Gendergerechtigkeit durch natürlichen Sprachwandel

  • Wir erleben ja gerade in Deutschland die Bemühungen um eine gendergerechte Sprache auf dem Weg eines gelenkten Sprachwandels mit all ihren Vor- und Nachteilen. Dabei kann man glatt übersehen, dass auch der natürliche Sprachwandel (der eben nicht von staatlichen und institutionellen Instanzen gelenkt wird) vorangeht. In einem Artikel der FAZ vom 2.9.21 (Sichtbar oder gleichwertig?), der leider noch nicht frei ist, schreibt die Potsdamer Linguistin Heide Wegener u. a., dass in den Jahren 2011 bis 2014 die Medien das Geschlecht der Politikerinnen häufiger hervorgehoben haben als bei männlichen Politikern, also es hieß häufig "die Merkel" einerseits, aber "Schröder" andererseits. "Dieser Sprachgebrauch war diskriminierend", sagt sie. Heute (2021) dagegen wird in Funk und Presse am häufigsten "Baerbock und Habeck", ohne Artikel (der / die) oder Anrede, verwendet, beide Geschlechter werden gleich behandelt. Und dieser Sprachwandel scheint sich ohne Zwang und Leitfaden, ohne unsere bewusste Absicht, durchgesetzt zu haben.

  • Dieser „natürliche“ Sprachwandelt geht immer einher mit bewussten Sprachgestaltungen. Er wird nicht aufoktroyiert oder behördlich gelenkt, ist aber doch davon abhängig, dass es mindestens Diskussionen über den Hintergrund gibt. Ohne Diskussionen über das Gendern würde solch ein „natürlicher“ Wandel nicht stattfinden können. Jedwede gesellschaftliche Änderungen geschehen ja auch nicht einfach so.

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Das ist nicht ganz zutreffend, Horst-Dieter.


    Sprachwandel hat sich aus Sicht der historischen Linguistik überwiegend aus sprachökonomischen Gründen ergeben, in erster Linie also durch Vereinfachungen, die sich im direkten Sinne des Wortes herumgesprochen haben. Leute haben beispielsweise damit angefangen, zu Mobiltelefonen "Handy" zu sagen, bis einzelne Hersteller die Geräte in Werbung oder als Produktnamen auch so bezeichnet haben - so wurde dieser unglücksselige Scheinanglizismus zu einem Sprachbestandteil, und bei anderen Neologismen, aber auch sprachlichen Verkürzungen und anderen Veränderungen war es ganz ähnlich. Dann gibt es den politisch intendierten Sprachwandel, oder Bezeichnungsdiskurse wie etwa beim in den Achtzigern geführten Kleinkrieg um die Bezeichnungshoheit bei Kraftwerken, in denen Energie durch Atomkernspaltung gewonnen wird. Die einen wollten "AKW" bzw. "Atomkraftwerk" durchsetzen, um den negativ konnotierten bzw. zu konnotierenden, etwas archaischeren Begriff politisch für sich nutzen zu können (schließlich lautete der Kernslogan der Kampagne "Atomkraft nein danke"), während die gegenseitige Fraktion "KKW" bzw. "Kernkraftwerk" bevorzugte, quasi die Verniedlichung, vor allem aber einen Begriff, der zwar pseudowissenschaftlicher daherkam, aber vom Problem abzulenken versuchte. Aus wissenschaftlicher Sicht sind beide Begriffe falsch.


    Das Gendern unter Verwendung von Sonderzeichen inmitten von Substantiven und Fürwörtern ist tatsächlich ausgedacht, also eine entwickelte Methode. Natürlich sind viele Veränderungen der Sprache gleichsam erdacht und - eher zufällig - erfunden, während sich andere (der Großteil) auch durch Nachlässigkeit und Weglassung aus Faulheit ergeben haben, aber sie haben sich dann durchgesetzt, weil Sprachnutzer die Verbesserung für sich zu erkennen glaubten - oder das unbewusst getan haben, wie bei den meisten sprachmodischen Phänomenen. Das Gendersternchen mit seinen Erklärungshintergründen ist als zu etablierendes orthografisches Element u.a. von Translationswissenschaftlerinnen der Uni Wien gezielt etabliert und forciert worden. Die westeuropäischen Unis und hier vor allem die soziologischen Faktultäten haben das aufgenommen und einen Durchsetzungsfeldzug initiiert, begleitet und unterstützt durch die Aktivist_*:*_innen aus dem LGBT-Umfeld. Bündnis 90/Die Grünen haben im Jahr 2015 durch einen Parteitagsbeschluss für sich selbst festgestellt, dass das Gendersternchen geeignet wäre, die vermeintlich fehlende Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache zu etablieren und deshalb durchzusetzen sei. Das ist ohne jeden Zweifel eine politisch motivierte und von den Hochschulen vorangetriebene Veränderung, die sich nicht durch sprachökonomische oder vergleichbare Entwicklungen ergeben hat. Es dient als Kennzeichen, und bei Nichtanwendung als Erkennungsmerkmal für politische Gegner.

  • Ich bin ja schon froh, Tom, dass du „nicht ganz zutreffend“ geschrieben hast. Nicht ganz zutreffend ist ja immerhin ein bisschen zutreffend. Und ich habe meine Antwort auch ziemlich plakativ hingetippt. Was ich sagen wollte: Von alleine passiert nichts. Die ganze Diskussion (um es freundlich auszudrücken) um das Gendern bietet den Hintergrund für den allmählichen Sprachwandel. Der geschieht, da hat Jürgen natürlich recht, weitgehend unbewusst, eben aus der Sprachpraxis im Alltag heraus, aber eben immer auch auf der Basis, dass irgendwo Diskussionen darum stattfinden.

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  • Dass es beim Gendersternchen um ein (zu akzeptierendes) Phänomen des quasinatürlichen Sprachwandels gehen soll, wird gerne behauptet, um es zu legitimieren. Das ist es aber tatsächlich nicht.

  • Ich wiederhole mich: Obwohl Sprache Mittel und Ausdruck des Denkens ist, ist es doch nicht auch Produkt bewusster Entscheidungen. Sie ist ein System, das nach eigenen, erst im nachhinein zu erkennenden Gesetzen funktioniert. Deshalb ist es auch nicht legitim, natürlichen Sprachwandel zu bewerten. Wenn man einen Sprachverfall bei "Handy" bedauern will, dann verzichtet man bewusst darauf, den guten Sinn für diese Wahl herauszufinden. Sprache ist nicht dumm, vor allem sind es nicht die Nutzer (=Mehrheit), die den Wandel unbewusst und unbeabsichtigt vorantreiben und unsere Sprache immer differenzierter und ausdrucksfähiger machen.

    An dem Beispiel "Baerbock" ist das wunderbar zu studieren. In unserer aktuellen Sprache wird auf das "die" verzichtet, das heißt: Am Namen "Baerbock" wird das Weibliche unsichtbar gemacht, gerade weil das weibliche Geschlecht bei der Kandidatur um ein politisches Amt unwichtig ist, genauso unwichtig wie die Religion, Haarfarbe, Körpergröße etc. etc. Hier wird also in einem konkreten unabweisbaren Fall die Sprache etwas gendergerechter, indem sie etwas Allgemeines, Übergreifendes sichtbar macht, nämlich dass es um einen Menschen geht, bei dem von allem Konkreten abgesehen wird. Jedes Wort ist ein Allgemeines, das alle weniger wichtigen Aspekte unter sich subsumiert.

    An Horst-Dieter: Dieser Sprachwandel vollzieht sich somit gegen die Absichten, die in den aktuellen Bestrebungen um eine gerechtere Sprache verfolgt werden. Dies nimmt die Autorin auch als einen Beleg dafür, dass das Gendern unserer Sprache keinen Schaden zufügen kann.

  • Sprache ist ein System, das nach eigenen Gesetzen und sozusagen unabhängig funktioniert? Aha. Welche Rolle spielen dann die Menschen darin? Ich stimme allerdings zu, dass Sprache nicht dumm ist. Sprache ist auch nicht klug, sie ist nicht gerecht oder ungerecht, sie versagt sich der Meinung, sie ist ein Werkzeug - Sprache ist passiv. Sprache wird durch die Nutzung aktiviert, und aus dieser Quelle speisen sich auch Konnotation und transportierte Anschauungen. Im Übrigen ist "Gerechtigkeit" eine relativ beliebige und wandlungsfähige moralische Kategorie, und kein absolutes Merkmal wie Farbe, Größe, Geruch oder Gewicht. Gerechtigkeit ist keine Eigenschaft von etwas, sondern ein Zustand, der Ergebnis von Situationen ist, und das, was wir heute unter Gerechtigkeit verstehen, käme Menschen aus anderen Epochen sehr merkwürdig vor. Und umgekehrt.

    Sprache wiederum ist das Ergebnis und die Implementierung eines Regelwerks, das wir anwenden und dabei verändern und interpretieren, und durch die gemeinsame Anwendung verändern wir wiederum die Regeln, die auf dieselbe Art überhaupt erst entstanden sind. In seltenen Fällen einigen wir uns auch aktiv auf Sprachregelungen, oder die Sprache verändert sich aufgrund einer politischen Entscheidung, etwa bei der Nichtmehrnutzung des Begriffs "Fräulein" als Markierung noch unverheirateter Frauen im heiratsfähigen Alter - und offiziell als Anrede noch bis 1972 so zu verwenden. Im Alltagsgebrauch hört man den Begriff höchstens noch in der Ansprache nicht folgsamer Mädchen im späteren Teenageralter, und verwendet wird sie dann meistens, aber nicht nur von den Großeltern.

  • Sprache ist ein System, das nach eigenen Gesetzen und sozusagen unabhängig funktioniert?

    Ja, ein von Menschen reproduziertes, aber nach eigenen Regeln funktionierendes System. Da wir die Sprache bewusst-unbewusst erlernen und nutzen, sind uns die Regeln, nach denen wir sprachlich handeln, auch nicht bewusst. Auch wenn wir sprechen und schreiben können, kennen wir noch lange nicht die Sprache. Deshalb ist eine Wissenschaft nötig, die die Regeln erforscht. Genauso müssen wir unseren Kopf anstrengen, um Natur und Gesellschaft zu verstehen, obwohl wir als mit Bewusstsein begabte Wesen mittendrin stehen.

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    An Horst-Dieter: Dieser Sprachwandel vollzieht sich somit gegen die Absichten, die in den aktuellen Bestrebungen um eine gerechtere Sprache verfolgt werden. Dies nimmt die Autorin auch als einen Beleg dafür, dass das Gendern unserer Sprache keinen Schaden zufügen kann.

    Das sich der Sprachwandel in dieser speziellen Sache gegen die Absichten der aktuellen Bestrebungen vollzieht, gestehe ich gerne zu. Aber er kann sich nur vollziehen, weil es eben Absichten in dieser Hinsicht gibt. Wenn niemand über das Gendern reden würde, gebe es auch nichts, was sich da bei der Sprache vollziehen könnte. Ohne Geräte, die man Handy nennen kann, gäbe es den Begriff nicht. Sprache und Sprachentwicklung ist nicht abgekoppelt von den Umständen, mit denen Sprache sich verbindet.

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    Emanuel von Bodmann


  • Hallo, Horst-Dieter.


    Der Begriff "Handy" hat sich, wie viele andere Neologismen gleich welcher Herkunft, sozusagen an der Basis entwickelt, ist der Legende nach von Nutzern zuerst verwendet worden und hat sich dann etabliert, wobei der Ritterschlag dadurch erfolgte, dass erste Hersteller damit anfingen, das Wort für ihre Produkte zu verwenden. Hinter diesem Begriff stand auch keine Konnotation, und es gab keine damit verbundene Absicht, außer der vielleicht, ein einfacheres und, wie man damals noch glaubte, gleichsam cooleres Wort für "Mobiltelefone, die man in der Hand halten kann" zu verwenden. Nur sehr wenigen Menschen, die den Begriff verwenden oder verwendet haben, ist je eine bestimmte Haltung oder das Fehlen einer solchen Haltung unterstellt worden. Für mich ganz persönlich ist der Begriff immer noch, äh, problematisch, weil er ein so unbeholfener, denglischer Scheinanglizismus ist, über den sich Angelsachsen prächtig amüsieren.


    Das Gendern in seiner aktuellen Form - der Verwendung des Sternchens oder eines Unterstrichs oder Doppelpunkt vor der Zusatzendung - markiert den vorläufigen Endpunkt eines Versuchs, der in den Siebzigern begonnen hat und dessen prominentestes Ergebnis bislang das Binnen-I war, das immer noch von einigen Menschen verwendet wird. So, wie das Konstrukt selbst, ist auch die Debatte darüber kein Ergebnis eines Vorgangs, der durch die Sprachnutzer ausgelöst wurde, sondern erdacht, konzipiert und geplant (wobei es sich nur teilweise um eine koordinierte und strukturierte Planung handelte). Die dahinterstehende Absicht ist fast ausnahmslos eine politische, und das Gendern ist ein Haltungskennzeichen. Eine vermeintliche Sprachgerechtigkeit zu etablieren, ist längst nicht sein einziger, möglicherweise nicht einmal sein Hauptzweck. Der besteht darin, jene zu markieren, die sich der damit verbundenen Haltung nicht anschließen wollen.


    Das eine ist ein klassischer sprachevolutionärer Vorgang, eine aus ökonomischen und anderen Gesichtspunkten erfolgte Anpassung eines marginalen Sprachaspekts durch die Nutzer. Das andere ist gezielte Spracharchitektur, die politische Absichten verfolgt. Dass es Debatten über beides geben mag, hat damit fast nichts zu tun.

  • Das Gendern in seiner aktuellen Form - der Verwendung des Sternchens oder eines Unterstrichs oder Doppelpunkt vor der Zusatzendung - markiert den vorläufigen Endpunkt eines Versuchs, der in den Siebzigern begonnen hat und dessen prominentestes Ergebnis bislang das Binnen-I war, das immer noch von einigen Menschen verwendet wird. So, wie das Konstrukt selbst, ist auch die Debatte darüber kein Ergebnis eines Vorgangs, der durch die Sprachnutzer ausgelöst wurde, sondern erdacht, konzipiert und geplant (wobei es sich nur teilweise um eine koordinierte und strukturierte Planung handelte). Die dahinterstehende Absicht ist fast ausnahmslos eine politische, und das Gendern ist ein Haltungskennzeichen. Eine vermeintliche Sprachgerechtigkeit zu etablieren, ist längst nicht sein einziger, möglicherweise nicht einmal sein Hauptzweck. Der besteht darin, jene zu markieren, die sich der damit verbundenen Haltung nicht anschließen wollen.

    Also wir haben früher immer gesagt: Viel Feind, viel Ehr. Die ganze Aufregung lohnt doch nicht. Aus dem obigen Artikel lernen wir, dass der gelenkte Sprachwandel nicht funktioniert, im Gegenteil, der natürliche läuft ihm still und heimlich den Rang ab. Vielleicht sollte man die Bestrebungen mit aller Kraft unterstützen und ihnen einen ordentlichen Schubs mitgeben, damit der Spuk schneller endet.

  • Das sich der Sprachwandel in dieser speziellen Sache gegen die Absichten der aktuellen Bestrebungen vollzieht, gestehe ich gerne zu. Aber er kann sich nur vollziehen, weil es eben Absichten in dieser Hinsicht gibt. Wenn niemand über das Gendern reden würde, gebe es auch nichts, was sich da bei der Sprache vollziehen könnte. Ohne Geräte, die man Handy nennen kann, gäbe es den Begriff nicht. Sprache und Sprachentwicklung ist nicht abgekoppelt von den Umständen, mit denen Sprache sich verbindet.

    Das Weglassen des Artikels bei "Baerbock" ist das Gegenteil von Gendern! Ich wiederhole mich gerne: Die Sprache ist das einzige von Menschen geschaffene System, das reibungslos funktioniert und das, meiner Ansicht nach, auch den größten und wichtigsten Gedanken vorgeformt hat: Den Gedanken der Allgemeinheit, d.h. der Gleichheit der Menschen. Wer wagt es denn, da reinzupfuschen?!

    Und beim "Handy" sind es mindestens zwei Sachen, die zusammenkommen: Erstens bildet es den Faustkeil der Moderne 4.0 ab, ohne den wir unser Leben gar nicht mehr vorstellen können; zweitens hat der Sprachnutzer dabei ja tief in das Archiv der Wortgeschichte gegriffen: "hantieren" mhd.: Kaufhandel treiben, handeln, vertreiben; sich einrichten. Passt das nicht wunderbar? Meine Frau Soraya jedenfalls checkt mit ihrem Handy immer die Angebote bei Ebay-Kleinanzeigen und kauft ständig Rasenkantsteine, Glastüren für Billyregale und Inliner für unser Patenkind. So was geht doch nicht mit einem "Mobiltelefon".:)