Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September

  • Wer bin ich eigentlich gewesen? Das fragt sich Walter, nachdem er sich auf seinem Begräbnis von seinen sterblichen Überresten verabschiedet hat. Seine Frau ist nicht anwesend. Das verwundert, oder auch wieder nicht, kommt ihm doch zu Ohren, dass sie maßgeblich zu seinem jetzigen Zustand beigetragen hat. Während er nichtsahnend im Bett lag, hat Hilde ihm mit einer Axt den Schädel gespalten. Anschließend tanzte sie auf der Silvesterparty der Nachbarin ins neue Jahr. Danach verliert sich ihre Spur im tief verschneiten Wald.

    Da war er also hinüber, aber es dauerte noch Tage, bis jemandem im Dorf ihn fand. Jetzt bewohnt Walter das Dorf an der ehemaligen innerdeutschen Grenze auf eine andere Weise, nämlich zusammen mit anderen Verschiedenen. Da sind der schöne Karl, der immer noch eifersüchtig über seine Witwe Branca wacht, und der 15-jährige Norbert, der in Marschstiefeln die Wege seiner noch immer um ihn trauernden alten Mutter begleitet. Da sind der ertrunkene Junge in der roten Badehose und das Steinkind. Insofern wäre Walter gar nichts Besonderes, nur einer von vielen, und mit seinem gespaltenen Kopf nicht einmal die entstellteste Gestalt - wobei solche Äußerlichkeiten nun wirklich keinen mehr zu interessieren scheinen. Aber da ist der Hirntumor, der ihn sehr bald umgebracht hätte, wäre Hilde dem nicht zuvorgekommen. Dieses Ding in seinem Kopf hatte ihn in den letzten Wochen seines Lebens zu einem ganz anderen Menschen gemacht. Freundlich, zugewandt war er ab da, er, der so lange ein Menschenfeind und Tyrann gewesen war. Und so ist er im Tod geblieben. Ein milder, interessierter, irgendwie … lebensbejahender Mensch.


    Dorfromane scheinen momentan in zu sein, aber Angelika Klüssendorf hat mit ihrem Roman weniger ein Dorf als ein Dorfuniversum geschaffen, da ihr Dorf von den Lebenden und den Toten bewohnt wird. Die Toten beobachten die Lebenden und sind die Chronisten ihres eigenen Lebens, und manchmal, wie in Walters Fall, der zunächst so gar keine Erinnerung an sein früheres Ich hat, bedarf es dafür einiger Anstrengung.


    Als ich von den skurrilen Figuren hörte - eine 140 Kilo schwere Frau, die auf Stephen Spielberg wartet, ein Mann mit tätowierter Stirn, den alle nur Bipolarchen nennen - hätte mich das beinahe abgeschreckt. Nichts gegen ungewöhnliche Charaktere; oft genug haben sich mir die aber auch als eher substanzlos entpuppt, überzeichnet - lekyesk (persönliche Meinung, versteht sich) daherbehauptet. Klüssendorf erzählt aus dem Leben ihrer Charaktere, wie sie geworden sind, was sie sind, enthüllt Schicht um Schicht. Auf das Setting habe ich mich gerne eingelassen. Eingebettet in dieses absurde Szenario sind erschütternde/erschütternd alltägliche, oft scheiternde Beziehungen. „Vierunddreißigster September“ ist schwarzhumorig, mit Tiefe, trostlos, traurig, lustig, schnoddrig und anrührend zugleich. Und obwohl der Roman sich in eine andere Richtung entwickelt als ich vermutet hatte, möchte ich nicht ausschließen, dass genau das gut so ist.


    ASIN/ISBN: 3492059902


    PS: Ich habe mir den Roman vorlesen lassen. Die weibliche Stimme spricht Corinna Harfouch, die männliche Walter Kreye. Das Hörbuch ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Präsentation durch professionelle Sprecher einen Roman nochmals um eine Facette bereichern kann.