Simon Urban: Wie alles begann und wer dabei umkam

  • Die beste deutschsprachige Erstveröffentlichung des Jahres


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    Vorweg: Diese großartige Erzählung wird hier und da als „Juristenroman“ bezeichnet, was erstens grundfalsch ist und zweitens den Eindruck erweckt, Spaß an der Lektüre könnten nur Robenträger und Kanzleikandidaten haben. Dieses Etikett sollte man tunlichst ignorieren. Recht und Justiz spielen zwar wesentliche Rollen in dieser kuriosen und fantastisch erzählten, turbulenten, funkelnden und augenzwinkernden Geschichte, aber es ist nicht nötig, selbst Rechtswissenschaften studiert zu haben, um Simon Urban auf diesem Galoppritt folgen zu können. Oder auch nur juristaffin zu sein (falls es so etwas gibt).


    „Menschlichkeit“ ist ein paradoxer Terminus. Menschlich im direkten Wortsinn ist alles, was Menschen tun, das nicht dem Überleben und der Arterhaltung dient, von der altruistischen Selbstaufopferung bis zur brutalen, eine zweifelhafte Lust befriedigenden Gräueltat, denn nur Menschen sind zu solchem Verhalten und allen Abstufungen davon fähig. Die positive Konnotation, die der Begriff „Menschlichkeit“ in aller Regel hat, verneint also letztlich seine unmittelbare Bedeutung - und sie orientiert sich an durchaus vergänglichen ethischen Paradigmen, denn was noch gestern richtig gut war, kann schon morgen ziemlich schlecht sein. Wenn wir von freundlichem, über die Notwendigkeit hinaus sozialem, gar von Nächstenliebe gekennzeichnetem Umgang sprechen und ihn „menschlich“ nennen, dann trifft wohl zu, dass er einigen Menschen zueigen ist, aber das gilt für sein Gegenteil ebenso. Wenn man jemanden als „Unmenschen“ bezeichnet oder ihn mit dem entsprechenden Adjektiv versieht, sollte man sich gelegentlich fragen, wie es sein kann, dass jemand etwas fraglos ist, nämlich faktisch ein Mensch, und zugleich nicht, weil er ja soeben als Unmensch bezeichnet wurde. Dieses Paradoxon der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Merkmale ist übrigens tatsächlich – menschlich.


    Aber von vorne. Simon Urban erzählt die Geschichte von J. Hartmann, dessen Vorname, meine ich, nur einmal erwähnt wird, und möglicherweise „Jonas“ lautet, aber ich bin nicht sicher - mehr als 550 Seiten, die sprachlich, inhaltlich und intellektuell so dicht gepackt wie diese sind, schleifen das Kurzzeitgedächtnis ein wenig. Jedenfalls - dieser Mann, der als Ich-Erzähler auftritt, hat in einer Gefängniszelle seine eigene Geschichte aufgeschrieben, die sehr bald - er ist Mittzwanziger - enden wird, und zwar mit der Hinrichtung dieses Erzählers, also seiner selbst. Wo er in der Todeszelle sitzt und warum genau, das erfährt der Leser aber erst gute 500 Seiten später.


    Bis dahin erleben wir zuerst mit, wie der Junge mit seinen Eltern im muffigen Souterrain jenes Hauses aufwächst, das der Mutter des Vaters gehört. Diese Oma ist eine böse, giftsprühende, herrische und brutale Frau, was sie vor allem der Mutter des Jungen gegenüber auslebt, die das stoisch hinnimmt und sich wie eine Sklavin behandeln lässt, während der Vater schweigt oder unterwegs ist. Aber der Enkel beginnt schon früh damit, aufzuzeichnen, was er miterleben muss, und irgendwann im Teenageralter führt er einen einsamen Schauprozess gegen die Oma, die er für all das Ungemach, das diese der Mutter zudachte, in Abwesenheit zum Tode verurteilt.


    Denn der Junge ist einerseits hochbegabt und andererseits bestenfalls mäßig empathisch. Er ist einer, der alle Details sieht, ein genauer, akribischer Beobachter, ein schneller Lerner mit hoher Auffassungsgabe, und er ist jemand, der Zusammenhänge erkennt und fortspinnen kann. Das Recht – das faktische, in Gesetze gegossene, aber auch das moralische, das ethische, und das individuelle - wird deshalb zu seinem Steckenpferd. Er studiert in Freiburg, wo er rasch als brillantes Faktotum gilt, aber auch als a-sozialer Außenseiter. Dort lernt er die kluge Sandra kennen, die seine Interessen teilt, und die attraktive Barbara, die seine Spielgefährtin wird, und er entdeckt seine große Lust daran, von anderen Menschen Dinge zu erfahren, die sie bis dahin als intimste Geheimnisse gehütet haben. Vor allem aber entwickelt er sein eigenes Rechtssystem, ein auf Rache und Sühne basierendes, kompliziertes, intelligent-archaisches, aber sehr nachvollziehbares Modell, dem zuerst das „Ne bis in idem“-Prinzip zum Opfer fällt, also die Tatsache, dass ein mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbares Urteil endgültig ist und dass niemand in gleicher Sache zweimal angeklagt werden kann, selbst wenn er einmal freigesprochen wurde und anschließend den Mord freimütig gestanden hat. Doch Hartmanns Ideen sind noch weitaus vielschichtiger und radikaler, wobei der Anreiz durch die Neubesetzung einer Dozentenstelle erhöht wird, ausgerechnet durch eine Juristin, die energische Anhängerin des Resozialisierungsgedankens ist, gedanklich also Hartmanns Ideen diametral entgegengesetzt.


    Doch das ist alles nur die Ouvertüre. Urbans kluge, unfassbar eloquente, sehr zynische, politisch mehr als nur unkorrekte, aber enorm sachliche und eben deutlich psychopathische Hauptfigur, die auch noch als Ich-Erzähler auftritt, wirbelt durch eine so wunderbar aufgebaute Geschichte, dass es ein reines Vergnügen ist. Selten habe ich so viel komprimierte zustimmungsfähige Klugheit erlebt, die auch noch in eine tolle Erzählung verpackt war, wobei „zustimmungsfähig“ nicht die Ideen der Hauptfigur betrifft, sondern das gerüttelt Maß an gehobener Weisheit, das diese Geschichte mit sich herumträgt.


    Und damit zurück zur Menschlichkeit. Urbans Protagonist betrachtet Umstände und Systeme nicht kategorisch, sondern umfassend, mit einer sachlichen und emotionsarmen Nüchternheit, die Moral und Ethik zwar als Aspekte akzeptiert, aber nicht in den Vordergrund stellt, sondern bestenfalls als Einflüsse bewertet. Anders gesagt, und davon handeln vor allem die beiden letzten Teile dieses anbetungswürdigen Werks: Hartmann stellt alles in Frage (auch das Infragestellen), und er torpediert dabei einiges, das als quasi-axiomatisch und zivilisationsstiftend angenommen wird, aber (nicht nur aus seiner Sicht) längst keiner Überprüfung mehr standhalten würde. Dass man das nicht gefahrlos und nicht ohne Gefahr für sich selbst tun kann, das stellt sozusagen die Klammer der Geschichte dar.


    Aber „Wie alles begann und wer dabei umkam“ ist nicht so aufgesetzt-larmoyant-gewollt-klugschwätzend wie diese Rezension, sondern ein fantastisches Buch, in dem großartige Ideen mit einer spektakulären Geschichte verwoben sind, es ist kluge und spannende Lektüre – und für mich eine der besten deutschsprachigen Erstveröffentlichungen des Jahres. Lesen Sie es! Und, ja, verschenken Sie es auch an Juristen.

    ASIN/ISBN: 3462055003

  • Danke für die Rezension! Ich hoffe dann mal auf ein Hörbuch. (Kiepenheuer & Witsch ist eigentlich da gut aufgestellt, meine ich …?!)


    Da kann man dem Roman nur wünschen, dass das Cover nicht abschreckt. Ich finde die gelbe Schrift auf grauem Grund so gruselig, dass sie von der eigentlich guten Illustrationen ablenkt.

  • Steht bei mir schon lange auf der Liste und vor ein paar Tagen habe ich die ersten zehn Seiten gelesen, fand die Sprache sehr gespreizt, aber überaus vergnüglich. Das Cover finde ich nicht abschreckend, frage mich aber nach den Infos, die ich habe, warum es so aussieht. Vielleicht erklärt es sich ja auch nach Lesen des Romans.