Vom Altwerden der Rituale, der Gefühle, der Überzeugungen und Beziehungen
Über diesen einfach ungeheuer guten Roman lässt sich wenig sagen, das nicht bereits von jemandem gesagt wurde, nicht zuletzt von den Juroren der vielen Literaturpreise, die ihm – zu Recht – zuerkannt wurden. „Mit Blick aufs Meer“ erzählt vom Altwerden – nicht nur vom Altern der Menschen, die darin vorkommen, sondern auch vom Altwerden der Rituale, der Gefühle, der Überzeugungen und Beziehungen. Er macht das auf so vortreffliche Art, dass es ein Vergnügen ist, ihn zu lesen, obwohl die Grundstimmung einer eher depressive ist. Schließlich geht es ums Altwerden. Und das wiederum ist wahrlich kein Vergnügen, jedenfalls in aller Regel.
Hauptfigur ist die im amerikanischen Original titelgebende Olive Kitteridge, eine etwas ruppige, aber kluge und lebenserfahrene Frau im Rentenalter, die im kleinen Ostküstenort Crosby, Maine, früher Lehrerin war. Olive trägt das Herz sprichwörtlich auf der Zunge, die sie allerdings sparsam einsetzt; sie pflegt eine Form von Ehrlichkeit, die bloße Unhöflichkeit locker in den Schatten stellt, und die es auch ihren beiden Familienmitgliedern schwermacht. Henry, der Ehemann, der Apotheker ist, trägt es mit stoischer Freundlichkeit, aber Christopher, der Sohn, der das College längst hinter sich hat und als Podologe praktiziert, distanziert sich, später auch physisch. Doch die Familienverhältnisse der Kitteridges sind nur ein Teil der Erzählung, in die einige Episoden mit anderen Figuren eingestreut sind, die das Leben der Kitteridges mal stärker und mal weniger stark tangieren. Aber auch in diesen Abschnitten geht es um dieselbe Thematik. Und um Kleinstädte an der amerikanischen Ostküste.
Elizabeth Strout hat einen direkten, sehr genauen, aber keineswegs sterilen Stil; sie findet tatsächlich exakt die richtigen Worte, schafft also das, was Mark Twain seinerzeit als das Ideal für Schriftsteller skizziert hat: „Schreiben ist einfach, man muss nur die falschen Worte weglassen.“
Angesiedelt in der Nähe des großen Stewart O’Nan, aber auch in der erzählerischen Tradition von Leuten wie Irving, Updike und Roth findet Elizabeth Strout mit ihrer zugleich empathischen und leicht distanzierten Erzählweise einen modernen Weg, um ohne jede Parteinahme große Nähe zu ihren Figuren aufzubauen. Man muss Olive Kitteridge nicht mögen, aber man versteht sie, und am Ende wünscht man sich, sie mal zu treffen.
Ich habe diesen Roman gelesen, nachdem ich bereits die Fortsetzung „Die langen Abende“ gelesen hatte, in Unkenntnis davon, dass es sich um eine handelte, und ich hatte auch die großartige Miniserie mit Frances McDermond in der Titelrolle schon gesehen, aber all das machte nichts. „Mit Blick aufs Meer“ ist so große und so gute Literatur, die all das leicht wegsteckt. Ein Buch, mit dem man Freundschaft schließt. Ich habe es im Regal neben die Romane von Johan Harstad gestellt, was die größte Ehrenbezeugung ist, die mir auf diese Weise zur Verfügung steht.
ASIN/ISBN: 344274203X |