Ich habe mich in der letzten Zeit immer öfter gefragt, wieso meine Eltern und Großeltern nie etwas über die Spanische Grippe erzählt haben, diese fürchterliche Pandemie, die ziemlich genau vor hundert Jahren noch während des Ersten Weltkriegs ausbrach und Millionen Opfer forderte. Geschichten von den Weltkriegen wurden erzählt, wobei die beiden immer als der "Krieg" bezeichnet wurden, aber es war immer klar, welcher von beiden gerade gemeint war. Aber die Pandemie, die wir heute "Spanische Grippe" nennen und an der bestimmt auch Verwandte gestorben sind, scheint in den Erinnerungen der Familie nicht zu existieren.
Nun bin ich zufällig auf eine Textstelle gestoßen, die vielleicht etwas Licht in die Sache bringt. In einer fabelartigen Geschichte, die der Philosoph Ernst Bloch in seinen "Spuren" erzählt, sucht ein Vater seine Tochter, die er in den Wirren am Ende des Ersten Weltkriegs aus den Augen verloren hat. Monate oder Jahre später erhielt er die Nachricht, dass sie in München als Schauspielerin lebt. Als er in München eintraf, erfuhr er, "daß die junge Schauspielerin vor einem Monat an der Grippe gestorben sei".
Zunächst scheint die Geschichte eine scheinbar ungewöhnliche und unerhörte Wendung zu nehmen, denn es ist normaler Weise nicht üblich, dass gerade junge Menschen an der "Grippe" sterben, aber der zeitgenössische Leser weiß, da die Geschichte in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg spielt und ein junger Mensch (die am stärksten betroffene Bevölkerungsgruppe) stirbt, dass es sich höchstwahrscheinlich um die "Spanische Grippe" handelt. Aber wieso nennt Bloch diese Krankheit mit dem Allerweltsnamen "Grippe", obwohl sie ja, wie damals doch jeder wissen musste, keine normale Grippe war?
Es scheint doch so, dass auch Bloch, ein Philosoph von enzyklopädischer Bildung, keinen Begriff oder Namen, kein Wort für die Erscheinung "Pandemie" hatte.
Heute scheint es anders zu sein: Damals hatten die Menschen einen Begriff von "Weltkrieg", weil diese Erscheinung sie nicht nur persönlich betraf, sondern auch in der Zeitung stand. Heute ist die aktuelle Pandemie bis zum Überdruss mediales Thema. Außerdem haben wir anhand des Mediums Internet und der Erfahrung mit Computer-Viren durchaus schon ein Wissen vorgeprägt bekommen, mit dem wir uns eine weltweite Ausbreitung von realen Viren vorstellen können. Jetzt haben wir den Namen "Pandemie" in unserem Wortschatz gespeichert, so dass wir die Gefahr auch erkennen können. Und es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass die sich selbst so genannten "Querdenker" die Pandemie gerade nur als "Grippe" sehen wollen.