Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel. Eine Geschichte vom begrabnen Leben.
4 von 5 Sternen
„Look homeward, angel! A story of a buried life“ ist Thomas Wolfes (nicht zu verwechseln mit Tom Wolfe) Debütroman von 1929. Die Geschichte der Veröffentlichung kann man sich in dem Film „Genius – Die tausend Seiten einer Freundschaft“ von 2016 ansehen (mit Jude Law als T. Wolfe), wo es aber eher um Max Perkins geht, der Wolfe sozusagen „entdeckt“.
Es gibt eine Übersetzung von Irma Wehrli (von 2000), die vielleicht etwas zugänglicher daherkommt. Ich hatte mir allerdings eine gebrauchte Ausgabe gekauft. Der expressionistische Dichter Hans Schiebelhuth als Übersetzer (von 1932). 545 Seiten mit knapp rapskäfergroßen Buchstäbchen, gedruckt auf rauem, steifem Papier. Äußerlich also schon mal eher die Kategorie „widerborstig“ als „Leseschmaus“.
Und es wird einem als Leser gleich mal eine gewissen Zähigkeit abgefordert. Auf Seite 38 kommt Eugen Gant, der Protagonist, zur Welt. Vorher wird gründlich die Vorgeschichte dargelegt. Der Großvater, Gilbert Gaunt (später Gant) kommt 1837 mit einem Segler von Bristol nach Baltimore. Er zeugt fünf Kinder, darunter Oliver, Eugens Vater. Der Grund für die Gründlichkeit des Anfangs wird im ersten Kapitel mitgeliefert: „Jeder von uns stellt alle Summen dar, die er nicht zusammengezählt hat. Versetze uns in Nacht und Nacktheit zurück, und du wirst erkennen, daß die Liebe, die gestern in Texas endete, vor viertausend Jahren auf Kreta begann. Der Same unseres Verfalls wird in der Wüste blühen, am Fels wächst das Heilkraut, und unsre Leben werden von einer Schlampe aus Georgia heimgesucht, weil ein Beutelschneider in London ungehenkt blieb. Jeder Augenblick ist die Frucht von vierzigtausend Jahren.“
Nach hundert Seiten werde ich unruhig und denke, dass die eigentliche Geschichte doch langsam mal ins Rollen kommen könnte. Fünfzig Seiten später hat sich die Gewissheit breit gemacht, dass das nicht geschehen wird. Es wird immer so weiter gehen. Ein Panorama. Die Geschichte einer Familie, ihrer Leidenschaften, der vielfältigen Fesseln des Hasses und der Liebe, mit denen Familienmitglieder aneinander gebunden zu sein pflegen. Der Alkohol und seine Wirkungen werden gebührend berücksichtigt.
Auf Seite 190 ist der Protagonist immerhin schon 12 Jahre alt. Er geht zur Schule, verdient sein Geld als Zeitungsaustäger. Ein Bruder stirbt. Mutter und Vater haben sich im Grunde nichts zu sagen. Eugen geht auf eine Privatschule, später auf eine Universität. Er verliebt sich und leidet Liebeskummer, als sie ihn verlässt. Einer der Brüder ist ein Taugenichts. Die Mutter investiert in Immobilien. Der Vater erkrankt an Krebs. Noch ein Bruder stirbt, Ben, Eugens Vertrauter.
Um was geht es? Vielleicht um das Wunder ein Dasein, ein Leben zu haben. Um die Verlorenheit dessen, der in der Welt immer der Fremde sein wird, der nie „dazugehören“ kann. Und ein bisschen um die Sprache, die in pompösen Schilderungen die Natur feiert und das Seelenleben und manchmal einfach schöne Bilder malt: „Er ging wie eine Schere“, „Gedanken wanderten auf den Wegen der vergangenen Jahre“, „schlafverschnürte Augen“, „im großen Teich des Tages baden“.