Wahrheit und/oder Lüge?

  • was ist für euch Wahrheit? Sie ist ja etwas, dass man eigentlich so selten behaupten kann, es schleichen sich - sogar durchaus unbewusst- Schlenker ein, die ein wenig verändert wurden. Oder stark. Je nach dem, um welches Thema es geht.

    Wer mir sagt: "Ich lüge nie", dem glaube ich gar nix.

    Lügt jemand sehr überzeugend und ich merke es nicht, glaube ich es erstmal. Es gibt auch Lügen, die man zwar nicht genau nachweisen kann, die ein gewissen Unbehagen hervorrufen, die man aber gerne glauben möchte und es auch tut.

  • Das grenzt ja schon an ein philosophisches Thema. ;-)


    Als Wahrheit kann man etwas nur bezeichnen, das unumstößlich erwiesen wahr ist. Etwas, das sich beweisen lässt.

    Für viele ist auch Religion Wahrheit, nur dass sich Religionen erwiesenermaßen widersprechen ...

    Die Heilige Schrift wird auch Die Wahrheit genannt.


    Ganz unangenehme Wahrheiten sind, die man glauben muss, da der Beweis fehlt und diese Restzweifel einem dieses ungute Bauchgefühl bescheren.


    Das wäre jetzt meine Antwort zu dieser komplexen Frage :-)

  • Schwierige Frage. Erstmal würde ich sagen "Wahrheit" oder "die Wahrheit" gibt es nicht. Für mich ist "Wahrheit" ein Konstrukt der Menschen, so ähnlich wie "Realität". Das ist aber wahrscheinlich eine philosophische Antwort, auf die du glaube ich gar nicht hinaus willst.

    Pragmatisch gesehen würde ich sagen, dass "wahr" ist, was "erwiesen" und "rational" ist. Beispielweise (hatten wir lustigerweise gerade heute in Statistik) ist es wahr, dass ein Gegenstand auf den Boden fällt, wenn ich ihn loslasse. Natürlich kann ich aber niemals wirklich "beweisen", dass das auch beim 1.000.000.000.000.000sten Versuch passiert (deshalb ist "Wahrheit" für mich ein Konstrukt und nicht zu erreichen). Ähnliches gilt für "Die Erde ist rund", "Pflanzen produzieren Sauerstoff" oder "Ich bin die Tochter meiner Mutter". Nicht zu beweisen (weil man nichts beweisen kann), aber trotzdem "wahr".


    Anders würde ich es sehen bei Aussagen wie "Dieser Apfel ist rot". Das ist eine subjektive Empfindung und nicht "die Wahrheit", für jemand anderen könnte er schließlich eher orange wirken. Wenn du jetzt aber ein Messgerät verwendest und sagst "Der Apfel reflektiert Licht von 650nm und wirkt damit auf uns rot", ist das keine subjektive Empfindung mehr.


    Das Ganze ist aber natürlich trotzdem immer ein schmaler Grad.:saint:

  • Ich glaube nicht, dass Wahrheit bewiesen werden muss. Wahrheit bestätigt sich selbst. Die Frage ist, ob wir die Zeichen erkennen.


    Zum Beispiel fallen Gegenstände immer nach unten (ja, ich weiß, doppelt gemoppelt). Ergo gibt es eine Kraft, die nach unten zieht oder drückt. Das haben wir erkannt. Es wäre aber auch wahr, wenn wir es nicht erkannt hätten, vor Newton fielen die Äpfel auch schon nach unten. Bäume hingegen wachsen nach oben. Es gibt also auch eine Kraft, die entgegengesetzt der Schwerkraft wirkt. Wir vermuten, es ist das Licht. Aber kann Licht ziehen? Oder wirkt da etwas, das wir im Grunde noch nicht erkannt/begriffen haben? Wie auch immer, dass es diese Kraft ebenfalls gibt, ist auch wahr, denn die Bäume zeigen es uns.


    Wir glauben, etwas sei wahr, wenn es sich beweisen ließe. Darauf beruht unsere ganze Wissenschaft, und der Umkehrschluss ist: Solange es sich nicht beweisen lässt, gilt es nicht als wahr. Für mich ist das rudimentäres Wunschdenken des Menschen, der alles auf Logik zurückführen will. Ich glaube, dem, was wahr ist, ist unsere Meinung dazu ziemlich egal.

  • Nehmen wir mal an, die Realität / Wahrheit ist eine grüne Blase und die Wahrnehmungen von Menschen sind gelbe Blasen. Das Endergebnis wäre eine grüne Blase, in und an der viele gelbe Blasen sitzen. Aber erschreckender ist dann noch, dass ziemlich viele gelbe Blasen um die grüne Blase herumfliegen, ohne sie zu berühren.

  • Von Beweisen spricht man in der Mathematik und in der formalen Logik. In den empirischen Wissenschaften eher von empirischer Überprüfbarkeit oder sowas. Aber das hat noch nicht unmittelbar etwas mit dem Wahrheitsbegriff zu tun.

    In der Philosophie ist es zur Zeit wohl Konsens, dass man Wahrheit als Eigenschaft von Sätzen versteht. Ein Satz ist wahr (oder eben nicht). Viel mehr kann man kaum sagen, ohne sich auf Glatteis zu begeben.

    Wie sicher man sein kann, dass ein konkreter Satz wahr ist (z.B. "Der Apfel ist rot"), ist eine erkenntnistheoretische Frage. Die obige Ausgangsfrage hatte ich allerdings als semantische Frage aufgefasst (Was bedeutet der Begriff 'Wahrheit'?). Aber vielleicht missverstehe ich das auch, denn wörtlich steht da ja: "Was ist für euch Wahrheit?" Und das kann heißen: Was bedeutet der Ausdruck 'Wahrheit'? Es kann aber natürlich auch heißen: Welche Aussagen haltet ihr für wahr? Oder auch: Mit welchen Methoden und Kriterien lässt sich Wahrheit feststellen?

  • ihr habt großartige und ernsthafte Überlegungen, alle.

    Und jede eurer Antworten sehe ich auch als Mögleichkeiten weiterer Fragen.

    ja, ich hatte es erst einmal eingegrenzt auf: "Was ist für euch Wahrheit?"

    Denke ich an Erinnerung(en), glaubst du, das sie wahr ist, aber genau die ist so trügerisch, weil du nicht mehr der Mensch bist, der du zu jenem Zeitpunkt warst. Auch dein Gehirn verändert sich. Du kannst eigentlich dann nur sagen, ich empfinde diese oder jene Erinnerung als wahr.

  • Liebe Monika, ich hatte mich gefragt, ob Deine Frage sich um Erinnerung dreht und schon heute Nachmittag überlegt, etwas dazu zu schreiben. Aber dann war ich mir nicht sicher, ob ich damit nicht schief liege. Aber offensichtlich ja nicht so sehr.


    Ich habe ja das Adane-Buch geschrieben und bin manchmal echt verzweifelt, weil diverse Erinnerungen von Adane schlicht nicht zusammenpassten, z.B. zeitlich oder auch einfach unlogisch erschienen. Und dann habe ich mich gefragt, ob das am - mir durchaus bekannten - anderen Umgang mit "Wahrheit" in Afrika zu tun hat und/oder ob ich mir einfach einen Bären habe aufbinden lassen.

    Und dann erzählte mir ein Freund, dass seine Ex-Frau ein Buch geschrieben habe, in dem sie u. a. ihre Hochzeit erwähnt. Und dabei die Trauzeugen erwähnt, von denen mein Freund sicher gewesen ist, dass die bei der Hochzeit gar nicht dabei gewesen wären.

    Das hat mich dann auch die "Unschärfen" in Adanes Erzählungen etwas gelassener hinnehmen lassen. Ich bin mir sicher, dass seine Erinnerungen für ihn richtig sind, dass sie im groben Rahmen, den ich für meinen Roman genutzt habe, stimmen. Gleichzeitig ist mir klar, dass er sie geschönt hat. So wie wir alle unsere Erinnerungen schönen.

    Mit meiner Ex-Mitbewohnerin Lucie sprach ich auch darüber. Sie erzählte, dass sie gerade ein Buch über das Gedächtnis gelesen hatte, in dem es hieß, dass sich unsere Erinnerungen verändern. Jedes Mal, wenn wir ein Erlebnis erzählen, verändern wir - ganz unbewusst - eine Winzigkeit und wir erinnern uns das nächste Mal nicht an das Erlebnis sondern an die letzte Erzählung/Erinnerung daran.


    Jedenfalls habe ich beim Schreiben des Buches einiges über Erinnerung und deren merkwürdiges Verhalten in unseren Köpfen erfahren - neben all den anderen Dingen, die ich dabei gelernt habe.

  • Ah ja, du meintest es eher im zwischenmenschlichen, persönlichen Bereich. Das ist nun allerdings schwerer zu beantworten (zumindest für mich ;-) ). Ich bin nicht sicher, ob es da Wahrheit (die Wahrheit oder eine Wahrheit) überhaupt gibt. Zur Arbeitsweise des Gehirns wurde ja schon etwas gesagt. Im Grunde kann ich die Frage nicht beantworten, aber ich mag es, Wörter auseinanderzunehmen. Und da fiele mir das Wort Wahrnehmung ein. Was nimmt die entsprechende Person für die Wahrheit, und warum? Welche Kriterien führen dazu, dass sie dieses annimmt und jenes verwirft? Vielleicht wäre das ein Ansatz, von dem aus man weiterdenken könnte ...

  • wenn ich Dorrits Post und deinen, Kerstin, dazunehme, finde, wird deutlich, wie sich Wahrheit schon kulturell unterscheidet. Adane hat Dorrit 'seine Wahrheit' erzählt, auch wenn er bewusst oder unbewusst manche Dinge gebogen hat. Man kann sie so lange biegen, bis sie sich als glaubwürdige Wahrheit im Gehirn des Berichtenden absetzt.

    Wahr= Wahrhaftig=Wahrnehmung der Wahrheit: ein spannender Ansatz.

    Kerstin, das 'warum'? Im zwischenmenschlichen Bereich vielkleicht eher, um sich so, wie man sich selbst sehen möchte, beim anderen darzustellen, Auskunft zu geben. Der Andere glaubt es, schwankt vielleicht, dennoch= so können neue oder veränderte Wahrheiten die Wahrnehmung des anderen werden.

    Puh.

  • Ja, ich denke, das geht sogar noch tiefer. Um Schmerz bei sich selbst zu vermeiden zum Beispiel, den des Nichtverstandenwerdens, des Belächeltwerdens usw. Oder um sich die Pein unliebsamer Selbsterkenntnis zu ersparen. Oder um dem anderen in einer bestimmten Situation nicht noch zusätzlich einen mitzugeben. Oder ...

    Ich glaub, allein zu dieser Fragestellung könnte man ein ganzes Buch schreiben. :)

  • Es gibt nur eine einzige Wahrheit, nämlich die, dass man selbst offensichtlich existiert. Alles andere kann auch eine Einbildung, ein Traum, eine Simulation sein. Oder irgendwas sonst, das wir uns nicht vorstellen können, uns aber bislang auch noch nicht bekannt ist (wie ein Smartphone aus der Sicht eines Menschen im Jahr 1950). Aber für diese singuläre Wahrheit bräuchte man keinen eigenen Begriff.


    Wenn man darüber nachdenkt, ob jemand, mit dem man gerade gesprochen hat, die Wahrheit gesagt hat, dann meint man, dass die Person das gesagt hat, was sie selbst für wahr hält. Das entspricht nicht immer der absoluten Wahrheit, selbst wenn man den Begriff viel weicher definiert. Die Wahrheit ist, was man für zutreffend hält. Ja, das Auto war blau, das meine Nachbarin überfahren hat. Ich esse nicht zu viel. Klar bleiben wir immer zusammen. In meiner Kindheit war ich meistens brav. Ich habe den Herd ausgemacht.


    Was man erlebt und erfährt, ist wahr. Was man als Erinnerung abspeichert, schon wieder nicht mehr bezogen auf das, was man erlebt hat. Was man als Erinnerung sehr viel später abruft, unterscheidet sich ebenfalls, zuweilen sogar gravierend. Wenn man davon erzählt, leidet es unter der Unzulänglichkeit verbaler Kommunikation und der Komplexität sozialer Interaktion. All diese Faktoren multiplizieren sich mit der Anzahl beteiligter Menschen.


    Für mich ist vorläufig wahr, was ich selbst nach bestem Wissen für zutreffend halte, aber ich weiß, dass das schon innerhalb des Systems "Tom" nicht immer stimmt, und deshalb außerhalb dieses Systems erst recht nicht.


    Aber - ist das wirklich wichtig? ?!?