Rumaan Alam: Inmitten der Nacht

  • Long Island, wo Amanda und Clay den Urlaub mit ihren pubertierenden Kindern Archie und Rose in einem abgeschiedenen Ferienhaus verbringen wollen, scheint eine feindliche Umgebung für Tiere geworden zu sein: Überfahrene Rehe verwesen in Scharen am Straßenrand, Vögel brechen sich das Genick, weil sie gegen blankgewienerte Panoramafensterscheiben fliegen. Pools, immerhin, umzäunt man, weil man sich und den Feriengästen den damit verbundenen Anblick und die Umstände ersparen möchte.

    Die Familie erfreut sich am luxuriösen Haus, am Wetter und überhaupt am Gefühl, allen Pflichten entbunden zu sein. Wenn die Kinder im Bett sind, lassen die Erwachsenen es krachen. Man tut, was man im Urlaub so tut.

    Leider nur für einen Tag.

    Dann steht ein älteres Paar vor der Tür und bittet um Obdach. Im Niemandsland. Mitten in der Nacht. Ein schwarzes Paar. Etwas sei geschehen. Etwas Großes.

    Die Familie, das muss man an dieser Stelle sagen, weil es (bezeichnenderweise) überflüssig erschien, es früher zu erwähnen, ist weiß.


    So die Ausgangssituation von Rumaan Alams Roman „Inmitten der Nacht“. Es ist Alams dritter Roman, der erste, der in deutscher Übersetzung erscheint. Vor Corona geschrieben, ist der Roman in Amerika während der Pandemie zum Bestseller geworden.


    Bis zum Eintritt des „Ereignisses“ ist das ein typischer Anfang für ein Katastrophenszenario. Eingeschworener Familienverband, abgeschottet in unbekannter Umgebung, während sich „draußen“ eine Katastrophe anbahnt. Relativ breit und nicht ohne mehr oder weniger unterschwellige Andeutungen und Spitzen lernt man die Familie kennen. So richtig sympathisch ist keine der vier Personen. Man gehört zur privilegierten Mittelschicht und lebt ein mehr oder weniger zufriedenes Leben. Er ist Lehrer an einem College, sie möchte in ihrem Job - irgendwas mit Marketing - gebraucht werden, die Kinder befinden sich allein vom Alter her im Ungefähren.

    Das schwarze Paar entpuppt sich, nachdem Amanda und Clay sie schließlich widerstrebend eingelassen haben, als die Besitzer des Ferienhauses. B. H. und Ruth befanden sich auf dem Heimweg von einem Konzert, als plötzlich der Strom ausgefallen ist. Für das ältere Paar ist es unmöglich, und wenig anzuraten, in ihre Manhattaner Wohnung im 40. Stock zu gelangen. Was eigentlich passiert ist, bleibt unklar. Strom hat man zwar hier auf dem Land, Telefon, Internet und Fernsehen sind jedoch tot.

    Es entwickelt sich eine Zwangs- und Zufallsschicksalsgemeinschaft. Während „draußen“ womöglich gerade die Welt untergeht, bleibt man auf dem Grundstück. Wer Gast und wer Gastgeber, Besitzer und Fremder, ist, bleibt unklar. Amanda und Clay, interessanterweise Ruth und B. H. finanziell, gesellschaftlich und wahrscheinlich auch intellektuell unterlegen, werden in ihrer Illusion, die Hausherren zu sein, klar erschüttert, was sie aber zum Beispiel nicht daran hindert, nonverbale Botschaften zu platzieren, die einen eigentlich eher an Reviermarkierungen im Tierreich denken lässt. Man sorgt sich natürlich und spekuliert, geht aber gleichzeitig davon aus, dass „draußen“ schon noch alles so ist, wie man es gewohnt ist - auf der Heimfahrt will man in einem Imbiss einkehren. Das, weiß der Leser, denn der ist vom allwissenden Erzähler mit einem Wissensvorsprung ausgestattet, ist leider zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden.


    Eigentlich ist dieses ungewisse Katastrophenszenario eine Ausgangslage, bei der Schriftsteller wie Stephen King (den ich übrigens schätze) aus dem Vollen geschöpft hätten. Dort zu erwartende Handlungsverläufe fehlen. Das kann man mit einiger Berechtigung gut finden, für mich wurde der Roman leider bald langatmig und somit auch langweilig. Die gesellschaftskritischen Botschaften sind irgendwann verstanden, und was dann bleibt, ist die Handlung um einen blassen Ehemann, der sich nicht einmal traut zu sagen, dass er sich verfahren hat, und eine Ehefrau, die, wenn sie den Ernst der Lage denn mal begriffen hat, zur hysterischen Übermutter wird, während Ruth und B. H. (wahrscheinlich) bewusst zurückhaltend geschildert werden.


    Mein Fazit: Die Figuren haben ihre Momente. Ich bin auch durchaus nicht traurig, wenn in einem Roman mal keiner über sich hinauswächst und im Ernstfall Superheldenqualitäten entwickelt. Die Spaltungen der (in diesem Fall) amerikanischen Gesellschaft wegen der Hautfarbe sind evident. Ohne Corona wäre der Roman womöglich - die Rechte daran hat sich ein Pay-TV-Sender gesichert - nicht ganz so erfolgreich gewesen. Im Ganzen womöglich zurecht, aber was die gesellschaftskritische Komponente betrifft: Wenn diese „Botschaft“ aufgrund eines allgemeinen Gefühls der Verunsicherung mehr Gehör findet, kann das wahrscheinlich nur einer der überaus raren positiven Aspekte der Pandemie sein.