Kafka: Amerika/Der Verschollene

  • Den Titel "Amerika" erhält die von Brod 1927 veröffentlichte Fassung. "Der Verschollene" ist in gewisser Weise auch irreführend, da der Protagonist, der sechszehnjährige Karl Roßmann, von seinen Eltern nach Amerika geschickt wird; er hat nämlich ein Dienstmädchen geschwängert und muss wohl aus dem Blickfeld geschafft werden. Noch an Bord des Schiffes, das gerade in New York einläuft, verheddert Karl sich in die typisch kafkamäßig labyrinthisch-undurchschaubare Wirklichkeit, hier in Gestalt des Schiffsinneren. Eigentlich ist er schon bereit, von Bord zu gehen, hat aber seinen Schirm in der Kabine vergessen. Seinen Koffer übergibt er der Aufsicht einer Reisebekanntschaft. Seine Kabine und seinen Schirm findet Karl natürlich nicht, sondern landet - wegen der Enge des Raumes - im Bett (sic!) eines Heizers, zu dem er sich rasch hingezogen fühlt.

    Im Anschluss an eine Unterhaltung laufen sie durch die Gänge des Schiffes und landen – wohl nur scheinbar zufällig – in einer Kabine, in der u.a. der Kapitän, Hafenbeamte und ein Zivilist versammelt sind. Hier kommt es zu einer Art Gerichtsverhandlung, bei der die Sache des Heizers verhandelt wird. Karl übernimmt quasi die Rolle des Verteidigers. Doch dann stellt sich heraus, dass der anwesende Zivilist sowohl Senator als auch Karls Onkel ist, der durch einen Brief des Dienstmädchens über die Gründe für Karls Verbannung informiert ist. Die Sache des Heizers tritt in den Hintergrund und der Kapitän lässt ein Boot bereitstellen, das Karl und den Senator-Onkel an Land bringen soll. Währenddessen entsteht noch ein Tumult, weil die Zeugen an der Tür erscheinen. Als Karl und sein Onkel im Boot sitzen und einen letzten Blick auf das Schiff werfen, ist es, als gäbe es den Heizer gar nicht mehr, dennoch gehören ihm Karls letzte Gedanken.

    Karl lebt eine Weile bei dem Onkel, bis er eine Einladung von einem Freund des Onkels erhält und mit diesem zu seinem Haus außerhalb New Yorks fährt. Trotz (oder wegen?) einer Frauengestalt, die Karl Avancen zu machen scheint, obwohl sie – wie sich dann zeigt – verlobt ist, fühlt sich Karl zunehmend unwohl und schuldig, den Onkel verlassen zu haben. Karl möchte zu seinem Onkel zurückkehren, was nicht gelingt, da er sich mal wieder einem labyrinthischen Hindernis (dem Haus) gegenüber sieht. Ein Geschäftsfreund des Gastgebers (und Verlobter erwähnter Frau) übergibt um Mitternacht einen Brief des Onkels an Karl. In dem Schreiben erklärt der Onkel, dass er von Karl enttäuscht sei und ihn nicht wiedersehen wolle.

    Schließlich kann Karl doch aus dem Haus entkommen und schließt sich zwei Tagelöhnern an, die sich seiner annehmen oder – auch das bleibt in der Schwebe – ihn ausnutzen. Vorerst jedoch kann Karl in einem Hotel eine Anstellung als Liftjunge ergattern, bis einer der Tagelöhner in betrunkenem Zustand erscheint. Karl hilft ihm, indem er ihn im Schlafsaal der Hotelangestellten unterbringt. Dazu muss er allerdings für eine Weile seinen Posen im Lift verlassen, was ihn in Konflikt mit dem Hotelmanagement bringt. Auch die Sache mit dem Betrunkenen im Schlafsaal fliegt auf und Karl wird entlassen.

    Somit gelangt er wieder unter den Einfluss der beiden Tagelöhner, von denen zumindest der eine (Delamarche) zu Geld gekommen zu sein scheint, indem er eine Sängerin (Brunelda) geheiratet hat oder wenigstens mit ihr zusammengezogen ist. Den anderen Tagelöhner halten sie sich quasi als Diener, ein Schicksal, das sie offenbar auch für Karl vorgesehen haben. Doch auch dieser Situation kann Karl wieder entkommen und er findet als Techniker Anstellung in einem Theater.

    Es finden sich im Roman typische Kafka-Elemente: die Vermischung von präzis-realistischem Erzählen und traumartig verzerrter Handlung (ein Beispiel wäre etwa eine Szene, in der Karl und einer der Tagelöhner das Hotel verlassen wollen, in dem Karl angestellt war, was sich aber als schwierig erweist, da eine ununterbrochene Autoschlange vor dem Hotel steht, so dass man durch eines der Autos hindurchklettern muss, um auf die andere Seite zu gelangen).

    Die verschiedenen Teile des Romans wirken recht unverbunden, so dass es schwierig ist, zu sagen, um was es eigentlich geht. Themen sind natürlich scheiternde zwischenmenschliche Beziehungen, eine menschundwürdige Arbeitswelt und vielleicht auch der Verlust von Identität. Zumindest verliert Karl nicht nur sein zu Hause und seinen Koffer, sondern später auch seine Kleidung (keine Sorge, er bekommt andere und läuft nicht nackt durch den Roman) und am Ende gibt er sogar seinen Namen auf und nennt sich - warum auch immer - Negro.

    Für Kafka-Fans okay. Ansonsten reicht es wohl, die anderen beiden Romane gelesen zu haben.

  • Passt vielleicht nicht exakt zu dieser lesenswerten Rezension, ist aber eine interessante Marginalie: Der Schriftsteller Peter Henisch hat Franz Kafka in einer Novelle auf die Schiffsreise nach Amerika geschickt und dabei auf Karl May treffen lassen, in seinem lesenswerten Roman: Vom Wunsch, Indianer zu werden.


    ASIN/ISBN: 3701715858

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    Emanuel von Bodmann