Artists United Against F*cking Pandemic?

  • Wir hatten schon hier und dort darüber gesprochen, aber es beschäftigt mich nach wie vor, zumal es sich zu häufen scheint: Es geht um die künstlerische Auseinandersetzung mit der Pandemie während der Pandemie. Vorgestern habe ich im Radio diesen eigentlich netten, gut gemachten satirischen Song von Julia Gámez Martin (einer Hälfte der coolen Band "Suchtpotential") gehört, und ich dachte dabei ganz laut: Ja, klasse. Aaaaaber.



    Denn es gelingt mir nicht, mich künstlerisch mit dem Geschehen auseinanderzusetzen, und eigentlich will ich es auch nicht. Mehr noch, ich halte das für total überflüssig, wenigstens aber extrem schlecht getimt. Wir sind ja mittendrin, wir tun nichts anderes, als uns auseinanderzusetzen, pausenlos und auf allen Kanälen - unser Alltag ist auseinandersetzungsbeherrscht. Jedes zweite Posting auf FB, Insta, Ticktack und sonstwo agiert im Coronakontext, wir sehen die Pandemie ununterbrochen, jeder Kommentar ist coronesk (was nicht notwendigerweise heißt, dass er viral geht ;) ). Im vergangenen Sommer habe ich eine Kurzgeschichte geschrieben, die aus der Sicht einer alten Frau erzählt wird, der die Altenpflegerin weismachen will, draußen wäre es "wie im Krieg", und mein Agent wollte das Ding sogar in irgendeinem Nachrichtenmagazin unterbringen, aber ich war letztlich froh, dass das dann doch nicht passiert ist. Weil ich nicht reflektieren kann, während ich noch mittendrin stehe - das wäre wie die Zigarette danach mitten beim Sex. Für mich ist Kunst Verarbeitung, ein bisschen auch Therapie (Wahnsinn, dass ich das mal schreiben würde!), Traumabewältigung, Kommunikation über eine gemeinsam bewältigte Krise, meinetwegen alles zusammen. Aber all diese Texte, Songs, Podcasts, Graffitti, Gedichte und Online-Shows, die Corona thematisieren, sie hängen mir fast noch mehr zum Hals raus als die Seuche selbst. Das klingt möglicherweise böser, als es gemeint ist. Aber das ist alles so belehrend, so mitteilsam, so klug und sozialisierend, so richtungsweisend, richtungszwingend, so solidarisch und melancholisch-ironisch, so gedanklich-herbstlich und engagiert. Ich finde es zum Kotzen. Ich finde nicht, dass wir das tun sollten. Wenn wir schon alle einfordern, dass man uns hört und hilft, weil es ohne uns still wird, dann sollten wir auch etwas liefern, das nicht so aufdringlich und naheliegend ist.


    Oder? :hau

  • Oder was?


    Reflektieren kann man immer, auch wenn man mittendrin steht. (Möglicherweise kann man auch beim Sex rauchen, wenn auch nicht die Zigarette danach). Ich würde aber keine Hand für die Ergebnisse solcher Überlegungen ins Feuer legen. Beobachten scheint mir die bessere Alternative zu sein, möglichst auch ohne kurzfristige Urteilsfindung. Corona-Sondersendungen und Talkshows zur Pandemie schaue ich mir nicht an. Berichte in der Zeitung lese ich meist nur an. Satire zur Pandemie bin ich bis jetzt aus dem Weg gegangen, auch das verlinkte Video habe ich nur bis zur Hälfte gehört. Thomas Brussig schrieb letzte Woche in der SZ, dass man in solchen Zeiten "mehr Diktatur wagen" solle. Daniel Kehlmann antwortete darauf wenige Tage später mit der Behauptung, dass mehr Freiheit die bessere Variante sei, die Menschheit hätte schon vieles bewältigt (sinngemäß). Das erste, was mir nach der Lektüre bei beiden Artikeln durch den Kopf ging war: "Sind die noch ganz dicht?". Entwicklungen zu mehr Diktatur können wir schon seit einigen Jahren in einigen benachbarten europäischen Ländern erleben. Mir scheint nicht, dass ein solches Wagnis irgendwie hilfreich ist - auch und gerade in Situationen wie einer Pandemie nicht. Was mehr "Freiheit" in einer solchen Situation bedeutet können wir sehen, wenn wir auf solche Länder schauen, die Beschränkungen nicht oder nur unvollständig vorsehen. Bei längerem Nachdenken habe ich mein erstes Urteil dann revidiert. Es wurden ja von beiden Autoren nur die extremen Pole dessen abgesteckt, was Menschen derzeit für richtig ansehen. Irgendwo dazwischen, in einem mehr oder weniger breiten Mittelfeld, bewegen sich die meisten in unserer Gesellschaft. Randgruppen zu diffamieren war schon immer die bequemste Lösung. Sich darüber Gedanken zu machen, wie man Randgruppen einbezieht und so vielleicht die extremen Positionen ein wenig näher heranholt, ist eher unbequem und wird leicht mit der Bemerkung "Funktioniert ja sowieso nicht!" abgetan. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich auch nur ansatzweise eine Lösung sehe, aber wenigstens kann ich mich zurückhalten mit abwertenden Urteilen, die dazu noch meine eigene Position verschleiern. Genau deshalb habe ich aber im Augenblick kein Auge und kein Ohr für Satire und Parodie. Ich glaube, dass niemand im Moment einen Standpunkt hat, von dem aus sie oder er die ganze Angelegenheit so überschauen kann, dass echte Satire möglich wäre.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


    Einmal editiert, zuletzt von Horst-Dieter ()

  • Hallo, Horst-Dieter.


    Brussig und Kehlmann sind vermutlich von der SZ-Redaktion angefragt worden. Wäre ich von denen angefragt worden, hätte ich auch irgendwas Extremistisches rausgepupt, gerne auch zum Pandemieverhalten. So verkauft man Bücher.


    Aber das war nicht mein Thema, meine Frage, also was unsere Position zum Geschehen ist und wie oder ob wir sie äußern. Immer machen, junge Götter. Mir ging es darum, wie und ob wir künstlerisch damit umgehen, wie sehr das ins Zentrum unseres Schaffens rückt. Ob wir alle Coronasongs und Coronageschichten und Coronasketche machen sollten. Ich finde das eigenartig. Und es geht mir, wie möglicherweise herauskam, ein bisschen auf die Milz.

  • Schade, dass die SZ dich nicht gefragt hat, Tom, dann könnte ich meine "Erstreaktion" auch auf dich beziehen. :evil


    Ich meine aber, dass ich auf das, was Dir auf die Milz geht, durchaus geantwortet habe.

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  • Ich meine aber, dass ich auf das, was Dir auf die Milz geht, durchaus geantwortet habe.

    Dann habe ich mich undeutlich ausgedrückt. Es geht mir nicht darum, dass so viele etwas zum Thema sagen, sondern darum, dass so viele etwas zum Thema machen.

  • Stimme teilweise zu.


    Mir kommt auch oft genug das Kotzen.


    Anderseits ... manchmal trifft es mich auch voll ins Herz. Zum Beispiel Danger Dan – Nudeln und Klopapier: Entstanden während der ersten Welle, als wir alle noch in einer Art erstauntem Schockzustand waren. Ich habe es im Radio gehört, und es kamen mir die Tränen. Ja, Melancholie pur, das Klammern an Hoffnung. Aber in diesem Moment zu hören, wie jemand anderes meine Gefühle so geschickt in Worte fasst und mit Musik untermalt, das hat mich einfach ergriffen, und ja, es hat mir auch ein wenig geholfen, meine Gefühle zu verarbeiten.


    Deshalb würde ich das jetzt nicht pauschal absprechen und sagen, die (oder wir? Zähle ich dazu, weil ich in die KSK einzahle?) Künstler sollen alle die Klappe halten. Natürlich ist vieles (oder vielmehr das meiste) davon Schmus, aber darum geht es doch auch gar nicht. Es geht darum, mit Kunst die Menschen zu berühren. Manche wird es kalt lassen, doch die, die es berührt, werden sich abgeholt(er) fühlen. Und ich finde, auch diesen Auftrag hat Kunst, vor allem in Zeiten wie diesen.

  • Ob wir alle Coronasongs und Coronageschichten und Coronasketche machen sollten.

    Was künstlerisches Schaffen angeht, kann ich mit dem Begriff sollten wenig anfangen. Was Schriftsteller, Maler, Filmemacher, Comedians etc. meiner Meinung nach höchstens sollten: Es bleiben lassen, etwas rauszuhauen, nur weil sie meinen, sie sollten etwas zur Pandemie schreiben. Alles aber, was einem echten Bedürfnis entspricht, eine Sache kreativ zu ver- oder bearbeiten, und zwar ganz unabhängig davon, ob es sich um die aktuelle Pandemie oder um Schreittänze im 18. Jahrhundert handelt, erfüllt schonmal einen Anspruch der Kunst, nämlich den der Authentizität - weil da jemand eine künstlerische Antwort auf ein bestimmtes Phänomen hat (die selbstverständlich darin bestehen darf, dass er oder sie eben keine Antwort darauf hat, z.B. weil es keine gibt).


    Natürlich ist beispielsweise ein Roman übers Exil, den jemand 1942 schreibt, ein anderer als ein heute geschriebener. Über die Daseinsberechtigung beider Romane sagt das aber nichts aus. Oder anders: Aus heutiger Distanz können wir einen Film über 'die Pest' als solche drehen, und zwar mit der Weitwinkelkamera. Wir wissen, wie die Pest anfing und wie sie endete. Jemand, der zu Pestzeiten lebt, kann aber sehr wohl - und zwar mit der Nahlinse - eine sehr ehrliche Geschichte darüber erzählen, wie sich diese furchtbare Krankheit anfühlt, wie sie aussieht oder riecht. Kein Comedian oder Songwriter schreibt ja einen Sketch über Corona, sondern immer nur über Teilaspekte. Noch anders: Der Raum in der Kunst ist zum Glück unendlich, und auch die Möglichkeiten, einen bestimmten Blickwinkel einzunehmen, sind es.


    Und deswegen:

    Wenn wir schon alle einfordern, dass man uns hört und hilft, weil es ohne uns still wird, dann sollten wir auch etwas liefern, das nicht so aufdringlich und naheliegend ist.

    Nö. Nicht prinzipiell. Ob's wen nervt, ist natürlich eine andere Sache. Mich persönlich würde deine Geschichte über die Altenpflegerin schon interessieren.

  • Hallo, Kristin.


    Ja, ich bin auch unbedingt der Meinung, dass Künstler überhaupt nichts sollten. Das widerspricht sozusagen fundamental diesem Künstlerding, dieser Freiheitszeugsgeschichte, von der alle so schwärmen. ;)


    Das war auch nicht als Vorschrift gedacht, gar als Imperativ, sondern nur Ergebnis einer Beobachtung, und das Ergebnis nervt mich halt. All diese mehr oder weniger guten Songs, Sketche, Podcasts und, ja, Geschichten, die nach meinem Dafürhalten weniger damit zu tun haben, dass etwas gesagt werden will, sondern vielmehr damit, dass man den Stammtisch sozusagen künstlerisch verlängert, weil einem nichts Besseres einfällt.

  • sondern vielmehr damit, dass man den Stammtisch sozusagen künstlerisch verlängert, weil einem nichts Besseres einfällt.

    Irgendwie sind das für mich zwei verschiedene Dinge. Kunst auf der einen und das ubiquitäre Kundtun von Meinungen auf der anderen Seite. Klar, Corona ist allgegenwärtig - in den sozialen Medien, in den Nachrichten und den Talkshows (bei denen kurz vorm Wegzappen auch oft denke, was unterscheidet die eigentlich von einem Stammtisch?) Wenn ich so drüber nachdenke, dann ist mir das Thema in der Kunst bisher noch gar nicht so viel begegnet. Gibt es schon Corona-Spielfilme und Corona-Romane? Oder viele Corona-Geschichten? Im Radio habe ich bisher ein einziges Lied gehört, in dem jemand den Verlust der Nähe beklagt, aber sonst? Comedy schaue ich allerdings nicht viel, da kann ich nicht mitreden.

  • PS: Wobei sich natürlich die gefühlt 251 lustigen Whatsapp-Videos, die man täglich bekommt, im allerallerallerweitesten Sinn zur Kunst zählen lassen. Okay. Das kann schon nerven.

    Muss aber nicht, wenn man auf Whatsapp verzichtet! ")"

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  • Ich würde auch generell zustimmen. Was mich nervt sind die Künstler - oder generell Menschen - die die ganze Situation abseits der Pandemie selbst überdramatisieren und die ständige Konfrontation mit dem Thema. Man kann das Radio, den Fernseher oder Soziale Netzwerke nicht mehr anschalten, ohne dass irgendwer jammert. Nicht falsch verstehen - die Pandemie ist ernst und wir müssen Maßnahmen ergreifen und einige Leute leiden sehr unter den Restriktionen, von den Toten und Erkrankten ganz zu schweigen. Aber mir geht diese weltweite Depressionsstimmung, gepaart mit absoluter Reizbarkeit und Streitsucht am meisten an der Pandemie auf die Nerven. Es herrscht eine Stimmung wie im Führerbunker. Und das, obwohl wir alle froh sein können, Strom, Wasser und Nahrung zu haben. Anstatt optimistisch zu sein und sich darauf zu freuen, was man alles wieder machen kann, wenn diese Zeit vorbei ist, und sich eine Zeit lang zusammenzureißen, scheinen mir manche Leute sich so zu verhalten, wie meine Großeltern; auf der Couch sitzen und auf den Tod warten.

    Ich versuche selbst schon, mich von dem Thema fernzuhalten. Ich halte mich an die Maßnahmen und warte auf den Impfstoff. Aber vielleicht muss ich auch dazu sagen, dass mich die Pandemie selbst wenig eingeschränkt hat.

  • Guten Morgen

    ich habe auch schon öfter über diesen Ansatz nachgedacht. Bei mir persönlich ist es so, dass ich außer den Cartoons die ich zeichne, nicht genug Abstand fühle, um mich mit der derzeitigen Situation schreibend auseinander zu setzen. Aber das kann bei anderen Leuten anders sein. Wenn ich was dazu schreibe, landet es meist in irgendeinem Heftchen und ich sammle und sammle. Der Song ist für mich eine Art Propaganda oder Agitprop. Das ist nicht abwertend gemeint aber es ist überhaupt nicht mein Ding. Ich kann das aber gut stehen lassen, weil es einfach in die Auseinandersetzung zur Zeit gehört, aber ich muss mir das auch nicht reinziehen. Anderen Leuten gibt es vielleicht Rückhalt, Mut und was weiß ich noch alles.

  • Bei mir persönlich ist es so, dass ich außer den Cartoons die ich zeichne, nicht genug Abstand fühle, um mich mit der derzeitigen Situation schreibend auseinander zu setzen.

    Danke, genau. Und dieses Gefühl sehe und vermute ich bei vielen, die das gerade dennoch tun oder zu tun vorgeben. Du kategorisierst den Song als Propaganda oder Agitprop, und obwohl es wirklich gut gemacht ist, finde ich, dass es noch weniger ist, nämlich coroneskes Selbstmarketing. Und genau das ist ein Umstand, der mir arg zu schaffen macht.