sache geworden.


    Ich musste jetzt mal eine Lanze für das "nach einer wahren Geschichte"-Schreiben brechen - aber natürlich hat das in diesem Fall nichts mit dem von Dir, Jürgen, beschriebenen Bedürfnis zu tun, aus jedem F*** etwas Besonderes machen zu wollen. Das finde ich in der Tat auch etwas... nun ja: Fragwürdig und vor allem ziemlich langweilig.

  • Der Trigger, dies unbedingt schreiben zu wollen, lag - natürlich - in meiner eigenen Biografie, der Erfahrung, mich nach dem Zusammenbruch einer Gesellschaft in einer neuen zurechtfinden zu müssen. Eine einschneidende Erfahrung,

    Die Frage ist doch nicht, ob Lebenserfahrungen transformiert werden; was denn sonst? Es kommt darauf an, dass etwas Existenzielles "transformiert" wird und nicht nur die Scheidung der Eltern oder ein besonders garstiger Schnupfen. Viele Geschichten leiden an einer Erlebnis-, Gedanken- und Ausdrucksarmut - für die die AutorInnen nichts können, da wir im Frieden etc. aufgewachsen sind. Mit Ausnahme vieler DDR-BürgerInnen, denen man ein Leben genommen hat.

  • @ Juergen P.: Der ersten Hälfte Deines Beitrags stimme ich zu, der zweiten, oh, Wunder, nicht.


    Fan-tum in Bezug auf Schriftsteller kenne ich für mich nicht, will aber nicht bestreiten, dass dieses Phänomen bei manchen Bestseller-Autoren eine Rolle spielen könnte. Wenn ich mich an meine Leseanfänge erinnere, an Pucki, Hanni, Nanni und Carrie 🙂, waren mir die Figuren und die Handlung wichtig, die, die sie erschaffen haben (Magda Trott, Enid Blyton und Stephen King) nicht. Ich lese bis heute einen Roman des Romans wegen, der Verfasser ist mir in aller Regel weitgehend unbekannt und gleichgültig. Wenn mir der Roman gefallen hat, schaue ich mir vielleicht die Biografie des Autors an, vielleicht. Manchmal auch nur seine übrigen Veröffentlichungen, so vorhanden.


    Wenn einer etwas so zu sagen hat, dass es unterhaltend ist, spannend, einem eine neue Sichtweise eröffnet … - je nach dem, was einem wichtig ist - warum soll das Erlebte dann hinter dem frei Erfundenen zurückstehen? Ich kenne genügend fiktionale Stoffe, die ihrerseits in Korsetts stecken, nämlich, weil sie Trends hinterherhecheln. Serienmörder sollen seit Hannibal Lecter gerne hochintelligent sein, je mehr Blut fließt, desto besser, je abartiger desto besser. Vampire setzen Trends oder Millionäre mit ulkigen SM-Fantasien. So wenig, wie „echtes Erleben“ ein Qualitätsmerkmal sein kann, ist es Fantasie um jeden Preis. Ich habe einen Roman gerne glaubwürdig, was in Fällen, wo ich nicht genau Bescheid weiß, zugegeben leichter zu erreichen ist. Manche Fantasieprodukte sind aber auch so schlecht daherfabuliert, dass es gar keinen Experten braucht, um zu erkennen, dass da nichts stimmt, oder konkreter: stimmig ist. Ja, manche Genres funktionieren zudem nur unter Abkehr von der Wirklichkeit, Krimis z. B., trotzdem kann da ein persönlicher Einblick nicht schaden. Darüber hinaus glaube ich, dass einer, der vordergründig (!) über das Weißen einer Wand schreibt, mich, wenn er es denn kann, mehr anspricht, als wenn einer über, meinetwegen, blutsaugende Elfen im Catsuit schwadroniert. Wenn einer erzählen kann und etwas zu sagen hat, geht es nämlich in dem Text nicht nur darum, dem Leser zuzumuten, Farbe beim Trocknen zuzusehen, während im anderen Szenario der Bär steppt und es trotzdem ermüdend sein kann. Ich habe den Eindruck, dass Freiheit des freien Erfindens im Vergleich zu Fesseln, die einem Erlebtes - angeblich - anlegen, überschätzt wird. Man hat ja Freiheiten, derer man sich bedienen kann, auch wenn es einen wahren Kern gibt. Man kann übertreiben, meinetwegen aus einer Familie, die ein Vater neben der eigenen (aus Sicht des Verfassers) hat, zwei oder drei machen, und und und.


    Ich glaube, ich lege demnächst mal so eine „Montauk-Session“ ein. Zeit werden wir ja höchstwahrscheinlich bald wieder haben, wenn auch nicht zum Reisen. Das ist aber auch nicht nötig: Montauk kann überall sein. In Paris wie in Castrop-Rauxel. Lynn kann jeder sein - oder auch niemand.

    Selbst wenn zu erwarten ist, dass dabei weniger etwas herauskommt, das an Max Frisch erinnert, und dafür mehr an Lieschen Müller, die über den letzten Kindergeburtstag oder das Purzeln ihrer Fettpolster schreibt (ich *bin* Lieschen Müller!): Ich möchte jetzt mal wissen, was dabei entsteht 🙂!

  • Petra: Ich glaube, in einem Punkt habe ich mich vielleicht missverständlich ausgedrückt.

    Selbstverständlich sind Geschichten, die sich ausschließlich oder vornehmlich aus der Fantasie des Autors speisen, nicht schon per se auch die besseren Geschichten. Ob eine Geschichte interessant, packend erzählt, unterhaltsam und/oder gut geschrieben ist, hat nicht grundsätzlich etwas mit der Frage zu tun, ob sie in einem strengen Sinn autobiografisch ist oder nicht.

    Persönlich habe ich dennoch zwei Probleme mit autobiografischen Romanen:


    - Das Wissen darum, dass das, was eine Autorin oder ein Autor erzählt, sich so oder oder so ähnlich tatsächlich auch zugetragen hat, lässt meiner eigenen Vorstellungskraft nur noch eine Statistenrolle. Diese Vorstellungskraft ist aber die unabdingbare Voraussetzung für ein möglichst intensives Nacherleben oder, besser gesagt, Wiedererleben des Erzählten, und das wiederum macht für mich den wesentlichen Reiz des Lesens einer Geschichte aus.

    - Autobiografisches Schreiben empfinde ich, sobald das Geschriebene die Öffentlichkeit sucht, immer auch als, nun ja, ein wenig exhibitionistisch. Was veranlasst einen Menschen dazu, die eigene Biografie als so wichtig, als so außergewöhnlich wahrzunehmen, dass das Verlangen übermächtig wird, von dieser eine möglichst breite Öffentlichkeit in Kenntnis zu setzen? Warum redet ein solcher Mensch nicht mit guten Freunden über das, was ihn so bewegt, auch und gerade über manchmal intimste Details seiner Existenz, mit Menschen also, die über die eigentliche Geschichte hinaus in der Regel auch eine umfassende Kenntnis der Hintergründe und Begleitumstände haben dürften, bei denen also von vornherein eine angemessene Verständnisfähigkeit vorausgesetzt werden kann, eher jedenfalls als dies bei Erika und Max Mustermann anzunehmen ist? Und warum erzählt ein solcher Mensch nicht eine Geschichte, die von seiner Biografie mehr oder weniger deutlich inspiriert ist, ohne sie indes mit dem Label „autobiografisch“ zu etikettieren? Warum stattdessen dieses Beharren auf der Feststellung: Das bin ich. Das habe ich erlebt. Das ist mir widerfahren. Mir.

    Ich fühle mich von einer solchen Selbstentblößung eines mir ansonsten völlig fremden Menschen peinlich berührt. Das Problem mag ausnahmslos auf meiner Seite liegen, denn ich gehe davon aus, dass andere Menschen das ganz anders empfinden. Aber das hilft mir nicht weiter. Ich empfinde nun mal so und nicht anders.


    Die Frage, die mich im Rahmen dieser Diskussion aber mehr als alles andere beschäftigt, ist die: Wenn die in autobiografischen Romanen erzählten Geschichten mehrheitlich ebenso interessant, berührend, unterhaltsam und gut geschrieben sind wie die meisten fiktionalen Geschichten, was macht dann für eine wachsende Zahl an Leserinnen und Leser den besonderen Reiz gerade autobiografischer Romane aus? Worauf gründet sich dieser aktuelle Boom? Und warum gibt es ihn jetzt? Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Kategorien autobiografisch und fiktional, abgesehen davon also, dass manche Romane halt autobiografisch sind und andere eben nicht?

    Die Schlussfolgerung, die sich daraus für mich zwingend ergibt, ist die, dass im ersten Fall vornehmlich nicht die Geschichte als solche interessiert sowie die Lebendigkeit der Romanfiguren und die Angemessenheit und Schönheit der gefundenen Sprache, sondern dass es den Leserinnen und Lesern, die sich überdurchschnittlich oft für die Lektüre eines autobiografischen Romans entscheiden, in erster Linie um die Person der Autorin oder des Autors geht, dass sie den dokumentarischen Charakter eines solchen Romans schätzen und mehr als alles andere das Wissen darum, dass in diesem nicht eine „konstruierte“ Realität mit „erfundenen“ Menschen in ihr gezeigt wird, sondern die Realität, mit real existierenden Menschen, die in dieser Realität leiden, vielleicht auch sterben, die sich ängstigen, die hoffen, die sich manchmal auch freuen.

    Um es ganz klar zu sagen: Ich spreche hier ausschließlich von denjenigen, die einen Roman in erster Linie aus dem Grund lesen, weil er autobiografisch ist. Und so unweihnachtlich das jetzt klingen mag: Das hat für mich dann doch ein Geschmäckle im Sinne der klassischen Paarung Exhibitionismus + Voyeurismus.


    Weihnachtliche Grüße:)


    Jürgen

  • @ Juergen P.: Hat ein Leser denn nicht immer eine Statistenrolle (ich würde sogar sagen eine Zuschauerrolle) inne, egal, ob ein Roman dem Erleben seines Verfassers entspringt oder seiner Fantasie? Er hat die Freiheit (oder folgt einer Notwendigkeit, wie man‘s nimmt), sich das Aussehen der Figuren vorzustellen, er wandelt die Worte vor seinem geistigen Auge um in Bilder; anders als beim Schauen eines Films, wählt er die Besetzung und die Ausstattung (im vom Autor abgesteckten Rahmen). Aber darüber hinaus? Bei einem offenen Ende darf/muss der Leser entscheiden, aber sonst? Wieso gibt Dir ein fiktionaler Stoff Freiheit, die Dir ein nicht (oder halb-) fiktionaler Stoff nicht gibt? Auch da weiß man doch in der Regel nicht alles vorher?

    Kannst Du das bitte noch weiter ausführen? Du erklärst das ja schon, aber ich kann das noch nicht nachvollziehen, und ich würde das gerne verstehen.


    Deine Sicht wird wahrscheinlich von vielen geteilt. Kann sein, dass autobiografische Stoffe die Tendenz haben, zu befremden.

    Ist womöglich immer ein bisschen Selbstverliebtheit dabei, über sich selbst zu schreiben? Immerhin muss sich einer ernst nehmen, der über sich schreibt - was ja generell nicht verkehrt ist. Selbstüberschätzung? Kann sein. Was mich nicht interessiert, muss ich aber ja nicht lesen.

    Was mich interessiert, sind Erfahrungen, die Menschen mit anderen Menschen teilen, gar nicht mal so das Einzigartige. Das kann etwas Befreiendes haben, wenn es zwar sehr wohl andere Menschen in einer ähnlichen Situation gibt, aber eben nicht darüber gesprochen wird.

    So kann auch ein und dasselbe Thema den einen peinlich berühren, während ein anderer dankbar ist, dass jemand darüber spricht.


    Ein Gespräch mit Freunden ist doch etwas völlig anderes als ein Roman. In einem Gespräch sucht oder gibt man womöglich etwas wie Rat, Erleichterung, Absolution … man teilt eine Erfahrung mit einem vertrauten Menschen und erhält Resonanz - und möchte wahrscheinlich, dass Vertraulichkeit gewahrt bleibt. Ein Roman ist kein Gespräch, auch wenn auch da so etwas wie ein (einseitiger) zeitversetzter Austausch stattfindet. Wenn schon, dann ist er eine Ansprache. Öffentlichkeit Voraussetzung. Ein autobiografischer Roman ist eine Umsetzung eines Lebens oder einer Erfahrung in Literatur; und als solches ganz anderen Regeln unterworfen als z. B. ein Gespräch oder auch als andere Textformen, wie Sachbuch oder (Selbst-) Porträt. Die meisten (oder alle) autobiografischen Romane werden sich zudem nicht streng an Fakten halten, weil „Geschichten, die das Leben schreibt“ selten gut erzählt wären - zu verworren, zu langweilig, zu umständlich … Autofiktion erschafft so eigene „Wahrheiten“.


    Es wird übrigens gesagt, dass Dürrenmatt dieser Selbstoffenbarung Frischs in „Montauk“ skeptisch gegenüberstand bzw. sie ihm nicht abgenommen hat - wer ihn kennt, weiß, dass er so nicht ist, soll er sich geäußert, es wenn auch wieder zurückgenommen haben.


    Ich weiß nicht, was das gesteigerte Interesse - vorausgesetzt, der Eindruck täuscht nicht - hervorruft. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass Menschen Bestätigung suchen? Vielleicht gibt es - neben dem sicher ungebrochenen Trend nach Zerstreuung und Ablenkung, die Flucht in Traumwelten - auch einen, sich wiederfinden zu wollen, mit seinen Ängsten, Fehlern, Makeln, Fragen …? So etwas findet man nicht in erfundenen Romanen, dafür braucht es Autoren, Menschen, die hinter den Romanen stehen und sagen: Ich weiß, wie es ist.

  • Frank McCourt hat mit "Die Asche meiner Mutter" Anfang der Neunziger wochenlang rund um den Globus die Bestsellerlisten angeführt. Ich habe die anrührende und packende autobiografische Erzählung ebenfalls gelesen - wie gefühlt jeder Zweite damals. Der Nachfolger ("EIn rundherum tolles Land") und die außerdem nachgelegten Anthologien haben nicht auch nur annähernd das ausgelöst, was "Die Asche meiner Mutter" geschafft hat. McCourt war ein One-Hit-Wonder, und dieser eine Hit war auch noch stark autobiografisch.


    Das Schriftstellersein oder das Erzählenkönnen besteht für mich aus zwei Komponenten - zum einen aus der Fähigkeit, Prosa zu erzeugen, also dazu in der Lage zu sein, erzählenden Text so zu verfassen, dass er richtig gut lesbar ist. Und zum anderen aus der Fähigkeit, sich Figuren und Geschichten auszudenken, also Fiktion zu entwickeln. Wer nicht beide Fähigkeiten bzw. nur die erste beherrscht, muss aus einem rasch schwindenden Fundus schöpfen - so, wie es den meisten Autorinnen und Autoren ergeht, die eine exzellente autobiografische Geschichte vorgelegt haben, um danach dann beim Versuch, das irgendwie zu wiederholen, indem die aufgebrauchten biografischen Komponenten durch fade ausgedachte, sehr ähnliche Elemente ersetzt werden, böse abzukacken. Das mag arrogant klingen, aber für mich sind diese Leute nicht wirklich Schriftsteller. Damit will ich nicht die Fähigkeiten oder das Werk kleiner reden, aber der Beruf Schriftsteller setzt beide erwähnten Fähigkeiten voraus.

  • Ergänzung: Mir geht es hier wirklich nur um fiktionale Belletristik. Und das Erfinden von Geschichten kann auch im Finden von Geschichten bestehen.

  • Petra: Bevor ich versuche, dir zu antworten, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich erst durch diese Diskussion hier begonnen habe, über (vermeintliche?) Besonderheiten des autobiografischen Schreibens nachzudenken. Dementsprechend tastend und von einer unbestrittenen Unsicherheit geprägt sind meine Versuche, Antworten zu finden.


    @ Petra & @all: Ich bin selbst erstaunt über meine tiefsitzende Aversion sowohl gegenüber dem autobiografischen Schreiben wie der Lektüre autobiografischer Romane, eine Aversion, derer ich mir bisher kaum bewusst war, ganz sicher nicht, was deren Ausmaß anbelangt, und die spürbar über die Verstandesebene hinausgeht.

    Niemals käme ich auch nur im Traum auf die Idee, meine Biografie oder Teile von ihr zu einem autobiografischen Roman zu „verwursten“, einmal ganz abgesehen von der Frage, wie interessant oder banal meine eigene Geschichte auf andere Menschen wirken könnte. Alles, was ich bisher geschrieben habe, Abgeschlossenes, Begonnenes und Abgebrochenes, enthält autobiografische Elemente. Aber diese Elemente betreffen eher Nebenaspekte, ein auch für mich typisches Interagieren des Protagonisten mit dieser oder jener Art Mensch zum Beispiel, das Vorkommen mir vertrauter Orte, von mir geschätztes Essen oder dessen Gegenteil, real existierende Menschen, die sich mehr oder weniger stark verfremdet als Nebenfiguren in meinen Geschichten wiederfinden ... solche Sachen. Aber deshalb würde ich diese Geschichten niemals autobiografisch nennen wollen.


    Ich glaube, zu verstehen, was einen Menschen dazu treibt, unbedingt die Geschichte des eigenen Lebens erzählen zu wollen. Dennoch hält sich mein Verständnis dafür in Grenzen. Welchen Vorteil, auch für den Leser, bietet die literarisch aufbereitete Präsentation der eigenen Existenz im Vergleich zu einer ganz oder teilweise erdachten Existenz? Dass sich Autorin oder Autor in der eigenen Existenz besser auskennen und daraufhin glauben wollen, sagen zu können: Ich weiß, wie es ist? Zu wissen, wie es sich anfühlt, ja. Aber zu wissen, wie es ist? Ich sehe da einen bedeutenden Unterschied. Wäre die Sache so eindeutig, wären Psychologenpraxen wohl deutlich geringer frequentiert. Kaum etwas ist so bruchstückhaft, so verlogen manchmal, so „fiktional“ wie unsere Selbstwahrnehmung und das daraus abgeleitete Selbstbild. Für etwas anderes sind wir uns selbst einfach zu nah. Das bedeutet dann aber auch, dass die Nacherzählung unserer Existenz tatsächlich eine Interpretation des Erlebten ist, nicht mehr und nicht weniger.


    Einen Vorteil sehe ich eher auf Seiten einer von vornherein als fiktional angelegten Geschichte. Die verlangt einem Autor eine ungleich größere Disziplin ab, die Geschichte, die Figuren, die verwendeten Stilmittel zu reflektieren und auf ihre Plausibilität und Angemessenheit hin zu überprüfen. Gemeint sind hier natürlich nicht solche Romane oder komplette Genres, die primär darauf abzielen, das Verlangen einer breiten Leserschaft nach Eskapismus zu bedienen. Gemeint sind Geschichten, die vergessen lassen wollen, dass sie fiktional sind. Das zu erreichen, stellt eine Herausforderung dar, der ein autobiografisch schreibender Autor nicht in jedem Fall und auch nicht in gleichem Maße gerecht werden muss. Ob er es könnte? Vielleicht. In anderen Fällen vermutlich eher nicht. Keine Ahnung. Tom erwähnt „Die Asche meiner Mutter“ von Frank McCourt. An diesem Beispiel wird die Problematik sehr schön deutlich. Ein Autor erzählt auf beeindruckende Weise eine autobiografische Geschichte, die zum Bestseller wird, und schafft es danach nicht mehr, etwas von vergleichbarer Güte nachzulegen. Aber vielleicht hatte McCourt ja auch nie die Absicht, über diese eine Geschichte hinaus, die er in Angela’s Ashes und 'Tis erzählt, etwas anderes erzählen zu wollen, hatte er in dieser einen Geschichte alles gesagt, was er hatte sagen wollen. Das ändert dennoch nichts an dem Problem, das auch Tom benennt, dem Problem, mit dem ein vornehmlich autobiografisch schreibender Autor grundsätzlich konfrontiert ist, nämlich nur aus einem rasch schwindenden Fundus schöpfen zu können, während, wie ich anfügen möchte, die Erzählerin oder der Erzähler fiktionaler oder überwiegend fiktionaler Geschichten theoretisch eine unbegrenzte Zahl an Stoffen zum Gegenstand seines Schreibens machen kann.

    Hat ein Leser denn nicht immer eine Statistenrolle (ich würde sogar sagen eine Zuschauerrolle) inne, egal, ob ein Roman dem Erleben seines Verfassers entspringt oder seiner Fantasie?

    Nein. Für mich ganz sicher nicht. Würde ich mich beim Lesen eines Romans ausschließlich als Zuschauer fühlen, würde ich im Gegensatz zu früher die Lektüre jetzt sehr schnell und endgültig abbrechen. Bei Filmen ist das tatsächlich anders. Da weiß ich in der Regel von vornherein, dass ich mich anderthalb Stunden lang auf den Konsum einer Abfolge von bis ins letzte Detail hinein vorgestanzten und von Emotionen lenkender Musik unterstützten Bildern einlasse. Filme und Fernsehserien schaue ich primär zum Zweck der Zerstreuung, der Ablenkung, befriedige ich mit ihnen mein Bedürfnis nach Eskapismus. Weshalb die Bandbreite dessen, was ich an Filmen und Serien konsumiere, enorm ist.

    An Bücher stelle ich ungleich höhere Anforderungen und entsprechend selektiv verfahre ich bei der Auswahl meines Lesestoffs. Eine wesentliche Anforderung besteht in einem ausreichenden Maß an Freiheit, die mir eine Autorin oder ein Autor beim Wiedererleben des Erzählten lässt. Und hier sehe ich den entscheidenden Unterschied zwischen einer als autobiografisch gelabelten Geschichte und einer Geschichte, die ohne eine solche Plakatierung auskommt. Im ersten Fall sagt mir der Autor: So und nicht anders ist es gewesen. Basta. Ende der Diskussion. Im zweiten Fall hingegen gibt mir der Autor, indem er nicht auf die Authentizität des Erzählten verweisen und auf dieser bestehen kann, mit auf den Weg: So habe ich mir vorgestellt, dass es hätte sein können. Was denkst du? Wo im ersten Fall die lindgrünen Vorhänge im Schlafzimmer lindgrün bleiben und das Lächeln der großen Liebe des Protagonisten in allen beschriebenen Einzelheiten das der großen Liebe des Protagonisten bleibt, mögen im zweiten Fall die lindgrünen Vorhänge zu Bambusrollos mutieren und wird das Lächeln der großen Liebe des Protagonisten zum Lächeln meiner großen Liebe.

    Natürlich wird der kreative Prozess auf Seiten des Autors immer ungleich umfassender sein als auf Seiten der Leserinnen und Leser. Aber auch dort findet er statt oder vielmehr findet er seine Fortsetzung und seine Vollendung.

    Mir kommt in diesem Zusammenhang immer das Wort Magie in den Sinn, die Magie, die im Aufeinandertreffen der vom Autor erschaffenen Welt einer fiktionalen Geschichte mit der Welt meines eigenen Erlebten etwas Drittes, etwas Einzigartiges entstehen lässt.


    Amen.:)


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

  • Hallo, Jürgen.


    Das hast Du großartig gesagt :anbet:anbet, und dem ist eigentlich auch fast nichts mehr hinzuzufügen. Natürlich ist meine eigene Biografie wie ein Steinbruch, aus dem ich hin und wieder Brocken reiße, aus denen dann Mauersteine für Zwischenwände oder Kellertreppen werden. Ich habe gerade eine Familie "verwurstet" (wirklich nur metaphorisch, keine Sorge), die jahrelang in der Wohnung über unserer Wohnung wohnte, und die vortrefflich in ein Ensemble gepasst hat, in ein Mehrfamilienhaus, das meine derzeitigen Hauptfiguren soeben beziehen. Ich habe diese Familie ein bisschen verändert, neu strukturiert, konturiert, ergänzt und verändert, so dass sie (nach meinem Dafürhalten) perfekt passt, aber im Kern sind es diese Leute von damals. Der Rest des Mietshausbiotops ist - weitgehend - frei erfunden, und ich hoffe, und darauf kommt es an, dass meine Leser den Unterschied später nicht bemerken werden.


    Manchmal ist es auch nur ein bisschen Sand oder Staub aus diesem Steinbruch, aber ich will die Analogie jetzt auch nicht zu weit treiben. 8)

  • Ich denke, egal was oder worüber man schreibt, es steckt immer ein Teil von einem selbst darin. Dem entkommt man als Autor kaum, sofern man das überhaupt will.

    In jeder meiner Geschichten steckt ein Teil von mir, aber ich versuche niemals, die Wirklichkeit schlicht abzukonterfeien.

    Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt!

    (Mohamdas Karamchand Gandhi)